Schwarze Sonne über Nowosibirsk
Schuld an meiner Sibirienreise war eigentlich ein ganz gewöhnlicher Regenschauer. An und für sich löst ein solch banales Ereignis sicher noch lange kein Fernweh aus. Aber dieser Regenguss fand zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt statt – nämlich am Mittag des 11. August 1999, als sich über Saarbrücken die Sonne total verfinsterte.
Als begeisterter Hobbyastronom hatte ich mich schon seit Jahrzehnten im Stillen auf dieses besondere Ereignis gefreut. Wir hatten alles sorgfältig vorbereitet: Zusammen mit meinem jüngeren Bruder und zwei meiner Organistenkollegen hatten wir einen Punkt im Elsass ausgewählt, wo die Zentrallinie verlief. Um nicht in die zu erwartenden Staus zu geraten, waren wir schon am Vorabend von Düren aus aufgebrochen, hatten uns die Nacht um die Ohren geschlagen und waren am frühen Morgen am Zielort angelangt. Aber als der Tag heraufdämmerte, war es bewölkt und die Sonne zeigte sich nur beim Aufgang für kurze Zeit. Das Wetter blieb grau und gegen halb elf fielen die ersten Regentropfen – es stand zu befürchten, dass wir von der Finsternis gar nichts mitbekommen würden. Als mein Bruder und ich dann im Rundfunk hörten, dass im Saarland die Wolken um die Mittagszeit auseinandergehen würden, entschlossen wir uns, dorthin zu fahren und ließen unsere Bekannten zurück. Zunächst schien unsere Rechnung aufzugehen: Kurz vor der deutschen Grenze kam die Sonne heraus und wir konnten – am Stadtrand von Saarbrücken angekommen – immerhin bei klarem Himmel die zu 80 % verfinsterte Sonne sehen. Unzählige Schaulustige hatten sich am Straßenrand mit Feldstechern und Teleskopen eingefunden. Es wurde schon dämmerig, der Höhepunkt war nicht mehr weit. Doch dann kam der ominöse Regenschauer und hüllte alles ins Dunkel. Wir versuchten noch, einer Wolkenlücke nachzufahren, aber der Mondschatten war schneller. Nur kurz nach der Totalität erschien die Sonne noch einmal für 20 Sekunden als messerscharfe Sichel – dann verschwand sie endgültig bis zum frühen Abend. Und noch größer war unsere Enttäuschung, als wir später erfuhren, dass meine Kollegen im Elsass Glück gehabt hatten: Bei ihnen war trotz des Regens die Sonne genau zum richtigen Zeitpunkt herausgekommen. Wie hatte es doch Franz Kafka in seiner Erzählung vom Landarzt so treffend formuliert: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – nie mehr ist es gutzumachen“.
Nun – bei dieser missglückten Aktion wollte ich es nicht bewenden lassen. Fortan war ich fest entschlossen, die verpasste Gelegenheit irgendwann nachzuholen. Zunächst war für 2006 eine Reise in die Türkei zur Sonnenfinsternis am 29. März angedacht, aber dieses Vorhaben musste aus verschiedenen Gründen unterbleiben. Als im folgenden Jahr jedoch die Zeitschrift „Sterne und Weltraum“ eine Leserreise zur Sonnenfinsternis am 1. August 2008 nach Sibirien anbot, griff ich zu und lud auch meinen Bruder mit ein, der erfreulicherweise ein wenig die russische Sprache beherrscht. Denn gerade Russland hatte auf mich stets eine geheimnisvolle Faszination ausgeübt, und es bot sich die Gelegenheit an, neben Nowosibirsk auch die beiden Metropolen Moskau und St. Petersburg kennenzulernen.
Am Vormittag des 28. Juli trafen wir uns in der Empfangshalle des Frankfurter Flughafens mit den anderen Mitgliedern unserer Reisegruppe, die unter der astronomischen Leitung von Dr. Hans Zekl stand. Auch Ralf Wittmann, Leiter des Reiseunternehmens Wittmann Travel e.K. ging höchstpersönlich mit auf die große Fahrt. Um halb eins bestiegen wir die Lufthansa-Maschine, die uns nach Moskau bringen sollte, und wenig später hatte die Sonnenfinsternis-Erlebnisreise nach Russland begonnen. Während wir in Frankfurt bei brütender Hitze abgeflogen waren, empfing uns in Moskau sogleich angenehme Kühle. Kurz zuvor hatte eine Kaltfront das heiße Sommerwetter weggefegt. Das Gebäude des Flughafens Domoderowo erwies sich als hochmodern und strahlte internationale Geschäftigkeit aus.
