Allgemeine Erdbeerfeldtheorie symmetrischer Ameisen
Auf dem Walle, welcher die Stadt [Göttingen] umgiebt, und dessen Umfang 697 Ruthen beträgt, könnte man in die umliegenden Gärten, Gartenländer, Felder und Berge, eine belustigende Aussicht, und überhaupt einen angenehmen Spatziergang haben, wenn die unnützen Brustwehren abgetragen würden, der Wall ganz eben gemachet, und mit Lindenbäumen… bepflanzet würde, welches zum Nutzen und Vergnügen der Einwohner, insbesondere der Universität, sehr zu wünschen ist.
Anton Friedrich Büsching um 1760
Spät abends hatte ich noch angefangen, mich in die Geschichte von Chris Langtons künstlichen Ameisen zu vertiefen (siehe „Mathematische Unterhaltungen“, Spektrum der Wissenschaft, August 1995). Ich versuchte, diesen Robotertierchen bei ihrem Gewusel über die abstrakte Ebene zu folgen. Irgend etwas mußte falsch sein an Bild 3 (Seite 13). Man müßte doch einen symmetrischen, geschlossenen Rundweg über die grünen Felder vollführen können, wenn man über Eck laufen dürfte. Aber ein rotes Feld war da rechts unten im Weg. Außerdem müßte Grün der Farbe 1 und Rot der Farbe 2 entsprechen und nicht umgekehrt. (Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. Die Redaktion.)
Eine Ameise baute eine Autobahn, immer wieder das gleiche Stück an ein schon vorhandenes Muster anfügend. Ich folgte ihr und landete auf merkwürdige Weise im Hilbert-Raum.
So heißt die Eingangshalle des Göttinger Mathematischen Instituts, denn dort steht eine Büste des weltberühmten ehemaligen Institutsdirektors David Hilbert (1862 bis 1943). Zugleich hat der Name einen gewissen Hintersinn; denn üblicherweise versteht man unter einem Hilbert-Raum ein hochabstraktes, unendlichdimensionales Gebilde. In ihm sind Dinge möglich, die einem im gewöhnlichen dreidimensionalen Raum nicht im Traum einfallen würden.
Als ich den Hilbert-Raum betrat, bot sich das vertraute Bild zahlreicher Zettel am Schwarzen Brett neben den Vorlesungsankündigungen. Nur eine Glückwunschkarte aus dem Jahre 1953 wirkte etwas anachronistisch (Bild 1); und die Musik, die den Raum erfüllte, war auch nicht mehr die aktuellste.
Roll up for the Mystery Tour
the magical Mystery Tour is waiting to take you away
waiting to take you away.
Ein leichtes Hungergefühl lenkte meine Schritte zur Kaffeebar. Einige alte Bekannte saßen dort, als sei die Zeit stehengeblieben, neben mir völlig unbekannten Personen. Mein Freund Dieter dozierte, wie üblich – über künstliche Ameisen.
