Cluster: Methusalem im All
Dabei begann die Forschungsreise von Cluster fatal: Die Satelliten stehen am 4. Juni 1996 arbeitsbereit auf der Startrampe der Ariane 5 in Kourou in Französisch-Guayana. Die Mission soll erkunden, wie der stürmische Sonnenwind mit dem Erdmagnetfeld zusammenspielt. Dazu will die ESA gleich vier baugleiche Satelliten in einen starren Formationsflug um die Erde schicken, ausgerechnet auf dem Jungfernflug der europäischen Schwerlastrakete. Während der Berichterstatter 40 Sekunden nach dem Abheben noch von guten Flugparametern spricht, sprengt sich die Rakete mit einem Knall selbst. Die Überreste von Cluster ziehen ESA-Fachleute später aus dem Morast des südamerikanischen Urwalds. Sie liegen heute vor dem Cluster-Kontrollraum in Darmstadt, für jedermann sichtbar: "Die Raumfahrt ist noch immer ein riskantes Unterfangen", scheinen sie zu sagen.
Dem Rückschlag zum Trotz entscheidet sich die ESA, die Mission neu zu bauen – trotz des Verlusts von mehreren hundert Millionen Euro: Je zwei Cluster-Satelliten starten letztendlich im Sommer 2000 an Bord zweier Sojus-Fregat-Raketen. Zwar entwickelt die zweite von ihnen nicht genügend Schub, aber dank letzter Treibstoffreserven in der Raketenoberstufe finden doch noch alle vier Satelliten mit den klangvollen Rumba, Tango, Salsa und Samba im Orbit zueinander.
Durchstarten
Was dann folgt, darf als eine der erfolgreichsten Forschungsreisen in den erdnahen Weltraum gelten: Cluster misst, wie dynamisch sich das Erdmagnetfeld durch den Sonnenwind verändert. Im Formationsflug durchfliegen die Satelliten mehrfach die Bugwelle des irdischen Felds im interplanetaren Magnetfeld und beobachten zum ersten Mal, wie sich Magnetfeldlinien extrem schnell miteinander verbinden. Sie sammeln so viele Daten, dass Forscher daraus bis heute über 1500 Veröffentlichungen destillieren können – Platz zwei unter allen ESA-Missionen. Zudem begleiten seit 2004 zwei chinesische Satelliten die Mission: DoubleStar wurde dank einer Kooperation gestartet, und ihr Bauplan orientiert sich an Cluster, was die Arbeit noch erfolgreicher macht.
Doch zu Beginn der Forschungskooperation mit China glaubte kaum jemand, dass Cluster überhaupt noch lange arbeiten würde: "Die Batterien an Bord waren nicht für einen so langen Betrieb ausgelegt", sagt Jürgen Volpp von der ESA. Er kam ein Jahr vor dem zweiten Start zum Missionsteam, als Experte für die Energieversorgung, was schon damals eine der wichtigsten Aufgaben war. Da Cluster winzige Veränderungen im Erdmagnetfeld misst, durften in den Satelliten keine magnetischen Materialien verbaut werden – eine Herausforderung für die Energiespeicher.
Die einzigen damals feldfreien Batterien verwendeten Silber und Kadmium. Ihr großer Nachteil, eine geringe Lebensdauer, wurde dafür in Kauf genommen. Nach mehreren Jahren waren die Batterien größtenteils erschöpft, doch zeigten sich bald noch mehr Nachteile: In den Batterien sammelte sich ein Knallgasgemisch. Zwar senkten die Techniker die Temperatur an Bord vorsorglich ab, um chemische Reaktionen zu verlangsamen. Doch es half nicht viel.
Stromausfall im Orbit
Im Jahr 2006 platzte die erste von insgesamt 20 Zellen, obwohl sie für den relativ hohen Innendruck von 13 Bar gebaut worden waren. "Drei der vier Satelliten veränderten dadurch ein bisschen ihren Orbit, was wir immerhin noch leicht ausgleichen konnten", so Volpp, der dank seiner Expertise 2002 zum Flugleiter avancierte. "Aber bei zwei Satelliten verteilte sich das Elektrolyt in der Sonde und schloss dabei mehrere Kontakte kurz." Für das Team war nun klar, dass die Mission nur dann weiter betrieben werden kann, wenn sie gänzlich auf ihre Batterien verzichtet – was sich im Orbit jedoch nicht ganz einfach bewerkstelligen lässt.
Denn prinzipiell können Satelliten zwar auch ohne Batterien betrieben werden, da die Sonne fast dauerhaft die Solarzellen bescheint. Clusters Bahn führt die Formation allerdings dicht an der Erde vorbei, und dabei durchfliegen die Raumfahrzeuge in regelmäßigen Abständen über eine Stunde lang den Erdschatten. Ohne Energie für die Heizelemente reicht diese Zeit aus, um die Elektronik bis zur Zerstörung abzukühlen. Jürgen Volpps versuchte dieses Problem rechtzeitig zu analysieren. Doch erst eine völlig unkonventionelle Lösung – die in einer Diplomarbeit detailliert ausgearbeitet wurde – brachte dann den Durchbruch: In Ermangelung einsatzfähiger Stromspeicher mussten die Techniker ganz andere Komponenten an Bord zu einfachen Wärmespeichern umfunktionieren: Die noch gut gefüllten Treibstofftanks mussten indirekt für die Korrekturmanöver der Umlaufbahn herhalten.
