Die Mathematik der Bienenwaben
Die Kunst, mit möglichst wenig Wachsverbrauch jeder Bienenlarve eine Zelle bereitzustellen, raumfüllende Polyeder und die Ästhetik der optimalen Lösung
"Die erste Regel, die eine junge Biene sich merken muß", sagte Kassandra und seufzte, "ist, daß jede in allem, was sie denkt und tut, den anderen gleichen und an das Wohlergehn aller denken muß. Es ist bei der Staatsordnung, die wir seit undenkbar langer Zeit als die richtige erkannt haben und die sich auch auf das beste bewährt hat, die einzige Grundlage für das Wohl des Staates."
Waldemar Bonsels
"Die Biene Maja"
Maja! Willi! Setzt euch endlich wieder auf eure Plätze." Kassandra, die Lehrerin der Bienenschule, war verärgert.
"Aber ich möchte so gerne zusehen, wie die Waben gebaut werden", maulte Maja. "Sie sind so hübsch anzusehen."
"Jaja, du und dein Schönheitssinn", kommentierte Kassandra etwas säuerlich. "Du mußt lernen, daß etwas anderes viel wichtiger ist. Die sechseckige Form ist die ökonomischste, die überhaupt möglich ist."
"Ökologisch? Das ist doch, wenn die Blumen nicht mehr so merkwürdig giftig schmecken."
"Ökonomisch", korrigierte Kassandra. "Sparsam. Ich werde es euch erklären. Jede einzelne Zelle soll eine bestimmte Menge Honig aufnehmen. Ihr Rauminhalt ist also festgelegt. Aber wir wollen möglichst wenig Wachs für ihre Konstruktion aufwenden. Oder, im Querschnitt betrachtet: Wir wollen Figuren vorgegebenen Flächeninhalts so aneinanderlegen, daß die Gesamtlänge aller Begrenzungslinien zwischen ihnen minimal ist."
"Wieso? Die Zellen haben doch einen Boden und einen Deckel."
"Nicht so vorlaut, Willi. Vorläufig, damit ihr Bienchen das begreift, tun wir so, als hätten die Zellen überall den gleichen Querschnitt, als wären es einfach durchgehende Röhren. Dann genügt es, wenn wir uns nur in so einer Ebene umschauen."
"Ich weiß was!" rief Maja. "Die Figur, die bei gegebenem Flächeninhalt die kürzeste Begrenzungslinie hat, ist der Kreis."
"Richtig, Kind. Aber du hast etwas übersehen. Mit den Zellenquerschnitten muß sich die ganze Oberfläche der Wabe lückenlos überdecken lassen. Genau dann nämlich wird jede Wand von zwei Zellen genutzt, wenn wir vom Rand der Wabe einmal absehen. Es gibt unendlich viele Muster, die diese Bedingung erfüllen, aber das regelmäßige Sechseck ist die optimale Form" (Bild 2 oben).
"Dann müßten doch die Menschen ihre Häuser aus sechseckigen Zimmern bauen. Die denken doch immer so ökonomisch."
"Ach, die Menschen. Sie werden uns Bienen nie richtig verstehen. Unsereins baut Waben schon seit ewigen Zeiten, und solch regelmäßige Formen sind sehr ungewöhnlich im Tierreich. Der griechische Philosoph Aristoteles beschrieb sie zwar schon vor mehr als 2300 Jahren; doch erst im vierten Jahrhundert erkannte endlich Pappus, ein in Alexandria lebender Mathematiker, unsere ökonomische Weisheit. Aber die Sache mit dem Zellenquerschnitt ist ja noch nicht alles. Richtig interessant wird die Sache erst bei einer ganzen, räumlich ausgedehnten Wabe."