„Eine Ameise bewegt sich nach festen Regeln durch ein Gitter von Quadraten, die bestimmte Farben annehmen können. Das Tierchen sitzt auf einem Quadrat und blickt in eine der vier Himmelsrichtungen. Je nach der Farbe dieses Quadrats dreht es sich nach rechts oder links und verändert die Farbe des Quadrats. Anschließend macht es einen Schritt in der neuen Richtung auf das Nachbarfeld, wo das Spielchen von neuem beginnt.“
Frieda, eine Lehramtskandidatin im dritten Semester, wollte eigentlich über etwas anderes reden. Aber Dieters Redefluß war nicht zu bremsen: „Langtons Ameise, entdeckt von Chris Langton vom Santa-Fe-Institut, kennt nur die beiden Farben Schwarz und Weiß. Auf einem weißen Feld wendet sie sich nach rechts, und das Quadrat wird schwarz, auf einem schwarzen dreht sie sich nach links und färbt es weiß. Eine allgemeine Ameise hat dagegen n Farben zur Verfügung, die mit 0, 1, 2, …, n-1 numeriert sind. Aus einem Feld der Farbe k macht sie ein Feld der Farbe k+1, aus der Farbe n–1 wird Farbe 0. Was sie außerdem noch tut, wird durch eine sogenannte Regelkette festgelegt. Das ist eine Folge von n Symbolen – wieder von 0 bis n–1 numeriert; jedes Symbol ist entweder ein L oder ein R. Auf einem Feld der bisherigen Farbe k dreht sich die Ameise um 90 Grad nach links, wenn Symbol Nummer k ein L ist, ansonsten nach rechts. Langtons Ameise hat zum Beispiel die Regelkette RL.“
„Na und?“
„Na, es sind halt irre Viecher. Sie wuseln total chaotisch durch die Gegend, und auf einmal fangen sie an, Autobahnen zu stricken.“
„Autobahnen? Stricken?“
„Diagonal verlaufende Streifen, die mehrere Felder breit sind und aus einem sich regelmäßig wiederholenden Muster bestehen. Aber es gibt viele verschiedene Ameisenarten. Man kann sie einfach aufzählen: Schreibe 0 statt L und 1 statt R, dann hast du eine Kette von Nullen und Einsen – eine Binärzahl. Und das ist die Nummer der Ameise.“
„Und wenn die Regelkette mit L anfängt? Dann steht an vorderster Stelle in der Binärzahl eine Null, und die Nummer ist dieselbe wie die einer Ameise ohne das führende L.“
„Ach, das ist nicht so schlimm. Wir beschließen einfach, daß jede Kette mit einem R anfängt.“
„Dann fallen die anderen unter den Tisch?“
„Eigentlich nicht. Wenn man jedes L durch ein R ersetzt und umgekehrt, kommt eine Ameise mit genau spiegelbildlichem Verhalten heraus. Die muß man sich nicht eigens anschauen.“
Jürgen mischte sich ein. „Weißt du, Frieda, das ist ein Lieblingsspielzeug für Chaoten. Die Leute legen sich eine kleine Welt – die Ameisenebene – zurecht, über die sie theoretisch alles wissen. Und dann, o Wunder, passieren Dinge, die sie nicht vorhersagen können.“
„Sollen sich halt mehr Mühe geben.“
„Das ist es ja gerade. Die einen geben sich Mühe, und die anderen beweisen, daß alle Mühe am Ende vergeblich ist. Du kennst doch das Halteproblem für Turing-Maschinen?“
„Da war was… So ein Primitivding kriecht ein Band entlang, liest 0 oder 1 vom Band, und je nach innerem Gemütszustand rückt es nach rechts oder links, schreibt etwas aufs Band oder hält an. Aber man weiß nicht, ob es je anhält…“ (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1984, Seite 34).
You say yes, I say no
You say stop and I say go, go, go.
„Schon ganz gut. Es gibt nämlich die Turmiten, ameisenähnliche Krabbeltiere, die eine zweidimensionale Variante einer Turing-Maschine realisieren. Also weiß man auch nicht, was die auf die Dauer tun“ (Spektrum der Wissenschaft, November 1989, Seite 8, und September 1990, Seite 18; die dort beschriebene Turmite T ist genau Langtons Ameise).
Ich interessierte mich im Moment mehr für die Quarktorte. Die Stücke waren abwechselnd mit einer Erdbeere und einer Kiwi-Scheibe verziert. Jürgen griff sich eins der grünen Stücke.
„Eine ganze Reihe von Ameisen hat diese Neigung zum Straßenbau. RLL scheint einen unstrukturierten Fleck ohne Autobahn zu bevorzugen“, dozierte Dieter weiter (Bild 4 oben). Offensichtlich zählte er zu denen, die sich Mühe geben. „Andere wie RRLL und RLLR, aber auch RLLLLR, RRRLLR und weitere bilden bilateral symmetrische Muster. Während in der Welt der Elementarteilchen eine Symmetriebrechung bei symmetrischen Regeln zu Erstaunen Anlaß gibt, verwundert hier eher der Symmetrieerhalt“ (Bild 4 unten).