Das Konzept ging auf: Im Sonnenlicht funktionstüchtige Wärmedrähte wurden kurz vor dem Schattendurchlauf voll hochgefahren und heizten dem Satelliteninnern richtig ein. Die erzeugte Wärme nahmen die runden Treibstofftanks auf. Im Erdschatten schalteten sich die Satelliten dann zwar komplett ab, sie hielten jedoch über 50 Stunden lang eine annehmbare Temperatur, die Schäden an der Elektronik verhinderte.
Neue Probleme
Die Notlösung wurde zur automatischen Standardprozedur: Seit das Missionsteam die Tanks erstmals beheizte, sind über die Hälfte der Batterien an Bord der vier Raumfahrzeuge ausgefallen und wurden nach dem gleichen Prinzip ersetzt. Bald bemerkten die Ingenieure jedoch einen Nachteil ihrer Strategie, denn da das Manöver ursprünglich nicht vorgesehen war, beschäftigte sich das Team im Kontrollraum nun über Gebühr mit dem Senden von Kommandos, um Heizelemente zu aktivieren oder die Bordsysteme ab- und später wieder anzuschalten.
Das dauerte jeweils über zwei Stunden – und die Bahn der Clustersatelliten veränderte sich ungünstigerweise: Es war abzusehen, dass Schattendurchquerungen zwischen 2010 und 2011 nicht mehr nur einmal im Jahr, sondern alle zwei Tage kommen würden. "Da haben wir uns überlegt, wie wir uns selbst schützen können", erinnert sich Volpp. Denn das Clusterteam besteht aus nur sieben Mitarbeitern. Sie entschieden sich deshalb für einen Weg, den Satellitenbetreiber während laufender Missionen eigentlich ungern einschlagen: Sie sendeten viele der nötigen Kommandos für die Zeit des Blackouts automatisch in den Orbit. In der Raumfahrt, wo immer viel schiefgehen kann, ist das riskant. Doch zunächst verringerte Volpps Team den eigenen Aufwand pro Schattenflug auf ein Drittel.
Dennoch blieb es nicht bei den vorhergesagten Problemen: Im Jahr 2007 weigerte sich einer der Satelliten, nach seinem stillen Flug durch den Erdschatten Kontakt zur Bodenstation aufzunehmen. Die Ingenieure fürchteten bereits den Kältetod. Erst nach zwei bangen Tagen fanden ESA-Techniker und der Hersteller schließlich gemeinsam eine Erklärung: Beim Bau der Satelliten war nicht untersucht worden, was passiert, wenn sich die Bordsysteme regelmäßig abschalten. Entsprechend versuchte sich der Satellit schon mit den ersten Sonnenstrahlen samt seiner stromhungrigen Heizung anzufahren. Doch im Erdorbit gibt es eine Zone ausgedehnten Halbschattens, wo das Sonnenlicht eher diffus ist. Diese Energie reichte für den Bordcomputer nicht – und er versagte. Schnell fanden die Ingenieure auch dafür einen Ausweg: Sie ordneten an, dass der alles steuernde Bordrechner erst mit einiger Zeitverzögerung anfuhr und sich auch alle anderen Systeme erst bei höchster Sonnenstrahlung aktivierten.
Aktuell läuft eine Untersuchung der ESA, die Mission um weitere vier Jahre zu verlängern. Bis 2016 und damit 16 Jahre nach dem Start ist das kein einfaches Unterfangen: Das Team muss die zu erwartenden Mehrkosten mit möglichen Problemen abwägen. Die beheizten Tanks können mangels Treibstoff nun kaum noch genug Wärme speichern: Er wurde für Flugmanöver fast verbraucht. Dabei gibt es wissenschaftlich noch viel zu tun: Etwa ließe sich der Abstand der Satellitenformation weiter absenken, um auch kleinräumige Effekte im Erdmagnetfeld beobachten zu können.
Aus heutiger Sicht hat das Cluster-II-Quartett von dem gegenüber der ersten Serie um vier Jahre "verspäteten" Start zudem außerordentlich profitiert. Als Rumba, Tango, Salsa und Samba ihre Arbeit begannen, war das vorangegangene Sonnenmaximum bereits abgeklungen. Die vier Formationsflieger erlebten über einen Zeitraum von fast zehn Jahren eine ausgesprochen ruhige Sonne, nun haben sie einen kompletten elfjährigen Sonnenzyklus erfasst – und fliegen einer sich deutlich verstärkenden Aktivität unseres Zentralgestirns entgegen. Wohl nicht nur Jürgen Volpp ist sich daher sicher, dass seine hart bandagierten Satelliten mit etwas Einfallsreichtum weiterhin wertvolle Einblicke liefern werden.
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