Der beschleunigte Geist und die Wissenschaft
Ich gestehe, bei Spektrum der Wissenschaft kommen die Geisteswissenschaften zu kurz. Das ist eigentlich nicht gut so, und es entspringt keiner bösen Absicht. Vielmehr habe ich schon in Editorials beklagt, es würden uns zu wenige attraktive Themen aus diesem Bereich angeboten. Doch mein Aufruf erbrachte seinerzeit keine verwertbaren Resultate.
Jetzt hat das Bundesforschungsministerium gerade, als hätte es nicht schon genug solcher „Jahre“ gegeben, das Jahr der Geisteswissenschaft ausgerufen, und prompt brechen abermals Rechtfertigungsdebatten los. „Schluss mit nutzlos!“, forderte Harald Welzer in der „Zeit“. Das Wochenblatt lässt darauf natürlich vehement einen Verfechter der Nutzlosigkeit, den Frankfurter Philosophen Martin Seel, replizieren. Der sagt recht hübsch: „Je mehr die Geisteswissenschaften sich nützlich zu machen versuchen, desto mehr verlieren sie an Wert.“
Daraus folge natürlich keineswegs ihre Nutzlosigkeit, ob für Lehrerausbildung, Erinnerungskultur oder Gewaltprävention. Doch primär gehe es, so Seel, um ein „gesteigertes Bewusstsein der Möglichkeiten menschlicher Orientierung“ sowie um eine „Orientierung über unsere Orientierungen“.
Wie um das zu testen, lauschte ich kürzlich dem Soziologen Hartmut Rosa (41) von der Universität Jena. In der Klaus-Tschira-Stiftung in Heidelberg sprach er über „Soziale Beschleunigung“, dem Thema auch seiner Habilitationsarbeit. Der eloquente „junge Mann“ überflutete einen geradezu mit der Zeitdiagnose, dass mit unserer Zeitwahrnehmung etwas nicht stimme. Es sei doch paradox, dass wir das Gefühl haben, dass Zeit knapper wird, wir immer zu spät dran seien, noch bevor wir angefangen haben. Aber wie könne Zeit knapper werden, wenn wir doch ständig Zeit gewönnen?
Lauter gut nachfühlbare Beobachtungen präsentiert der Soziologe, der sich als „Dromologe“ versteht, als Geschwindigkeitsforscher. Als solcher ist ihm zweifellos Paul Virilio vorausgeeilt, der schon 1980 über „Geschwindigkeit und Politik“ nachdachte und 1992 sein Werk „Rasender Stillstand“ vorlegte, gefolgt von ähnlichen Titeln. Auch der Philosoph Hartmut Lübbe beobachtete schon vor Längerem eine beschleunigte „Gegenwartsschrumpfung“.
„Runaway World“ nennt Hartmut Rosa unsere Zeit: „Die Welt bricht mit der Gewalt eines Unfalls über uns herein.“ Und zitiert, wie es Geisteswissenschaftler gerne im Übermaß tun, neben Shakespeare, Marx, Engels, Nietzsche („Neue Barbarei als Mangel an Ruhe“), Baudelaire oder James Gleick. Auch Goethe bescheinigte einmal seiner Gegenwart einen „ veloziferischen“ Charakter, mit dem „größten Unheil unsrer Zeit, die nichts reif werden lässt“, „dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen“.
Das Eliteproblem sei, so wieder Hartmut Rosa, nicht Geld-, sondern Zeitmangel. Und die „dysfunktionalen Nebenwirkungen“ unserer Zeitsucht? Der Verkehrsstau sei nur ein Symptom. Depressionen als Stressreaktion nehmen zu, die Erfahrungstiefe sinke mit der Erfahrungsdichte. Es stimmt wohl, dass der Hunger nach Zeitgewinn der technischen Beschleunigung vorangegangen war: Die Postkutsche des 17. Jahrhunderts habe man eben mit häufigeren Pferdewechseln beschleunigt. Und Warten sei heute, egal ob am Bus oder im Internet, völlig unerträglich geworden.
Doch was steht dahinter? Hans Blumenberg habe „das Leben als letzte Gelegenheit“ betrachtet. Rosas These: In der säkularisierten Moderne ist Beschleunigung der Lebensumstände eine Panikreaktion auf die Gewissheit des Todes. Alle Hoffnung werde daher auf das Leben vor dem Tod gesetzt. Nur dann erscheine der Tod nicht mehr als der große finale Optionsvernichter. Und nur so erlebe man die beschleunigte Bewegung als lustvollen Autonomiegewinn.