Bei der anschließenden Busfahrt zum Hotel wurde uns schnell klar, dass in Russland andere Dimensionen gelten: Der Flughafen liegt einige Dutzend Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Große Birkenwälder säumten die autobahnähnliche Straße, die bald immer dichteren Verkehr aufnehmen musste. Ältere Automodelle aus der Sowjetzeit fehlten fast völlig, dafür dominierten japanische Typen wie Honda, Nissan und Toyota. Aber auch deutsche Marken (vor allem Volkswagen und Mercedes) waren vertreten. An den Tankstellen freilich würden deutsche Autofahrer vor Neid erblassen: Der Liter Normalbenzin kostet zur Zeit 25 Rubel – umgerechnet etwa 75 Cent..
Am Stadtrand passierten wir einige Datschensiedlungen. Hier hat sich die reiche Oberschicht niedergelassen und mit hohen Betonzäunen hermetisch von der Außenwelt abgeschottet. Die starken sozialen Gegensätze in Russland fallen deutlich ins Auge, wenn man danach die riesigen Wohnsilos der Trabantenstädte durchfährt, denn von vielen Hochhäusern blättert bereits der Putz von den Wänden, während einige Meter entfernt hochmoderne Glaspaläste und Einkaufszentren hochgezogen worden sind. Eine besondere Art von Gebäuden ist jedoch stets glanzvoll herausgeputzt – die Kirchen. Auch 70 Jahre Kommunismus haben den christlichen Glauben nicht ausgelöscht, und für die liebevolle Pflege sowohl historischer als auch neuzeitlicher Kirchenbauten scheuen die Gläubigen offenbar weder Zeit noch Mühe. Nach eineinhalbstündiger Fahrt erreichten wir das riesige Hotel „Cosmos“, wo wir uns einquartierten. Der Name passte gut zu unserer Reise, und wenige hundert Meter davon entfernt erblickte man das Kosmonauten-Denkmal, das zu Ehren der ersten Weltraumfahrer Juri Gagarin, German Titow und Valentina Tereschkowa errichtet wurde.
Gleich am ersten Abend lernten wir eine erste Moskauer Attraktion kennen, die unterirdisch liegt. Gemeint sind die prunkvollen Metro-Stationen, die vor allem in der Stalin- und Chruschtschow-Ära entstanden und dem Volk den (angeblichen) neuen Wohlstand im Sozialismus vorspiegeln sollten.
Am 29. Juli wurden wir zum Roten Platz gefahren, besichtigten das Kaufhaus GUM und später den Kreml. Vor allem die altehrwürdigen Kirchen hinterließen auf uns einen tiefen Eindruck, aber auch die Rüstkammer war einen Besuch wert. Überhaupt macht das Stadtzentrum von Moskau einen sauberen und gepflegten Eindruck. Viele alte Häuser und Paläste sind restauriert worden oder werden zur Zeit instand gesetzt. Bei aller Bauwut in den Außenbezirken gehen die Russen dennoch sehr gewissenhaft mit dem historischen Erbe ihrer Hauptstadt um.
Am 30. Juli flogen wir weiter nach Nowosibirsk. Inzwischen waren auch die übrigen Reiseteilnehmer zu uns gestoßen, darunter auch Matthias Wirth, der ebenfalls (zusammen mit Dr. Zekl) mit der astrononmischen Betreuung der Gruppe betraut war. Auch der Nowosibirsker Flughafen liegt etwa 25 Kilometer von der Stadt entfernt, deren Hochhäuser in der Ferne zu sehen waren. Im Gegensatz zu Moskau ist Nowosibirsk eine junge Stadt, denn sie wurde erst vor etwa 120 Jahren gegründet. Man nennt sie auch das „russische Chicago“- und dieser Titel ist berechtigt. Denn nach der Oktoberrevolution gab es eine stürmische Aufwärtsentwicklung, so dass die Einwohnerzahl heute zwei Millionen beträgt. Auch heute ist in dieser drittgrößten Stadt Russlands noch der Pioniergeist lebendig. Neben zunehmend verfallenden Plattenbauten schießen immer mehr gewaltige Hochhäuser empor – manche Außenbezirke wirken wie eine einzige riesige Baustelle. Der Bauboom hat aber auch eine Kehrseite: Nicht weit von den hochmodernen Wohnsilos stehen Viertel mit elenden Holzhäusern, in denen die Armut mancher Bevölkerungsteile auf erschreckende Weise sichtbar wird. Es gibt auch protzige Luxusvillen – erbaut von Geschäftsleuten, die ihren Reichtum oft auf fragwürdige Weise erworben haben.