„Allerdings. Wie erklärst du den?“
Dieter holte tief Luft: „Sei eine Abbildung von dem kartesischen Produkt der ganzen Zahlen mit sich selbst nach {0, 1, …, n–1} definiert derart, daß…“
„Ach – bevor du uns einen Beweis hinwirfst, gib uns doch erst einmal einen roten Faden“, schlug ich vor.
Jürgen nahm sich ein zweites Stück Torte, diesmal mit Erdbeere. Aber die fiel ihm aus Versehen hinunter.
Ich hatte dem Fußboden in der Kaffebar noch nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Aber jetzt fiel mir auf, daß er aus quadratischen Kacheln mit einem speziellen Muster bestand: Um zwei gegenüberliegende Eckpunkte jeder Kachel waren zwei Viertelkreise mit dem Radius einer halben Kachelkante gezogen, so daß die Viertelkreise benachbarter Kacheln sich zu Kurven verbanden. Mal war das Innere der Viertelkreise grau und der Zwischenraum weiß gefärbt, mal umgekehrt. Graue und weiße Felder schlossen ebenfalls über Kachelgrenzen hinweg aneinander an. Die Erdbeere war genau auf die Ecke einer Kachel gefallen, und neben ihr saß eine Ameise (Bild 2). Sie wuselte los, sich scheinbar ziellos nach rechts und links wendend. Aber das Merkwürdigste war, daß manche Kacheln ihre Musterung veränderten, unmittelbar nachdem die Ameise sie verlassen hatte. Es flimmerte ein wenig vor meinen Augen; aber ohne Zweifel stieß trotz geändertem Muster nie ein weißer Kachelrand an einen grauen.
Jürgen erklärte uns mit vollem Mund und großen Gesten, was es mit dem roten Faden auf sich habe. „Ist doch ganz einfach. Die Ameise dreht sich bei jedem Schritt um 90 Grad, wechselt also stets zwischen einer horizontalen und einer vertikalen Richtung. Im gleichen Rhythmus wechselt sie zwischen weißen und schwarzen Feldern, wenn man sich die Ebene für einen Augenblick wie ein Schachbrett gefärbt denkt. Also gibt es schachbrettartig verteilt H-Felder, die aus einer horizontalen Richtung betreten und in einer vertikalen verlassen werden, und V-Felder, für die das Umgekehrte gilt“ (Bild 1).
„Außerdem hat ja jedes Feld noch eine Farbe“, fuhr Jürgen fort. „Die sagt der Ameise, ob sie sich nach rechts oder links wenden soll. Also gibt es durch jedes Feld nur zwei erlaubte Wege. Zum Beispiel kann die Ameise ein H-Feld mit vorgeschriebener Linkswendung nur von links betreten und nach oben verlassen, oder sie kommt von rechts und bewegt sich nach unten. Zeichnet man beide erlaubten Bewegungen in Form von Viertelkreisen in jedes Feld ein, so ergeben sich Truchet-Kacheln“ (Spektrum der Wissenschaft, September 1989, Seite 6).
„Ach so.“ Frieda hatte davon schon gehört. „Einerlei, wie die Kacheln liegen, die Viertelkreise verbinden sich über die Kachelgrenzen hinweg stets zu geschlossenen Kurven.“
„Eben. Und die Ameise läuft die Kurve entlang, auf der sie sitzt. Man kann sogar die Kacheln beiderseits der Viertelkreise verschieden einfärben – grau und weiß zum Beispiel, so daß sich graue und weiße Bereiche über Kachelgrenzen hinweg fortsetzen. Wenn alle Felder anfangs Farbe 0 haben, sieht man lauter kleine weiße Kreise auf grauem Untergrund, die von Truchet-Kurven begrenzt werden.“
In der Tat: Wenn man nicht so genau hinschaute, schien der Fußboden nicht aus einzelnen Kacheln zu bestehen, sondern aus grauen und weißen Flecken. „Soll das heißen“, fragte ich, „daß die Ameise stets eine Grenze zwischen Grau und Weiß entlangläuft, bis sie ihren Fleck umrundet hat?“
„Na ja. Wenn man es richtig macht, hat die Ameise bei ihrer Wanderung stets Grau zur Linken und Weiß zur Rechten. Aber der Fleck könnte sich unterwegs ein wenig verändern.“
Frieda erinnerte sich an etwas. „Dann ist die Grenze eine geschlossene doppelpunktfreie Kurve in der Ebene…“
„…und nach dem Jordanschen Kurvensatz“, ergänzte Jürgen, „teilt eine solche Kurve die Ebene in ein Inneres und ein Äußeres, und niemand kommt von innen nach außen oder umgekehrt, es sei denn durch Überschreiten der Kurve.“
„Das ist ja das Schöne an der Analysis situs“, warf Dieter ein.
