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Kambrische Explosion: Bizarrer Gliederfüßer ist eines der ersten Lebewesen mit Mandibeln

Gliederfüßer machen heute rund 80 Prozent aller bekannten Tierarten aus. Ihr evolutionäres Erfolgsrezept sind ausgeprägte Mundwerkzeuge. Nun konnte einer ihrer Urahnen identifiziert werden.
Illustration von Odaraia alata

Alienartiger Taco-Fisch

Vor etwa 500 Millionen Jahren schwamm ein seltsames Wesen durch die Meere dieser Erde. Es hatte große Augen, einen ruderartigen Schwanz, 30 Paar stacheliger Gliedmaßen und es steckte in einer schützenden Schale, die entfernt an einen mexikanischen Taco erinnert. Wie der griechische Gott Poseidon trug das Tier zudem einen geheimnisvollen dreizackigen Zahn vor seinem Mund. Obwohl das Wesen eher wie ein alienartiger Taco-Fisch aussah, handelt es sich in Wirklichkeit um einen im Meer lebenden Gliederfüßer. Die ersten versteinerten Überreste mehrerer dieser Kreaturen fanden Paläontologen bereits im Jahr 1912 in der inzwischen berühmten Fossilienfundstätte Burgess Shale in den kanadischen Rocky Mountains. Nun hat sich eine Forschungsgruppe ein fossilisiertes Exemplar noch einmal genau angesehen.

Wie die Paläontologen im Fachmagazin »Proceedings of the Royal Society B Biological Sciences« berichten, gehörte das Tier mit dem wissenschaftlichen Namen Odaraia alata zu den ersten Gliederfüßern, die ausgeprägte Mandibeln entwickelten. Tiere mit diesen Mundwerkzeugen hatten es leicht, frühe Nahrungsnetze mitzuprägen, da die Ökosysteme noch nicht sonderlich weit entwickelt waren. »Tiere mit Mandibeln hatten einen großen Vorteil gegenüber konkurrierenden Organismen, weil sie größere Strukturen in Stücke brechen und so Zugang zu neuen Arten von Nahrung erhalten konnten«, erklärt Studienleiter Alejandro Izquierdo-López, Evolutionsbiologe an der Universität von Toronto, gegenüber »Scientific American«.

Ihre Mundwerkzeuge verschafften ihnen einen so großen evolutionären Vorsprung, dass sie schnell den Planeten eroberten und zur vielfältigsten Tiergruppe der Erde wurden. Heute sind die Mandibulata allgegenwärtig: von Krabben, die im Meer leben, über Tausendfüßler, die im Unterholz lauern, bis hin zu Bienen, die über die Wiesen fliegen. Vor allem wegen dieses enormen Erfolgs sind Wissenschaftler seit Langem daran interessiert, die Entstehung der Mandibeln in eine evolutionäre Zeitleiste einzuordnen. Das Fossil von Odaraia alata half ihnen nun, genau das zu tun.

»Odaraia wurde in den 1980er Jahren bereits sehr gut beschrieben, aber angesichts der begrenzten Anzahl von Fossilien aus dieser Zeit und seiner bizarren Form blieben zwei wichtige Fragen unbeantwortet: Ist es wirklich ein Mandibulum? Und wovon hat sich das Wesen ernährt?«, sagt Izquierdo-López. Die erste Frage konnten die Fachleute mit Ja beantworten. Sie identifizierten ein Paar großer Anhängsel mit gezackten Greifkanten in der Nähe des Mundes, die eindeutig auf Mandibeln hinweisen. Zudem entschlüsselten sie den Filtriermechanismus von O. alata. Sie fanden etwa 80 winzige Stacheln an jedem Bein des Tieres, die zusammen eine Art Netz bilden, das Partikel einfangen kann – möglicherweise habe sich O. alata dafür auf den Rücken gedreht. Beides gemeinsam verschaffte dem Gliederfüßer einen doppelten Vorteil, der zu einem evolutionären Wettrüsten beitrug und die kambrische Explosion befeuerte.

Und so bleibt vorerst nur noch ein Rätsel offen: der dreizackige Zahn. »Wir konnten die Struktur noch bei keinem anderen Fossil aus dieser Zeit entdecken«, sagt Izquierdo-López. »Wir haben keine Ahnung, wie oder warum sie sich entwickelt hat.« Aber man habe sich bereits an die Arbeit gemacht.

In einer ersten Version des Artikels haben wir versehentlich an einigen Stellen die Begriffe Mandibeln und Unterkiefer synonym verwendet. Dabei handelt es sich jedoch um völlig unterschiedliche Strukturen. Wir bitten, dies zu entschuldigen.

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