Das Stadtzentrum von Nowosibirsk wirkt infolge seiner Architektur, die noch größtenteils auf die Sowjetzeit zurückgeht, relativ kalt und unpersönlich, wird aber inzwischen durch viele moderne und farbig gestaltete Hochhäuser und Glasbauten aufgelockert. Es gibt auch noch einige schöne Bauwerke aus der Zeit um 1900, darunter die Alexander-Newski-Kathedrale, die Christi-Verklärungs-Kathedrale und die Markthalle neben dem Theaterplatz. Wieder aufgebaut wurde die kleine Nikolauskapelle am Krasnyi-Prospekt. Sie stellt den geographischen Mittelpunkt Russlands dar und wird häufig von Brautpaaren aufgesucht.
Nach einer reizvollen Bootsfahrt auf dem Fluss Ob, der hier immerhin schon einen halben Kilometer breit ist (vergleichbar mit dem Rhein bei Köln), ging es weiter nach Akademgorodok. Dieser Vorort von Nowosibirsk wurde 1957 zur wissenschaftlichen Erschließung Sibiriens gegründet und ist bis heute ein bedeutendes Forschungszentrum. Wir besuchten zunächst das Eisenbahn-Museum mit zahlreichen historischen Lokomotiven und Waggons der Transsibirischen Eisenbahn und wurden dann von einer älteren, aber sehr vitalen Wissenschaftlerin durch die geologischen Sammlung der Universität geführt. Neben zahllosen kostbaren Mineralien und Edelsteinen zählte auch eine Eisen-Nickel-Meteorit zu den Exponaten. Viele von uns hatten wohl erstmals Gelegenheit, einen solchen Stein aus dem All in die Hand zu nehmen.
Und dann war endlich der langersehnte „Tag X“ gekommen – der 1. August! Der erste Blick nach dem Aufwachen ging natürlich zum Fenster hinaus. Erwartungsgemäß hatte sich der Himmel nach den nächtlichen Regenschauern wieder etwas aufgeklart, war aber immer noch ziemlich verschleiert. Im Zenitbereich sah man größere Lücken mit blauem Himmel, auch die Sonne zeigte sich bald nach dem Aufgang. Insgesamt war die Wetterlage also erheblich günstiger als 1999 in Deutschland. Trotzdem sah es wieder verdächtig nach einem Lotteriespiel aus.
8.00 Uhr: Die ersten Mitglieder unserer Reisegruppe inspizieren vor dem Hotel skeptisch den Himmel. Bis 9 Uhr haben die meisten von uns gefrühstückt. Inzwischen hat sich das Wetter weiter gebessert. Zwar ziehen von Westen her noch immer größere Felder mit Zirrus- und Altocumuluswolken heran, aber die Sonne scheint meistens und viel blauer Himmel ist zu sehen. Der russische Wetterbericht hat am Abend zuvor für den Vormittag des 1. August bedecktes Wetter, aber für den Nachmittag Sonnenschein vorausgesagt. Wir hoffen inständig, dass diese Prognose zutrifft.
10.00 Uhr: Wir treffen uns in einem Saal des Hotels, wo uns Dr. Zekl einen Vortrag über das Thema Sonnenfinsternis hält und anschließend noch einen kleinen Film über die totale Sonnenfinsternis vom 29.März 2006 zeigt, der in Nordägypten mit einer Web-Kamera aufgenommen wurde. Wir haben tags zuvor von einer russischen Familie (die mit einem Mitglied des Hotelpersonals bekannt ist) das verlockende Angebot bekommen, gegen einen kleinen Obulus die Sonnenfinsternis vom Dach eines 16-stöckigen Hauses im Stadtzentrum von Nowosibirsk zu beobachten. Vor allem Ralf Wittmann und Matthias Wirth sind begeistert von dieser Idee, aber sie findet doch keine ungeteilte Zustimmung. Um die Gruppe nicht auseinanderzureißen, einigen wir uns darauf, alle zusammen in unserem Hotel am Stadtrand zu bleiben und dort die Finsternis mitzuverfolgen. Ausdrücklich wird nochmals darauf hingewiesen, dass die Sonne – außer bei der Totaltät – nur durch Schutzbrillen beobachtet werden darf.