„Analysis was?“
„Analyse der Lage. Der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler (1707 bis 1783) hat das Gebiet in die Wissenschaft eingeführt. Anlaß war eine Art Gesellschaftsspiel, das Königsberger Brückenproblem: Kann man einen Spaziergang durch die Königsberger Innenstadt machen, bei dem man alle sieben Brücken über die verschiedenen Arme des Pregels einmal und nur einmal überquert? Euler gelang es, durch geschickte Wahl der Bezeichnungen die Lösung des Problems fast offensichtlich zu machen. Heute ist das Gebiet Bestandteil der Topologie.“
„Und du meinst, wir können durch geschicktes Anmalen unserer Felder ebenso weitreichende Einsichten gewinnen?“
„So ungefähr.“
„Aber die Felder haben doch alle schon eine Farbe.“
„Sagen wir eine Nummer. Die verweist auf zweierlei, nämlich auf die Folgenummer und die Wendeanweisung – nach rechts oder nach links. Die letztere kennzeichne ich gerne durch eine Diagonale, die zwischen den Truchet-Viertelkreisen jeder Kachel verläuft. Stell dir eine Art Barriere vor, welche die Ameise nicht überschreiten darf. Das lenkt ihre Schritte genauso zwingend wie die Viertelkreise selbst. Und die Diagonale färbe ich geeignet ein, wobei Information über die Farbe des Feldes mit eingeht.“
„Aber die Ameise ändert doch auch die Farbe jedes Feldes, bevor sie es verläßt“, wandte Frieda ein. „Das heißt, die Kacheln wechseln das Muster, die Diagonalen die Farbe – die Ameise läßt eine Chaos-Spur hinter sich.“
„Ganz so schlimm ist es nicht“, entgegnete Jürgen. „Die Ameise geht zunächst ihren Weg durch die Kachel, dann erst zerstört sie ihn – möglicherweise. Das heißt, sie durchläuft trotzdem ihren vorgezeichneten Weg.“
Frieda dachte einen Moment nach. Dann rief sie: „Stimmt nicht! Es könnte doch sein, daß ein Ameisenweg zweimal über dieselbe Kachel verläuft. Wenn die Ameise beim ersten Durchgang die Barriere hinter sich in die andere Richtung dreht, weicht sie beim zweiten Durchgang vom vorgezeichneten Weg ab.“
Jürgen grinste. „Ertappt. Die Kacheln verhalten sich wie Weichen in einer riesigen Gleisanlage. Die entscheidende Frage ist, bei welcher Gelegenheit die Weichen gestellt werden.“
In diesem Augenblick räusperte sich der Nachbar zu meiner Linken.
„Ich heiße Leonid und komme aus Kaliningrad.“ Dabei überreichte er mir etwas umständlich eine Art Visitenkarte, auf der eigenartigerweise zu lesen war:
Gehe sofort in das Gefängnis.
Begib dich direkt dorthin.
Gehe nicht über Los,
ziehe nicht 4000 Mark ein.