In der Diskussion macht jemand darauf aufmerksam, dass „Zeitvertreib“ doch ein sehr deutsches Wort sei. Es bleibt offen, wie sich das biologische Zeitempfinden, dass im Alter die Zeit schneller rast, auf die gesellschaftliche Runaway World auswirke. Auch wünschte man sich genauere empirische Belege, um eine so universale Kulturdiagnose mehr als nur auf ein Bauchempfinden zu stützen. Und alternative Kulturen, wie die Amish oder die Nikomaren? Ja, deren Zeitbewusstsein habe wenig mit unserer beschleunigten Moderne zu tun. Aber: „Der Preis für einen Ausstieg wird höher.“
Und so leben wir in paradoxer Zeit: Laufend gewinnen wir Zeit und wissen nicht, was wir damit machen sollen. Zugleich kommen wir nicht mehr zu den Dingen, die uns wichtig sind, weil wir nicht mehr so genau wissen, was uns wichtig ist. Spricht Ödön von Horváth: „Ich bin eigentlich ganz anders – aber ich komme so selten dazu.“
Reinhard Breuer
Jetzt hat das Bundesforschungsministerium gerade, als hätte es nicht schon genug solcher „Jahre“ gegeben, das Jahr der Geisteswissenschaft ausgerufen, und prompt brechen abermals Rechtfertigungsdebatten los. „Schluss mit nutzlos!“, forderte Harald Welzer in der „Zeit“. Das Wochenblatt lässt darauf natürlich vehement einen Verfechter der Nutzlosigkeit, den Frankfurter Philosophen Martin Seel, replizieren. Der sagt recht hübsch: „Je mehr die Geisteswissenschaften sich nützlich zu machen versuchen, desto mehr verlieren sie an Wert.“
Daraus folge natürlich keineswegs ihre Nutzlosigkeit, ob für Lehrerausbildung, Erinnerungskultur oder Gewaltprävention. Doch primär gehe es, so Seel, um ein „gesteigertes Bewusstsein der Möglichkeiten menschlicher Orientierung“ sowie um eine „Orientierung über unsere Orientierungen“.
Wie um das zu testen, lauschte ich kürzlich dem Soziologen Hartmut Rosa (41) von der Universität Jena. In der Klaus-Tschira-Stiftung in Heidelberg sprach er über „Soziale Beschleunigung“, dem Thema auch seiner Habilitationsarbeit. Der eloquente „junge Mann“ überflutete einen geradezu mit der Zeitdiagnose, dass mit unserer Zeitwahrnehmung etwas nicht stimme. Es sei doch paradox, dass wir das Gefühl haben, dass Zeit knapper wird, wir immer zu spät dran seien, noch bevor wir angefangen haben. Aber wie könne Zeit knapper werden, wenn wir doch ständig Zeit gewönnen?
Lauter gut nachfühlbare Beobachtungen präsentiert der Soziologe, der sich als „Dromologe“ versteht, als Geschwindigkeitsforscher. Als solcher ist ihm zweifellos Paul Virilio vorausgeeilt, der schon 1980 über „Geschwindigkeit und Politik“ nachdachte und 1992 sein Werk „Rasender Stillstand“ vorlegte, gefolgt von ähnlichen Titeln. Auch der Philosoph Hartmut Lübbe beobachtete schon vor Längerem eine beschleunigte „Gegenwartsschrumpfung“.
„Runaway World“ nennt Hartmut Rosa unsere Zeit: „Die Welt bricht mit der Gewalt eines Unfalls über uns herein.“ Und zitiert, wie es Geisteswissenschaftler gerne im Übermaß tun, neben Shakespeare, Marx, Engels, Nietzsche („Neue Barbarei als Mangel an Ruhe“), Baudelaire oder James Gleick. Auch Goethe bescheinigte einmal seiner Gegenwart einen „ veloziferischen“ Charakter, mit dem „größten Unheil unsrer Zeit, die nichts reif werden lässt“, „dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen“.
Das Eliteproblem sei, so wieder Hartmut Rosa, nicht Geld-, sondern Zeitmangel. Und die „dysfunktionalen Nebenwirkungen“ unserer Zeitsucht? Der Verkehrsstau sei nur ein Symptom. Depressionen als Stressreaktion nehmen zu, die Erfahrungstiefe sinke mit der Erfahrungsdichte. Es stimmt wohl, dass der Hunger nach Zeitgewinn der technischen Beschleunigung vorangegangen war: Die Postkutsche des 17. Jahrhunderts habe man eben mit häufigeren Pferdewechseln beschleunigt. Und Warten sei heute, egal ob am Bus oder im Internet, völlig unerträglich geworden.
Doch was steht dahinter? Hans Blumenberg habe „das Leben als letzte Gelegenheit“ betrachtet. Rosas These: In der säkularisierten Moderne ist Beschleunigung der Lebensumstände eine Panikreaktion auf die Gewissheit des Todes. Alle Hoffnung werde daher auf das Leben vor dem Tod gesetzt. Nur dann erscheine der Tod nicht mehr als der große finale Optionsvernichter. Und nur so erlebe man die beschleunigte Bewegung als lustvollen Autonomiegewinn.
In der Diskussion macht jemand darauf aufmerksam, dass „Zeitvertreib“ doch ein sehr deutsches Wort sei. Es bleibt offen, wie sich das biologische Zeitempfinden, dass im Alter die Zeit schneller rast, auf die gesellschaftliche Runaway World auswirke. Auch wünschte man sich genauere empirische Belege, um eine so universale Kulturdiagnose mehr als nur auf ein Bauchempfinden zu stützen. Und alternative Kulturen, wie die Amish oder die Nikomaren? Ja, deren Zeitbewusstsein habe wenig mit unserer beschleunigten Moderne zu tun. Aber: „Der Preis für einen Ausstieg wird höher.“
Und so leben wir in paradoxer Zeit: Laufend gewinnen wir Zeit und wissen nicht, was wir damit machen sollen. Zugleich kommen wir nicht mehr zu den Dingen, die uns wichtig sind, weil wir nicht mehr so genau wissen, was uns wichtig ist. Spricht Ödön von Horváth: „Ich bin eigentlich ganz anders – aber ich komme so selten dazu.“
Reinhard Breuer
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