Kassandra hängte eine Tafel mit einigen Zeichnungen auf. "Schaut einmal alle her. Eine Bienenwabe besteht aus zwei Scheiben von Zellen, getrennt durch eine regelmäßig geknitterte Schicht, die den gemeinsamen Boden beider Zellenscheiben bildet. Die Zellen beiderseits der Grenzschicht stehen gewissermaßen auf Lücke; wo auf der einen Seite sich drei Sechsecke in einem Punkt treffen, ist auf der anderen der Mittelpunkt eines Sechsecks. Eine Zelle besteht also aus einer Röhre mit sechseckigem Querschnitt, dem Schaft, und einer Basis, die sich aus drei gleichen Rhomben zusammensetzt. Jede Zelle der einen Seite grenzt mit ihrer Basis an drei Zellen der anderen" (Bild 1 und 2 Mitte).
Die optimale Form der Zellenbasis
"Ist denn die Bauweise der Basis auch optimal?" fragte ein kleines Bienenmädchen aus der letzten Reihe.
"Das fragten sich sogar die Menschen, und deshalb bemühten sie sich, unseren Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Johannes Kepler (1571 bis 1630), der die Gesetze der Planetenbewegung aufstellte, erkannte 1619, daß die Basis der Bienenwabe die Hälfte eines Rhombendodekaeders ist."
"Was ist denn das?"
"Das ist ein Körper, der von zwölf gleichen Rhomben begrenzt wird. Er hat vierzehn Ecken. An sechs von ihnen treffen sich jeweils vier Rhomben mit ihren spitzen Winkeln, an den acht anderen je drei Rhomben mit den stumpfen Winkeln. Man kann ihn so halbieren, daß die Schnittfläche gerade ein Sechseck ist. Mit dieser Fläche setzt man ihn gewissermaßen auf die sechseckige Röhre auf" (Bild 2 unten).
"Und fertig ist die Laube", kicherte eine junge Drohne.
"Keineswegs", erwiderte Kassandra. "Etwa ein Jahrhundert später bestätigte der italienische Astronom Giacomo Filippo Maraldi (1665 bis 1729) Keplers Entdeckung. Er gab auch als erster die Winkel der Dodekaederrhomben an: 109,47 und 70,53 Grad. Die Menschen nennen sie heute noch Maraldi-Winkel.
Der französische Wissenschaftler René Antoine Ferchault de Réaumur (1683 bis 1757), immerhin Erfinder eines lange gebräuchlichen Thermometers mit 80-Grad-Skala, war so begeistert vom Bau und von der Symmetrie der Bienenwaben, daß er vorschlug, sie als universelle Maßeinheit zu benutzen."
"Ist denn diese Rhombendodo..."
"Rhombendodekaeder. Das heißt einfach Zwölfflächner aus Rhomben."
"...also diese Form – ist die vielleicht auch so öko-optimal?"
"Das hat sich Réaumur 1712 auch gefragt, und 1734 hat der deutsche Mathematiker Johann Samuel Koenig (1712 bis 1757) die Bestätigung geliefert. Er behielt die prinzipielle Form der Zelle bei, also den sechseckigen Schaft und die Basis aus drei Rhomben. Er nahm Kantenlänge und Höhe des Schafts als konstant an und berechnete dann die Rhombenwinkel, mit denen bei vorgegebenem Zellvolumen die Oberfläche minimal wird. Es ergaben sich die Maraldi-Winkel."
"Und wie lang ist der Schaft bei einer optimalen Zelle?"
"Das hat sich Koenig nicht überlegt. Erst der Genfer Mathematiker Simon Antoine Jean L'Huilier (1750 bis 1840) untersuchte 1781 auch verschieden hohe Zellen – mit einem merkwürdigen Ergebnis: Bei vorgegebenem Zellvolumen ist die benötigte Wachsmenge am geringsten, wenn das Verhältnis der Höhe h zur Seitenlänge a des Schafts gleich 1:SQRT2 ist. Eine solche Zelle wäre genau ein halbes Rhombendodekaeder."
"Aber unsere sind doch viel länglicher!" warf Maja ein.
"Richtig, Kind. Eine gutgebaute Zelle ist 10,2 Millimeter hoch, und das Sechseck hat 1,8 Millimeter Kantenlänge; das ergibt ein Verhältnis von ungefähr 5,7 oder achtmal so viel, wie sich L'Huilier gedacht hat."
"Oh."
"Maja, was meinst du, warum?"
