Arktis: Die Folgen der Eisfreiheit
Unter den unbestechlichen Augen von Satelliten wandelt sich ein Pol der Welt dramatisch: Das arktische Packeis – ein erstrangiger Indikator des Klimawandels – schmolz in den letzten Wochen in einem Ausmaß, das kein Computermodell vorhersah und das nur wenige Forscher für möglich gehalten hätten. Nach fünf Jahren, in denen jeweils weniger Eis am Ende der Saison übrig blieb als jemals zuvor in der 34-jährigen Satellitenbeobachtung, sorgte der Rekord von 2012 dafür, dass die Wissenschaftler ihre Berechnungen in Frage stellen. Und sie trachten danach, die vom beschleunigten Eisschwund ausgelösten komplexen Folgereaktionen zu verstehen – von sich verändernden Wetterkonstellationen bis zu verdrängten Meeresorganismen.
Den neuen Rekordrückgang hatte das US National Snow and Ice Data Center (NSIDC) in Boulder am 26. August bekannt gegeben. Demnach ging die Eisfläche auf 4,1 Millionen Quadratkilometer zurück – nochmals 70 000 Quadratkilometer weniger als beim bisherigen Rekordminus aus dem Jahr 2007. Und noch war das Ende der Tauwetterperiode Mitte September nicht erreicht. Laut dem NSIDC schrumpfte die Eisdecke bis zum 9. September um weitere 14 Prozent auf etwa 3,52 Millionen Quadratkilometer.
Zwar hat dieses Jahr ein sehr starker Sommersturm den Zerfall des Packeises beschleunigt, doch die extreme Schmelze wurde nicht von außergewöhnlichen Wetterbedingungen verursacht. Mark Serreze, der Direktor des NSIDC, erklärt, dass der größte Teil des arktischen Meereises nunmehr dünnes einjähriges Eis aus dem vorherigen Winter sei. Es zerbricht und verschwindet daher schneller und einfacher als die dickere mehrjährige Gefrornis. "Wir haben einen neuen Zustand erreicht", sagt er. "Das Meereis ist bereits im Frühling so stark angegriffen, dass es den Sommer nicht überdauert – selbst wenn extreme Wetterereignisse ausbleiben."
Computersimulationen, die nachvollziehen, wie das Eis auf eine wärmere Welt reagiert, prognostizierten bislang, dass die Arktis zwischen 2040 und dem Ende des Jahrhunderts saisonal eisfrei sein könnte. Der tatsächlich beobachtete Abwärtstrend legt nun allerdings nahe, dass die Sommer schon bis 2030 völlig eisfrei sein könnten – keines der Modelle für den nächsten Bericht des Weltklimarats IPCC kommt dieser Vorhersage auch nur nahe.
Die Rolle der Meeresströmungen
"Es existiert eine gewaltige Lücke zwischen Beobachtungen und Modellprojektionen", bestätigt Serreze. "Vielleicht ist die natürliche Variabilität größer als angenommen, oder die Modelle erfassen die Änderungen in der Eisdicke nicht korrekt." Unsicher bleibt zudem, wie stark die verschiedenen natürlichen Rückkopplungsmechanismen wirken. Ein eisfreier Ozean beispielsweise ist dunkler als eine eisbedeckte – weiße – Oberfläche: Er kann daher mehr Sonnenenergie aufnehmen und als Wärme speichern, was weitere Aufheizung und Schmelze verursacht.
Ein Mangel an Feindaten der Strömungsverhältnisse im Arktischen Ozean könnte die Modelle ebenfalls aus der Bahn werfen. Eine Bestandsaufnahme etwa, die 2008 durchgeführt wurde, belegte 20 Strömungswirbel nördlich von Kanada, die vorher völlig unbekannt waren. Jeder von ihnen erreichte 15 bis 20 Kilometer im Durchmesser. "Ob dies neuartige Erscheinungen sind und welche Rolle sie für die ozeanische Durchmischung haben, wissen wir bislang nicht", sagt Yves Gratton, Ozean- und Arktisforscher am National Institute of Scientific Research in Montreal.
Der Verlust könnte sich auch noch beschleunigen, falls sich das Wasser unter der Eisdecke erwärmt. Anders als in den meisten anderen Bereichen der Weltmeere befindet sich das kälteste Wasser mit Temperaturen zwischen minus ein bis minus zwei Grad Celsius in der Arktis nahe der Oberfläche. Erst in einer Tiefe von 200 bis 300 Metern strömt wärmeres (plus ein Grad Celsius) und salzigeres Wasser vom Atlantik ein. Diese kalte Schicht, Halokline genannt, isoliert das Eis nach unten.