12.00 Uhr: Der Vortrag ist zu Ende und eine prickelnde Spannung macht sich schon breit. Das Wetter bessert sich weiter, die Zirruswolken werden immer dünner, so dass die Sonne fast ungedämpft durchscheinen kann. Der Himmel ist jetzt größtenteils klar. Wenn es so bleibt, sieht es günstig aus.
14.30 Uhr: Es bleibt weiterhin windig, und von Westen ziehen wieder dickere Kumuluswolken heran, die häufig die Sonne verdecken. Die Zirruswolken haben sich jedoch aufgelöst und die dickeren Wolken sind vermutlich durch die mittägliche Erwärmung entstanden. Es bleibt zu hoffen, dass sie am späten Nachmittag wieder abnehmen, wenn die Sonneneinstrahlung nachlässt. Noch sind bis zum Finsternisbeginn zwei Stunden Zeit.
16.00 Uhr: Das Wetter scheint weiterhin mitzuspielen. Es ziehen zwar weiterhin Schönwetterwolken durch, aber sie geben immer wieder den Blick zur Sonne frei, so dass man zeitweilig klare Sicht hat. Unsere Astro-Spezialisten haben bereits ihre Fotokameras installiert und beginnen mit dem Aufbau der Teleskope.
16.45 Uhr: Der Countdown läuft! Der erste Kontakt wird registriert, der Mond beginnt, sich in die Sonne hineinzuschieben. Die Wolkenzahl ist tatsächlich geringer geworden, aber der Wind hat sich noch verstärkt und stört zuweilen beim Fotografieren. Die ersten Bilder der partiellen Phase werden aufgenommen.
17.20 Uhr: Die Sonne ist bereits zu 60 % verfinstert und erscheint als Sichel. Das Licht hat schon merklich abgenommen. Das Wetter ist jetzt optimal, der Himmel wird immer wolkenärmer.
17.30 Uhr: Allmählich legt sich eine eigentümlich dämmerige Stimmung über die Landschaft, die Farben verblassen oder erscheinen seltsam verfremdet. Ich habe mein 500-mm-Teleobjektiv mit einer Schutzfolie überzogen, die mir Dr. Zekl freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat und mache einige Bilder von der immer schmaler werdenden Sichel. Dann befestige ich die Fotokamera mit einem Ledergürtel an meinem Fernrohr und zurre sie möglichst fest, um von der totalen Phase möglichst scharfe Aufnahmen zu bekommen.
17.41 Uhr: Dr. Zekl ruft uns zu: „Noch zwei Minuten bis zur Totalität!“ Eilig werden die letzten Vorbereitungen getroffen, denn jetzt naht der Höhepunkt des kosmischen Schattenspieles. Ein Reiseteilnehmer hat eben schon die Venus ausfindig gemacht – sie ist deutlich zu sehen, wenn man die Hand vor die Sonne hält. Nun wird es rasch immer dunkler. Der Mondschatten rast heran, man sieht blassgraue Streifen über das weiße Tuch wirbeln, das wir auf der Hotelterrasse ausgebreitet haben. Und dann geht in Sekundenschnelle über Nowosibirsk das Licht aus. Von der Stadt her ist ein vielstimmiger Jubelschrei zu hören – so als wäre bei der Fußball-WM ein entscheidendes Tor gefallen. Denn nun sieht man sie tatsächlich – die „Schwarze Sonne“. Der phänomenale Anblick dieses Naturereignisses ist mit Worten und Bildern nicht zu beschreiben – man muss es selbst erlebt haben. Die Sonne wirkt keineswegs völlig schwarz; vielmehr erscheint der Mond tief dunkelblau, was wohl auf den Erdschein zurückzuführen ist. Ringsum sieht man in zartem Weißgelb die wogende Korona, die diesmal recht klein ausfällt. Wir haben auch das Glück, mehrere Protuberanzen am Sonnenrand zu sehen. Deutlich sind die Venus, der Merkur und einige helle Fixsterne zu sehen. Ich mache einige Aufnahmen mit der Kamera, aber zu meinem Ärger löst sich beim Verstellen der Belichtungszeit der Gürtel. Schnell reiße ich den Fotoapparat los und schieße freihändig noch einige Aufnahmen. Zum Glück bleibt danach noch eine kurze Zeitspanne, um den überwältigenden Himmelsanblick zu genießen. Dann ruft Dr. Zekl schon warnend: „Achtung! Der Diamantring baut sich auf!“ Für Sekunden blitzt ein vielfarbig schimmernder Ring um die Sonne auf – und dann ist der Spuk auch schon vorbei. Nur zweieinhalb Minuten hat die totale Verfinsterung gedauert. Das Licht kehrt schnell zurück und wir haben schnell wieder unsere Schutzbrillen aufgesetzt. Im südlicher Richtung sieht man noch wie eine drohende Gewitterwand den entschwindenden Mondschatten. Dann beginnt der während der totalen Phase eingeschlafene Wind wieder kräftig zu wehen und einige von uns verfolgen noch den Ausklang der Finsternis.