„Bitte schön, sage mir, wie komme ich von hier aus in die Innenstadt?“
„Es ist zwar nicht erlaubt, aber überquere doch einfach die Bürgerstraße.“
„Muß ich dabei über eine Brücke?“
„Nein. Du gehst durch einen kleinen Tunnel unter dem Wall hindurch.“
„Ist die gesamte Innenstadt von diesem Wall umgeben?“ fragte Leonid nach einer kleinen Pause.
„Ja – sonst hätte er seinen Zweck wohl nicht erfüllt.“
„Moment mal.“ Leonids Stimme wurde eine Spur lauter. „Wenn die Diagonalen, von denen zu befürchten ist, daß sie sich bei der nächsten Gelegenheit drehen, ein System von ringförmigen Wällen, also ebenso wie die Viertelkreise selbst geschlossene Kurven bilden, dann muß die Truchet-Kurve der Ameise vollständig innerhalb oder außerhalb eines solchen Walls liegen.“
„Jordanscher Kurvensatz“, warf Jürgen ein.
„Kacheln, deren Diagonalen einem solchen geschlossenen Ringwall angehören, können folglich nur einmal betreten werden. Die Ameise wird die Truchet-Kurve also einmal vollständig durchlaufen und an denselben Ort zurückkehren. Danach haben zwar einige Kacheln ihre Orientierung geändert, aber vielleicht ist bei bestimmten Ameisen die Ringwall-Eigenschaft nach einem solchen Rundgang wieder erfüllt.“
Leonid drehte jetzt richtig auf. „Nehmen wir einmal an, daß in der Regelkette einer Ameise die Ls nur paarweise vorkommen. Diese Bedingung erfüllen zum Beispiel RLL, RLLLL, RRLL und RLLRRLL. Für das erste L eines Paares zeichnen wir eine grüne Diagonale, für das zweite L eine rote in die Kachel ein. Einem R soll eine schwarze Diagonale entsprechen. Dann liegt in jedem grauen Gebiet eine zusammenhängende Gitterstruktur schwarzer Diagonalen, und jede weiße Fläche enthält eine dazu versetzte Struktur aus roten und grünen Diagonalen. Die Truchet-Kurven sind genau die Trennlinien zwischen R-Diagonalen – denen, die eine Rechtswendung erzwingen –, und L-Diagonalen.
Nur eine rote oder eine schwarze Diagonale kann durch einen Besuch der Ameise ihre Orientierung ändern; eine grüne wechselt nur ihre Farbe. Wir wollen nun die Bedingung untersuchen, daß die roten Diagonalen geschlossene Wege bilden. Diese Eigenschaft ist genau dann erfüllt, wenn sich in jeder Ecke eine gerade Anzahl, also 0, 2 oder 4 rote Diagonalen treffen.“
Plötzlich erwachte Friedas pädagogisches Talent: „Falls die Geradzahligkeitsbedingung erfüllt ist, stelle man einfach in jeder Ecke halb so viele Kinder auf, wie von dort rote Diagonalen ausgehen. Jedes Kind soll sich zwei rote Diagonalen aussuchen, längs dieser jeweils einen Arm ausstrecken und die Hand des entsprechenden Nachbarn ergreifen. Automatisch entstehen ein oder mehrere geschlossene Ringelreihen-Ringe – vielleicht mit Schleifchen. Der Umkehrschluß funktioniert ganz ähnlich. Die Kinder werden sich übrigens dabei die Arme bestimmt nicht ausrenken, es handelt sich um ein völlig ungefährliches topologisches Argument.“
„Ja, aber wenn die Ameise losläuft, kommen doch rote Diagonalen hinzu, oder es fallen welche weg“, sagte Dieter.
„Das müssen wir uns genauer ansehen – aus der Perspektive der Ameise“, fuhr Leonid fort. „Aus einer grünen Diagonalen wird immer eine rote, und die Ameise biegt nach links ab. Eine ursprünglich rote Diagonale ergibt auch eine Bewegung nach links und entweder eine grüne oder eine schwarze Diagonale, während eine schwarze Diagonale eine Bewegung nach rechts zur Folge hat und sich in eine grüne verwandelt – oder unverändert bleibt“ (Bild 3 a).
