Artenvielfalt: Die Suche nach dem Fabelwesen
Eines ist sicher: Das Saola existiert. Auch wenn man es fast nie zu Gesicht bekommt. Entdeckt – zumindest von der Wissenschaft – wurde das Saola erst vor 20 Jahren; zu einem Zeitpunkt also, als die Zoologen überzeugt war, alle größeren Säugetiere dieser Welt entdeckt, beschrieben und klassifiziert zu haben. Dann aber die Sensation: Ein Forscherteam im laotischen Dschungel kam dem Saola auf die Spur. Allerdings zunächst nur in Form einer Jagdtrophäe an der Wand der Hütte eines Bauern.
Das Saola hat zwei lange Hörner, sieht aus wie eine Mischung aus Antilope und Hirsch, ist aber entfernt mit Rindern verwandt und lebt irgendwo in den Wäldern des Bergzugs der Annamiten im Grenzgebiet von Laos und Vietnam. Das ist so ziemlich alles, was man zum 20. Jahrestag seiner Entdeckung über das Huftier weiß – wie es lebt, wie es sich verhält, wie viele es noch gibt, bleibt unbekannt.
Kein Wunder also, dass die Herzen der Saola-Forscher höher schlugen, als im August 2010 Bauern in der laotischen Provinz Bolikhamxay tatsächlich ein Saola gefangen hatten. Das war das erste Mal seit über zehn Jahren, dass überhaupt wieder ein Exemplar eines der seltensten und geheimnisvollsten Tiere der Welt gesichtet wurde. Der letzte bestätigte Report über die Existenz von Saolas waren zwei Fotos, aufgenommen 1999 von einer automatischen Kamerafalle in Laos. Dabei ist es mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 180 Zentimetern, einer Schulterhöhe von 90 Zentimetern und einem Gewicht von 100 Kilo nicht eben klein und leicht zu übersehen.
Das umgehend auf den Weg geschickte Team aus Mitarbeitern der Forst- und Landwirtschaftsbehörde von Bolikhamxay sowie Experten der Saola Working Group (SWG) der International Union for Conservation of Nature (IUCN) kam zu spät. Das Tier hatte die Gefangenschaft nicht überlebt. Immerhin war es noch gelungen, Fotos von dem lebenden Saola zu schießen.
Die Tierleiche wurde nach Pakxan gebracht, wo Biologen alle Teile des Tiers für zukünftige Analysen und Studien konservierten. "Das kann uns einen großen Schritt für das Verständnis dieses bemerkenswerten und mysteriösen Tiers weiterbringen. Das Saola hat nicht mehr viel Zeit. Es leben bestenfalls noch ein paar Hundert. Es können aber auch nur einige Dutzend sein. Die Situation ist ernst", sagte seinerzeit Pierre Comizzoli, ein Veterinär vom Smithsonian Conservation Biology Institute und Mitglied der SWG.
An der Lage des Saolas hat sich auch zwei Jahre später nichts geändert. Die IUCN hat das Tier als vom Aussterben bedroht klassifiziert. Einmal mehr macht einer Spezies der schwindende Lebensraum das Überleben schwer. Durch die langen Kriegsjahre hatte sich in den Annamiten ein Reichtum an Pflanzen und Tieren erhalten, die es nirgendwo sonst gibt. Aber dieser Artenreichtum ist inzwischen durch einen massiven Raubbau an der Natur bedroht.
Mehr noch ist das Saola aber durch Wilderei gefährdet, obwohl das Tier weder in der asiatischen Küche noch in der traditionellen chinesischen Medizin begehrt ist. Aber es verendet in den Fallen, die Wilderer für andere Tiere aufstellen. "Paradoxerweise scheint das Saola eines der wenigen Wirbeltiere in den Annamiten zu sein, auf dessen Kopf kein hoher Preis ausgesetzt ist", sagt William Robichaud, Koordinator der SWG, und fügt hinzu: "Saolas sind Beifang, so wie Delfine bei der Tunfischjagd." Das ist aber auch gleichzeitig die Chance des Saolas, findet Robichaud: "Die Art wird im Wildtierhandel nicht signifikant nachgefragt; das lässt uns hoffen, sie erhalten zu können. Aber wir müssen jetzt handeln."