17.50 Uhr: Mittlerweile hat sich eine euphorisch-gelöste Stimmung unter den Reiseteilnehmern verbreitet. Alle sind froh und glücklich darüber, dass die Finsternis so perfekt beobachtet werden konnte und tauschen lebhaft ihre Eindrücke aus. Das Hotelpersonal hat inzwischen Sekt herbeigebracht und wir stoßen gemeinsam an „auf die Sonnenfinsternis 2008“.
Am nächsten Tag fliegen wir über Moskau nach St. Petersburg, der letzten Station unserer Reise. Diese Stadt wurde zwar erst 1703 gegründet, aber sie hat eine solche Fülle an Sehenswürdigkeiten aufzuweisen, dass wir am 3. und 4. August nur die wichtigsten davon besuchen konnten. Dazu gehörten das Winterpalais und die Eremitage mit der weltberühmten Gemäldesammlung, das Schloss Peterhof und der Katharinenpalast mit dem legendären Bernsteinzimmer. Von besonderem Interesse war natürlich die historische Sternwarte von Pulkowo. Sie wurde im Jahre 1839 im Auftrag von Zar Nikolaus I. Gegründet. Das Konzept entwarf der deutsche Astronom Friedrich Georg Wilhelm Struve (1793-1864), der auch zugleich erster Direktor der neuen Sternwarte wurde. Auch seine Söhne und Enkel wirkten teilweise in Pulkowo als Astronomen. Im 19. Jahrhundert gehörte diese Sternwarte zu den bedeutendsten der Welt. Haute macht die recht weitläufige Anlage allerdings einen äußerlich ziemlich heruntergekommenen Eindruck und müsste dringend renoviert werden. Auch die Parkanlagen ringsum sind meist verwildert. Sehr schön gestaltet ist jedoch das kleine Museum im Innern des Hauptgebäudes, das zahlreiche alte Gemälde, historische Teleskope und andere astronomische Beobachtungsgeräte enthält. Ein Teil der Anlage, wie zum Beispiel ein großer 65-cm-Refraktor, ein Sonnen- und ein Radioteleskop sind noch heute für die wissenschaftliche Forschung im Einsatz und wurden uns teilweise vorgeführt. Wie so häufig, fehlt es an Geld, um dieses bedeutende Insitut wieder in guten baulichen Zustand zu versetzen. Dies wäre eine lohnende Aufgabe für einen deutsch-russischen Förderverein!
Bei der Heimfahrt zum Hotel erfuhren wir von Dr. Zekl noch viele interessante Einzelheiten über das Wirken der Astronomendynastie Struve, die Bahnbrechendes auf dem Gebiet der Doppelstern-Erforschung, der Entfernungsmessung bei Fixsternen und der Geodäsie geleistet hat und erst 1963 mit dem Tode des Struve-Urenkels Otto Struve ausstarb.
Am 5. August flogen wir mit der Lufthansa wieder nach Deutschland zurück. Damit endete die Sonnenfinsternis-Erlebnisreise, die für alle Teilnehmer sicher ein unvergessliches Erlebnis war.