Maja überlegte eine Weile, dann erinnerte sie sich an das Schlüpfen der Bienen vor ein paar Tagen. "Unsere Larven müssen in die Zellen passen, und die sind lang und schmal."
"Du bist ein kluges Kind. Aber das Ganze hat noch einen anderen Grund. Die Menschen haben den Deckel vergessen, mit dem wir unsere Waben zu verschließen pflegen. Erst 1967 stellte David F. Siemens am Moody Institute of Science in Los Angeles fest, daß diese Wachsscheiben im Mittel 2,8mal so dick sind wie die Wände von Basis und Schaft. Optimiert man nun die Wachsmenge, die für eine Zelle mit festem Volumen einschließlich des Deckels und mit den tatsächlichen Wandstärkenverhältnissen benötigt wird, so ergibt sich für das Verhältnis von h zu a ein Wert von ungefähr 5,6. Damit hatten die Menschen erneut eine Bestätigung, daß wir unsere Waben nach ökonomischen Gesichtspunkten bauen. Warum wir allerdings die Zelldeckel gerade 2,8mal so dick wie die übrigen Wände machen, das wissen sie immer noch nicht.
So, Kinder, es ist Schluß für heute. Wer Lust hat, kann vor dem Stock noch ein wenig herumfliegen. Aber hütet euch vor den Spinnweben!"
Mit großem Gesumm tobten die Bienenkinder aus der Klasse. Nur Maja blieb noch nachdenklich auf ihrem Platz sitzen.
"Fräulein Kassandra, darf ich Sie noch etwas fragen? Alle die Menschen, von denen Sie uns erzählt haben, haben die Grundform der Zellbasis nie in Frage gestellt. Muß sie denn wirklich unbedingt aus drei Rhomben bestehen?"
Noch optimalere Waben
"Na ja..." Kassandra druckste ein wenig mit der Antwort herum. "Die Böden der Zellen der einen Wabenhälfte müssen genau auf die Böden der anderen Wabenhälfte passen. Es ist nicht leicht, eine Form zu finden, die diese Bedingung erfüllt. Trotzdem gibt es verschiedene Möglichkeiten. Stell dir vor, du hast die kurzen Zellen ohne Deckel, die gerade aus einem halben Rhombendodekaeder bestehen. Auf die Öffnung einer solchen Zelle kannst du noch einmal genau so eine aufsetzen."
"Dann ist es ein ganzes Rhombendokade...?"
"Richtig. Und wenn du das für alle Zellen machst, kannst du zwei ganze Waben lückenlos aneinandersetzen. Und nicht nur zwei – beliebig viele!"
"Dann können die Bienen aber aus den inneren Zellen gar nicht ausschlüpfen, weil sie auf allen Seiten von anderen Zellen umgeben sind."
"Richtig. Deswegen machen wir es ja auch nicht so. Aber auf diese Weise siehst du, daß das Rhombendodekaeder ein raumfüllendes Polyeder ist. Du kannst beliebig viele Exemplare davon lückenlos im Raum stapeln."
"Wie Bauklötze?"
"Ja. Der Quader ist ein anderes Beispiel für ein raumfüllendes Polyeder. Doch wenn es um möglichst geringe Oberfläche geht, ist das Rhombendodekaeder jedem Quader überlegen. Es gibt nur einen Körper, der noch sparsamer mit der Oberfläche ist: den Oktaederstumpf."
"Was ist das denn?"
"Ein entecktes Oktaeder."
"Wie? Sind die anderen noch nicht entdeckt?"
"Ent-eckt. Das heißt, man nimmt ein Oktaeder – den platonischen Körper aus acht gleichseitigen Dreiecken, deren vier sich in jeder Ecke treffen – und schneidet die Ecken ab, so daß von den Kanten an jedem Ende ein Drittel wegfällt und nur noch das mittlere Drittel übrigbleibt. Der Körper besteht dann aus acht Sechsecken und sechs Quadraten" (Bild 3 Mitte links).
"Und den kann man stapeln?"
"Lückenlos."
"Das kann ich mir nicht vorstellen."