„Sage ich doch. Die Anzahl der roten Diagonalen kann sich bei jedem Schritt ändern, und zwar um genau eine. Dann ist es vorbei mit der Geradzahligkeit.“
„Du hast ja recht. Aber es ist nicht alles verloren. Ich male auf jede Ecke mit ungeradzahlig vielen roten Diagonalen eine Erdbeere. Zusätzlich male ich einen blauen Kreis in die Startecke; das ist die Ecke, welche die Ameise vor ihrem ersten Schritt zur Rechten hat. Nach dem ersten Schritt befindet sich also entweder die Startecke nach wie vor rechts von der Ameise, oder die Ecke rechts von der Ameise und die Startecke sind verschieden und beide mit Erdbeeren verziert“ (Bild 3 b).
„Wie sieht das Spielchen aus, wenn jetzt rechts von der Ameise schon eine Erdbeere liegt?“ überlegte Jürgen, der soeben sein zweites Kuchenstück aufgegessen hatte und sich wieder in die Diskussion einschaltete. „Wunderbar – die Anzahl der Erdbeeren bleibt erhalten, und wieder liegt eine rechts von der Ameise. Die eine Erdbeere bleibt auf der Startecke liegen, und die andere schleppt die Ameise mit sich herum“ (Bild 3 c).
„Und wenn die Ameise an ihren Ausgangspunkt zurückkommt, das heißt, wenn die Startecke erneut eine Ecke der aktuellen Kachel ist, muß sie im weißen Gebiet liegen“, fiel mir auf.
„Wieso?“
„Weil die Startecke im Weißen lag, als die Ameise loslief. Das gilt für alle vier Kacheln, die an die Startecke angrenzen. Also gilt dieser Zustand noch, wenn die Ameise erstmals wieder eine dieser vier Kacheln betritt. Die mitgeschleppte und die liegengebliebene Erdbeere liegen al-so beide im Weißen, und das heißt, einander gegenüber“.
„Genau“, fuhr Jürgen fort. „Wenn die Ameise sich in diesem Augenblick nach links wendet, verschwinden die Erdbeeren, und rechts der Ameise liegt wieder die Startecke. Bei einer Drehung nach rechts gehen beide Erdbeeren wieder getrennte Wege“ (Bild 3 d).
„Wundervoll“, mischte sich Eckhard ein. Er kam vom benachbarten Institut für Theoretische Physik. „Es gibt Erdbeeren und Antierdbeeren. Der erste Schritt der Ameise erzeugt ein Erdbeer-Antierdbeer-Paar, alle weiteren sind teilchenzahlerhaltend, und der letzte Schritt ist möglicherweise eine Paarvernichtung. Also gilt der Erdbeerzahl-Erhaltungssatz…“
„Das wäre aber schade, wenn die Erdbeeren im Universum niemals mehr werden könnten“, entgegnete Jürgen trocken. Er hatte etwas gegen theoretische Physiker.