Als begeisterter Hobbyastronom hatte ich mich schon seit Jahrzehnten im Stillen auf dieses besondere Ereignis gefreut. Wir hatten alles sorgfältig vorbereitet: Zusammen mit meinem jüngeren Bruder und zwei meiner Organistenkollegen hatten wir einen Punkt im Elsass ausgewählt, wo die Zentrallinie verlief. Um nicht in die zu erwartenden Staus zu geraten, waren wir schon am Vorabend von Düren aus aufgebrochen, hatten uns die Nacht um die Ohren geschlagen und waren am frühen Morgen am Zielort angelangt. Aber als der Tag heraufdämmerte, war es bewölkt und die Sonne zeigte sich nur beim Aufgang für kurze Zeit. Das Wetter blieb grau und gegen halb elf fielen die ersten Regentropfen – es stand zu befürchten, dass wir von der Finsternis gar nichts mitbekommen würden. Als mein Bruder und ich dann im Rundfunk hörten, dass im Saarland die Wolken um die Mittagszeit auseinandergehen würden, entschlossen wir uns, dorthin zu fahren und ließen unsere Bekannten zurück. Zunächst schien unsere Rechnung aufzugehen: Kurz vor der deutschen Grenze kam die Sonne heraus und wir konnten – am Stadtrand von Saarbrücken angekommen – immerhin bei klarem Himmel die zu 80 % verfinsterte Sonne sehen. Unzählige Schaulustige hatten sich am Straßenrand mit Feldstechern und Teleskopen eingefunden. Es wurde schon dämmerig, der Höhepunkt war nicht mehr weit. Doch dann kam der ominöse Regenschauer und hüllte alles ins Dunkel. Wir versuchten noch, einer Wolkenlücke nachzufahren, aber der Mondschatten war schneller. Nur kurz nach der Totalität erschien die Sonne noch einmal für 20 Sekunden als messerscharfe Sichel – dann verschwand sie endgültig bis zum frühen Abend. Und noch größer war unsere Enttäuschung, als wir später erfuhren, dass meine Kollegen im Elsass Glück gehabt hatten: Bei ihnen war trotz des Regens die Sonne genau zum richtigen Zeitpunkt herausgekommen. Wie hatte es doch Franz Kafka in seiner Erzählung vom Landarzt so treffend formuliert: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – nie mehr ist es gutzumachen“.
Nun – bei dieser missglückten Aktion wollte ich es nicht bewenden lassen. Fortan war ich fest entschlossen, die verpasste Gelegenheit irgendwann nachzuholen. Zunächst war für 2006 eine Reise in die Türkei zur Sonnenfinsternis am 29. März angedacht, aber dieses Vorhaben musste aus verschiedenen Gründen unterbleiben. Als im folgenden Jahr jedoch die Zeitschrift „Sterne und Weltraum“ eine Leserreise zur Sonnenfinsternis am 1. August 2008 nach Sibirien anbot, griff ich zu und lud auch meinen Bruder mit ein, der erfreulicherweise ein wenig die russische Sprache beherrscht. Denn gerade Russland hatte auf mich stets eine geheimnisvolle Faszination ausgeübt, und es bot sich die Gelegenheit an, neben Nowosibirsk auch die beiden Metropolen Moskau und St. Petersburg kennenzulernen.
Am Vormittag des 28. Juli trafen wir uns in der Empfangshalle des Frankfurter Flughafens mit den anderen Mitgliedern unserer Reisegruppe, die unter der astronomischen Leitung von Dr. Hans Zekl stand. Auch Ralf Wittmann, Leiter des Reiseunternehmens Wittmann Travel e.K. ging höchstpersönlich mit auf die große Fahrt. Um halb eins bestiegen wir die Lufthansa-Maschine, die uns nach Moskau bringen sollte, und wenig später hatte die Sonnenfinsternis-Erlebnisreise nach Russland begonnen. Während wir in Frankfurt bei brütender Hitze abgeflogen waren, empfing uns in Moskau sogleich angenehme Kühle. Kurz zuvor hatte eine Kaltfront das heiße Sommerwetter weggefegt. Das Gebäude des Flughafens Domoderowo erwies sich als hochmodern und strahlte internationale Geschäftigkeit aus.