"Damit hatten die Menschen auch ihre Schwierigkeiten. Erst 1887 hat ein englischer Physiker namens William Thomson herausgefunden, daß der Oktaederstumpf unter allen von ihm untersuchten Körpern der beste Raumfüller ist, vor allem, wenn man seine Kanten und Flächen ein wenig krümmt, so daß er kugelähnlicher wird. Und mathematisch bewiesen ist bis heute nicht, daß man es nicht noch geschickter anstellen kann. Der Physiker hieß übrigens später Lord Kelvin, und sein Name muß für eine Thermometerskala herhalten."
"Na schön. Aber wenn ich so einen Stapel habe, säge ich ihn einfach entzwei, so daß ich lauter aneinandergrenzende sechseckige Schnittflächen erhalte, und fertig ist meine Sparwabe."
"Fast. Du müßtest nämlich zwei Quadrate und vier Sechsecke genau in der Mitte durchsägen. Aber der Schnitt durch ein Sechseck wäre länger als der durch ein Quadrat, und die gesamte Schnittfläche wäre ein unregelmäßiges Sechseck."
"Oh. Schade. Was macht man da?"
"Man drückt das ganze Gebilde solange platt, bis es stimmt. Stell dir vor, du schaust genau auf eins der Quadrate, und das gegenüberliegende Quadrat ist unsichtbar dahinter. Jetzt wird der Körper in der Richtung von vorn nach hinten so verkürzt, daß die Sechsecke alle schmal und die vier seitlichen Quadrate zu Rhomben werden. Nur das vordere und das hintere Quadrat bleiben unverändert. Am Ende ist der Weg quer durchs Sechseck genauso lang wie eine Quadratseite. Wenn du es jetzt halbierst, entsteht ein regelmäßiges Sechseck" (Bild 3 unten).
"Wissen die Menschen das auch?"
"Das schon. Der ungarische Mathematiker L. Fejes Tóth hat 1964 sogar gefunden, daß ein solcher halbierter Oktaederstumpf mit Volumen 1 eine Oberfläche von 4,23853 hat. Das ist ungefähr 0,1 Prozent weniger als die Oberfläche eines halben Rhombendodekaeders von 4,24264. Wenn man beim Vergleichen darauf besteht, daß die beiden Zellbasen nicht nur gleiches Volumen, sondern auch gleiche Kantenlänge des Sechsecks haben, muß man den Oktaederstumpf nicht in der Mitte, sondern parallel dazu durchschneiden. Dann ergibt sich für die Oberfläche ein noch etwas kleinerer Wert, nämlich 4,23667."
"Das ist aber nicht viel weniger."
"Stimmt. Und der relative Unterschied wird noch geringer, wenn man den Schaft mitrechnet. Unser Volk hat für seine Waben also nicht die optimale Form gewählt; aber der Unterschied fällt nicht ins Gewicht. Andererseits ist unser Muster viel einfacher. Weil wir Bienenlehrerinnen auch solchen Dummköpfen wie Willi das Wabenbauen beibringen müssen, ist es schon besser, eine einfache Struktur zu wählen und nicht die komplizierte dieses Menschen. So betrachtet ist unsere Wabenform doch die bestmögliche."
Kassandra packte die Zeichnung wieder fort und stand auf. "So, mein Kind, nun geh zu den anderen spielen."
Literaturhinweise
- On Growth and Form, Band I und II. Von W. D'Arcy Thompson. 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 1952. – A Note on Space-Filling Polyhedra. Von Kathleen Ollerenshaw in: Bulletin of the Institute of Mathematics and its Applications, Band 15, Seiten 306 bis 308, 1979. – Optimal design of honeycombs. Von D. Weaire und R. Phelan in: Nature, Band 367, Heft 6459, Seite 123, 13. Januar 1994. – What the Bees Know and What They Do not Know. Von L. Fejes Tóth in: Bulletin of the American Mathematical Society, Band 70, Seiten 468 bis 481, 1964. – The Mathematics of the Honeycomb. Von David F. Siemens in: The Mathematics Teacher, Band 58, Seiten 334 bis 337, 1965. – Of Bees and Mathematicians. Von David F. Siemens in: The Mathematics Teacher, Band 60, Seiten 758 bis 761, 1967.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 12
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