Leonid fuhr fort: „Wir haben soeben etwas bewiesen!“
„Na prima“, sagte Frieda, „aber wieso roter Faden?“
„Bei deinem Ringelreihenspiel gibt es unter den Kindern jetzt zwei Flegel, die jeweils eine Hand in der Hosentasche haben. Zwischen ihnen muß sich zwangsläufig eine rote Menschenkette formieren – vielleicht mit Schleifchen.“
„Man könnte statt Ameise ja auch Spinne sagen“, ergänzte Dieter. „Das Tierchen spinnt einen roten Faden, einen Ariadnefaden, der sie jederzeit mit ihrem Ausgangsort verbindet.“
„Findet also die Ameise immer wieder nach Hause?“
„Das wissen wir noch nicht ganz“, entgegnete Jürgen. „Die Kurve windet sich durch ein Labyrinth, das in Laufrichtung links von schwarzen und rechts von grünen und roten Diagonalen begrenzt ist. Wie du bereits bemerkt hast, Frieda, könnte eine schwarze Diagonale umkippen und die Kurve, die dasselbe Feld nochmals trifft, in eine ganz andere Richtung lenken. Aber was wir für die Ls bewiesen haben, gilt ebenso für die Rs. Falls also die Rs in der Regelkette paarweise vorkommen, weisen wir wie zuvor dem ersten R jedes Paares die Farbe Grün zu, dem zweiten Rot und den Ls die Farbe Schwarz. Es ergibt sich ein roter Faden auf grauem Untegrund. Wenn beide Symbole R und L paarweise auftreten, kann man sämtliche Diagonalen entweder grün oder rot einfärben.“
„Ach so“, sagte ich. „Dann kommt in der Regelkette immer abwechselnd grün und rot, sozusagen. Wie auf der Quarktorte.“
„Stimmt.“
„Und wenn die Quarktorte alle ist?“
„Fängst du wieder von vorne an. Auf n–1 folgt 0. Die Quarktorte ist unerschöpflich“, grinste Jürgen, griff sich noch ein Stück und fuhr fort: „Nur die roten Diagonalen können bei einem Ameisenbesuch umkippen. Dann schiebt die Ameise zwei Erdbeeren links und rechts neben sich her, und zwei andere harren ihrer Rückkehr. Wenn die Ameise sich am Ausgangsort befindet, ist gerade die Ringwalleigenschaft für die roten Diagonalen erfüllt. Die Ameise durchläuft also ihre Truchet-Kurve, bis sie an den Ausgangsort zurückkehrt; und wie durch ein Wunder gilt wieder in jeder Ecke die Geradzahligkeitsbedingung und damit die Ringwalleigenschaft.“
„Bor äy.“
„Es kommt noch viel schöner.“
„Das heißt, du hast bewiesen, warum es unter manchen Umständen symmetrische Muster gibt?“
„Du sagst es. Normalerweise setzt man die Ameise ja in eine vollkommen einfarbige Ebene – alle Felder mit Farbe 0. Das ist langweilig, aber symmetrisch: Das Spiegelbild von nichts ist nichts.“
„Einleuchtend.“
„Außerdem treffen sich in jeder Ecke 0 oder 4 rote Diagonalen. Also ist die Voraussetzung des Satzes über symmetrische Ameisen erfüllt, und es entsteht ein neues symmetrisches Muster, aus diesem wieder ein symmetrisches, und so weiter“ (Bild 4 unten).
„Und wieso gilt der Satz?“
„Na ja, die Ameise durchläuft die symmetrische Truchet-Kurve vollständig und ändert dabei jedes Feld auf ihrem Weg so häufig wie dessen Spiegelbild. Also ist das Muster nach einem kompletten Umlauf wieder symmetrisch.“
Frieda vermißte einmal mehr die praktische Relevanz des Themas. „Du wolltest mir doch noch erklären, wie Ameisen stricken können – Autobahnen oder wie ihr das nennt.“
„Ich fürchte, die symmetrischen hier können das nicht.“
„Oh.“
„Sie müssen ja immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren, zur Mitte stricken sozusagen. Auf die Dauer wird das sehr mühsam: n2 Strickakte für eine Autobahn der Länge n.“
„Ich will aber eine strickende Ameise sehen!“
„Dann müssen wir noch ein bißchen weiterträumen.“
Fortsetzung folgt.
Literaturhinweise
Alle Liedtexte stammen von der Beatles-LP „Magical Mystery Tour Plus Other Songs“, zitiert aus: The Beatles Songbook, Deutsche Ausgabe. 18. Auflage. dtv, München 1992.
Further Ant-ics: Trajectories of Generalized Ants. Von Jim Propp in: The Mathematical Intelligencer, Band 16, Heft 1, Seiten 37 bis 42, Winter 1994.
Further Travels with My Ant. Von David Gale, Jim Propp, Scott Sutherland und Serge Troubetzkoy. Erscheint in: The Mathematical Intelligencer, Band 17, Heft 3, Sommer 1995.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 12
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