Bei der anschließenden Busfahrt zum Hotel wurde uns schnell klar, dass in Russland andere Dimensionen gelten: Der Flughafen liegt einige Dutzend Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Große Birkenwälder säumten die autobahnähnliche Straße, die bald immer dichteren Verkehr aufnehmen musste. Ältere Automodelle aus der Sowjetzeit fehlten fast völlig, dafür dominierten japanische Typen wie Honda, Nissan und Toyota. Aber auch deutsche Marken (vor allem Volkswagen und Mercedes) waren vertreten. An den Tankstellen freilich würden deutsche Autofahrer vor Neid erblassen: Der Liter Normalbenzin kostet zur Zeit 25 Rubel – umgerechnet etwa 75 Cent..
Am Stadtrand passierten wir einige Datschensiedlungen. Hier hat sich die reiche Oberschicht niedergelassen und mit hohen Betonzäunen hermetisch von der Außenwelt abgeschottet. Die starken sozialen Gegensätze in Russland fallen deutlich ins Auge, wenn man danach die riesigen Wohnsilos der Trabantenstädte durchfährt, denn von vielen Hochhäusern blättert bereits der Putz von den Wänden, während einige Meter entfernt hochmoderne Glaspaläste und Einkaufszentren hochgezogen worden sind. Eine besondere Art von Gebäuden ist jedoch stets glanzvoll herausgeputzt – die Kirchen. Auch 70 Jahre Kommunismus haben den christlichen Glauben nicht ausgelöscht, und für die liebevolle Pflege sowohl historischer als auch neuzeitlicher Kirchenbauten scheuen die Gläubigen offenbar weder Zeit noch Mühe. Nach eineinhalbstündiger Fahrt erreichten wir das riesige Hotel „Cosmos“, wo wir uns einquartierten. Der Name passte gut zu unserer Reise, und wenige hundert Meter davon entfernt erblickte man das Kosmonauten-Denkmal, das zu Ehren der ersten Weltraumfahrer Juri Gagarin, German Titow und Valentina Tereschkowa errichtet wurde.
Gleich am ersten Abend lernten wir eine erste Moskauer Attraktion kennen, die unterirdisch liegt. Gemeint sind die prunkvollen Metro-Stationen, die vor allem in der Stalin- und Chruschtschow-Ära entstanden und dem Volk den (angeblichen) neuen Wohlstand im Sozialismus vorspiegeln sollten.
Am 29. Juli wurden wir zum Roten Platz gefahren, besichtigten das Kaufhaus GUM und später den Kreml. Vor allem die altehrwürdigen Kirchen hinterließen auf uns einen tiefen Eindruck, aber auch die Rüstkammer war einen Besuch wert. Überhaupt macht das Stadtzentrum von Moskau einen sauberen und gepflegten Eindruck. Viele alte Häuser und Paläste sind restauriert worden oder werden zur Zeit instand gesetzt. Bei aller Bauwut in den Außenbezirken gehen die Russen dennoch sehr gewissenhaft mit dem historischen Erbe ihrer Hauptstadt um.
Am 30. Juli flogen wir weiter nach Nowosibirsk. Inzwischen waren auch die übrigen Reiseteilnehmer zu uns gestoßen, darunter auch Matthias Wirth, der ebenfalls (zusammen mit Dr. Zekl) mit der astrononmischen Betreuung der Gruppe betraut war. Auch der Nowosibirsker Flughafen liegt etwa 25 Kilometer von der Stadt entfernt, deren Hochhäuser in der Ferne zu sehen waren. Im Gegensatz zu Moskau ist Nowosibirsk eine junge Stadt, denn sie wurde erst vor etwa 120 Jahren gegründet. Man nennt sie auch das „russische Chicago“- und dieser Titel ist berechtigt. Denn nach der Oktoberrevolution gab es eine stürmische Aufwärtsentwicklung, so dass die Einwohnerzahl heute zwei Millionen beträgt. Auch heute ist in dieser drittgrößten Stadt Russlands noch der Pioniergeist lebendig. Neben zunehmend verfallenden Plattenbauten schießen immer mehr gewaltige Hochhäuser empor – manche Außenbezirke wirken wie eine einzige riesige Baustelle. Der Bauboom hat aber auch eine Kehrseite: Nicht weit von den hochmodernen Wohnsilos stehen Viertel mit elenden Holzhäusern, in denen die Armut mancher Bevölkerungsteile auf erschreckende Weise sichtbar wird. Es gibt auch protzige Luxusvillen – erbaut von Geschäftsleuten, die ihren Reichtum oft auf fragwürdige Weise erworben haben.