Die Halokline reagiert aber empfindlich auf Erwärmung von oben, erzählt Henning Bauch vom GEOMAR in Kiel. Dünnt sie aus – was bislang noch niemand beobachtet hat –, könnte dies nicht nur das Meereis beeinträchtigen, sondern auch kohlenstoffreiche Permafrostböden in flachen Küstengewässern auftauen lassen, die dann weitere Treibhausgase wie Methan in die Atmosphäre entlassen würden.
Schnelle Reaktion der Lebenswelt
Unterdessen wandelt sich das Ökosystem der Arktis bereits: Wegen des sich zurückziehenden und ausdünnenden Eises dringt mehr Sonnenlicht in die obere Wassersäule ein und entzieht damit bestimmten Arten die Lebensgrundlage, so Jørgen Berge, Meeresbiologe von der Universität im norwegischen Tromsø. Die dominanten Bestandteile des arktischen Zooplanktons – die Ruderfußkrebse Calanus hyperboreus und C. glacialis – werden vom atlantischen Vertreter C. finmarchicus ersetzt. Und der arktische Kabeljau Arctogadus glacialis unterliegt im Konkurrenzkampf immer öfter seinem größeren Cousin Gadus morhua aus dem Süden.
Andere Arten erweisen sich dagegen als unerwartet widerständig. Im Januar erbrachte eine Forschungsfahrt ins Packeis nördlich von Spitzbergen, dass Apherusa glacialis – ein Flohkrebs, der Algenmatten zwischen dem Eis abweidet und eine Hauptnahrungsquelle für viele arktische Seevögel ist – weniger stark von ausgedehnten Eisfeldern abhängt, als man bislang gedacht hatte. So wie bestimmte Organismen aus Küstengewässern sich mit den Gezeiten verdriften lassen, um ihre Position zum Beispiel in Flussmündungen zu halten, können diese Krustentiere in Tiefen absinken, in denen polwärts gerichtete Strömungen sie weiter nach Norden tragen. Dort können sie dann noch übrig gebliebene Eisflächen finden und kolonisieren.
"Wir können sicherlich irgendwo in den mittleren und hohen Breiten der Nordhalbkugel einen schneereichen und kalten Winter erwarten"
Judith Curry
"Das deutet auf eine Anpassungsfähigkeit hin, die es arktischen Schlüsselarten der Fauna erlaubt, sich an wechselnde Meereisbedingungen anzupassen", erläutert Berge, der die Studienfahrt leitet. Er verweist darauf, dass der Arktische Ozean während der letzten 2,5 Millionen Jahre immer wieder im Sommer komplett eisfrei war. Und erst vor 8000 bis 6500 Jahren während des sehr warmen Atlantikums gab es in der Arktis noch sehr viel weniger Eis als heute – ohne dass es deswegen zu einem Massenaussterben kam.
Wie reagiert das europäische Wetter?
Außerhalb der Arktis könnte die diesjährige Rekordschmelze einen harten Winter für Europa und Nordamerika bedeuten. Neue Forschungsergebnisse, die aber noch vorläufig sind, deuten eine Verbindung zwischen der Meereisausdehnung im Spätsommer und der Lage von Hoch- beziehungsweise Tiefdruckgebieten über dem nördlichen Atlantik an. Die Hochs und Tiefs können dann über Wochen relativ stabil in ihrer jeweiligen Position verharren und so den Verlauf von Orkanbahnen oder ausgedehnten Kältewellen beeinflussen.
Ralf Jaiser, Klimatologe am Alfred-Wegener-Institut in Potsdam, entdeckte eine signifikante Korrelation in den meteorologischen Daten von 1989 bis 2011 zwischen der arktischen Eisbedeckung Ende des Sommers und atmosphärischen Druckanomalien, die Extremwetter wie ausgedehnte Eisluftvorstöße im Winter fördern. Demnach strahlt der offene Arktische Ozean im Herbst Wärme an die Atmosphäre in den hohen Breiten ab, schlussfolgert er. Dies reduziere den großräumigen Druckgradienten und schwäche damit die dominante Westwindzirkulation der Nordhalbkugel, die normalerweise milde, feuchte Atlantikluft nach Westeuropa befördert. Lässt sie nach, begünstige dies die Vorherrschaft dauerhafter sibirischer Kältehochs in der Region.
"Die Auswirkungen werden erst im Herbst richtig ersichtlich, wenn das Meer wieder gefriert und wir sehen, wie die Zirkulationsverhältnisse die geografische Verteilung des Meereises beeinflusst haben", sagt Judith Curry, Klimaforscherin am Georgia Institute of Technology in Atlanta. Aber, fügt sie an: "Wir können sicherlich irgendwo in den mittleren und hohen Breiten der Nordhalbkugel einen schneereichen und kalten Winter erwarten."
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