Kein Biologe hat jemals ein Saola in freier Wildbahn gesehen. Dafür hat es viele schöne Namen: Bei dem in Laos und Vietnam lebenden Stamm der Katu zum Beispiel heißt es schlicht Xoon Xoor, was in etwa Farntier bedeutet. Die Thais nennen es Sao La, Spinnradpfosten, weil sie die Hörner des Saolas an die Pfosten ihres traditionellen Spinnrads erinnert. Bei der wissenschaftlichen Bezeichnung Pseudoryx nghetinhensis bezieht sich das Beiwort "nghetinhensis" auf die beiden vietnamesischen Provinzen Nghe An and Ha Tinh, während "Pseudoryx" die Referenz zur Ähnlichkeit des Saolas mit der Oryxantilope ist. Den schönsten Namen für das geheimnisumwitterte Tier aber fanden die Hmong: Weil es so leise und so unsichtbar durch die Wälder streift, haben sie es saht-supahp, das "höfliche Tier", getauft.
Wie wollen neugierige Wissenschaftler dem höflichen Tier und anderen seltenen, gefährdeten Arten, über deren Lebensweise wenig bekannt ist, auf die Spur kommen? Eine überraschende Antwort geben Tom Gilbert von der Universität Kopenhagen und Mads Bertelsen vom Kopenhagener Zoo: mit Blutegeln [1]. Die Forscher hatten ihre innovative Nachweismethode für gut getarnte Lebewesen zunächst mit Ziegenblut und Kondomen geübt: Sie setzen Egel auf blutgefüllte, mit Strahlern erwärmte Präservative an, töteten die Blutsauger dann nach einigen Monaten und fanden dabei in jedem Egel Ziegen-DNA. Diese Technik bewährt sich auch an Blutegeln der Art Haemadipsidae, die in den Annamiten eingesammelt wurden: In 21 von 25 Blutsaugern konnten die Dänen DNA von anderen Säugetieren nachweisen. Noch nicht vom Saola, leider – immerhin aber von Tieren wie der scheuen Hirschart Truong Son Muntjak oder dem seltenen Gestreiften Annamitenkaninchen.
"Terrestrische Haemadipsidae-Blutegel sind ideal, weil sie ein breites Beuteraster haben und auch Menschen befallen. So kann man sie leicht einsammeln", preisen die Forscher die Vorteile ihrer Methode. Zudem sei sie im Vergleich zu herkömmlichen wie Kamerafallen oder Dunganalysen einfacher und preiswerter; die Blutegel könnten auch von ungeschultem Personal gesammelt werden.
Auch Robichaud ist begeistert, warnt aber auch vor übertriebenen Hoffnungen: "Wo immer es noch Saolas gibt, werden sie seltener sein als alle andere Tiere in dem Waldgebiet zusammen, von denen sich Blutegel ernähren. Es bleibt immer noch eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen."
Unterdessen haben Laos und Vietnam mit Unterstützung des WWF im vergangenen Jahr Schutzgebiete für das Saola eingerichtet und Patrouillen in den Wald geschickt. Die ersten Erfolge sind viel versprechend. 12 500 Fallen konnten entfernt und 200 Wildererstützpunkte ausgehoben werden. Für den nachhaltigen Erfolg aber würden mehr Mittel und mehr ausgebildetes Personal benötigt, betont der WWF.
Für die Artenschützer ist das Saola eine Ikone der Biovielfalt in den Annamiten, so wie es die Orang-Utans für Borneo und Sumatra sind. Was gut für das Saola ist, nutzt als Nebeneffekt vielen anderen seltenen und gefährdeten Tierarten in den Annamiten – etwa dem bedrohten Riesenmuntjak, dem Truong Son Muntjak, dem Grauen Kleideraffen oder eben dem Gestreiften Annamitenkaninchen, die alle erst zwischen 1994 und 1997 entdeckt worden sind. Und wer weiß, was sonst noch höflich und unbekannt in den Wäldern des Hochlands der Annamiten wandelt.
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