Seneszenz: Schildkröten altern ungewöhnlich langsam
Schildkröten altern anders
Schildkröten scheinen fast unsterblich zu sein. Es sind etliche Exemplare bekannt, die mindestens 150 Jahre alt geworden sind, einige noch deutlich älter. Haben die wechselwarmen Reptilien etwa das Geheimnis der ewigen Jugend geknackt? Dieser Frage sind jetzt unabhängig voneinander zwei Forschungsgruppen nachgegangen. Das eine Team um Beth Reinke von der Northeastern Illinois University in Chicago verglich die Alterungsraten und die Lebenserwartung von 77 wild lebenden Reptilien- und Amphibienarten miteinander, darunter etliche Schildkröten, aber auch Schlangen, Krokodile und Salamander. Ein kleineres Team um Rita da Silva von der Syddansk Universitet in Odense schaute sich die Daten von 52 in Zoos und Aquarien lebenden Schildkrötenarten an, um dem Geheimnis ihres langen Lebens auf die Spur zu kommen. Beide Studien sind im Magazin »Science« erschienen.
»Viele Schildkrötenarten haben einen Weg gefunden, die Seneszenz zu verlangsamen oder sogar ganz auszuschalten«, sagt die Biologin Rita da Silva. Seneszenz ist der Fachausdruck für den zellulären Alterungsprozess, der – so dachte man bislang – unweigerlich bei allen lebenden Organismen irgendwann einsetzt. »Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass die Alterung nicht für alle Lebewesen unvermeidlich ist.« Von den 52 Schildkrötenarten, die die dänischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten, alterten etwa 80 Prozent langsamer als der moderne Mensch – ihr Risiko, mit höherem Alter zu sterben, stieg also weniger stark an.
Verlangsamte Alterung nicht gleichbedeutend mit Unsterblichkeit
Fachleute vermuten, dass die Seneszenz bei den meisten Lebewesen mit der Geschlechtsreife einsetzt. Ab diesem Zeitpunkt wird ein Teil der Energie in die Fortpflanzung investiert, anstatt sie für die Reparatur und Neubildung von Zellen zu verwenden. Zwar ist eine deutlich verlangsamte Seneszenz nicht gleichbedeutend mit ewiger Jugend oder gar Unsterblichkeit. Dennoch stellt sich die Frage, ob alle Schildkröten das Opfer von Krankheiten oder Unfällen werden, die nichts mit dem alterungsbedingten Verfall des Körpers zu tun haben.
Beim Menschen steigt die Sterblichkeit ab einem Alter von etwa 10 Jahren kontinuierlich an. Sterben von 100 000 Kindern zwischen fünf und zehn innerhalb eines Jahres durchschnittlich etwa sieben, sind es bei den 60- bis 65-Jährigen jedes Jahr im Mittel gut 900 von 100 000 Menschen, die durch Herzinfarkte, Schlaganfälle, Krebs und andere degenerative Erkrankungen ums Leben kommen. Eine verbesserte Hygiene und eine sichere Lebensumgebung haben zwar beim Menschen die Lebenserwartung gesteigert, die Alterungsrate dagegen nicht. Anders bei den Schildkröten: Sie zeigen auch in freier Wildbahn eine niedrige Seneszenz, wie das Team um Beth Reinke feststellte.
Wahrscheinlich, so vermuten die Forscher, kommt den Schildkröten ihr gemächliches und energieeffizientes Verhalten zugute sowie der starke Panzer, der sie ohne großen Aufwand vor Feinden schützt. Sie können ihren Stoffwechsel mit deutlich niedrigerem Tempo laufen lassen und produzieren weniger Substanzen, die potenziell gefährlich werden könnten. Welche Faktoren nun genau dazu beitragen, dass Schildkröten so alt werden, muss weitere Forschung zeigen, denn eines sind sie bei aller Langlebigkeit nicht: unsterblich.
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