Das Stadtzentrum von Nowosibirsk wirkt infolge seiner Architektur, die noch größtenteils auf die Sowjetzeit zurückgeht, relativ kalt und unpersönlich, wird aber inzwischen durch viele moderne und farbig gestaltete Hochhäuser und Glasbauten aufgelockert. Es gibt auch noch einige schöne Bauwerke aus der Zeit um 1900, darunter die Alexander-Newski-Kathedrale, die Christi-Verklärungs-Kathedrale und die Markthalle neben dem Theaterplatz. Wieder aufgebaut wurde die kleine Nikolauskapelle am Krasnyi-Prospekt. Sie stellt den geographischen Mittelpunkt Russlands dar und wird häufig von Brautpaaren aufgesucht.
Nach einer reizvollen Bootsfahrt auf dem Fluss Ob, der hier immerhin schon einen halben Kilometer breit ist (vergleichbar mit dem Rhein bei Köln), ging es weiter nach Akademgorodok. Dieser Vorort von Nowosibirsk wurde 1957 zur wissenschaftlichen Erschließung Sibiriens gegründet und ist bis heute ein bedeutendes Forschungszentrum. Wir besuchten zunächst das Eisenbahn-Museum mit zahlreichen historischen Lokomotiven und Waggons der Transsibirischen Eisenbahn und wurden dann von einer älteren, aber sehr vitalen Wissenschaftlerin durch die geologischen Sammlung der Universität geführt. Neben zahllosen kostbaren Mineralien und Edelsteinen zählte auch eine Eisen-Nickel-Meteorit zu den Exponaten. Viele von uns hatten wohl erstmals Gelegenheit, einen solchen Stein aus dem All in die Hand zu nehmen.
Und dann war endlich der langersehnte „Tag X“ gekommen – der 1. August! Der erste Blick nach dem Aufwachen ging natürlich zum Fenster hinaus. Erwartungsgemäß hatte sich der Himmel nach den nächtlichen Regenschauern wieder etwas aufgeklart, war aber immer noch ziemlich verschleiert. Im Zenitbereich sah man größere Lücken mit blauem Himmel, auch die Sonne zeigte sich bald nach dem Aufgang. Insgesamt war die Wetterlage also erheblich günstiger als 1999 in Deutschland. Trotzdem sah es wieder verdächtig nach einem Lotteriespiel aus.
8.00 Uhr: Die ersten Mitglieder unserer Reisegruppe inspizieren vor dem Hotel skeptisch den Himmel. Bis 9 Uhr haben die meisten von uns gefrühstückt. Inzwischen hat sich das Wetter weiter gebessert. Zwar ziehen von Westen her noch immer größere Felder mit Zirrus- und Altocumuluswolken heran, aber die Sonne scheint meistens und viel blauer Himmel ist zu sehen. Der russische Wetterbericht hat am Abend zuvor für den Vormittag des 1. August bedecktes Wetter, aber für den Nachmittag Sonnenschein vorausgesagt. Wir hoffen inständig, dass diese Prognose zutrifft.
10.00 Uhr: Wir treffen uns in einem Saal des Hotels, wo uns Dr. Zekl einen Vortrag über das Thema Sonnenfinsternis hält und anschließend noch einen kleinen Film über die totale Sonnenfinsternis vom 29.März 2006 zeigt, der in Nordägypten mit einer Web-Kamera aufgenommen wurde. Wir haben tags zuvor von einer russischen Familie (die mit einem Mitglied des Hotelpersonals bekannt ist) das verlockende Angebot bekommen, gegen einen kleinen Obulus die Sonnenfinsternis vom Dach eines 16-stöckigen Hauses im Stadtzentrum von Nowosibirsk zu beobachten. Vor allem Ralf Wittmann und Matthias Wirth sind begeistert von dieser Idee, aber sie findet doch keine ungeteilte Zustimmung. Um die Gruppe nicht auseinanderzureißen, einigen wir uns darauf, alle zusammen in unserem Hotel am Stadtrand zu bleiben und dort die Finsternis mitzuverfolgen. Ausdrücklich wird nochmals darauf hingewiesen, dass die Sonne – außer bei der Totaltät – nur durch Schutzbrillen beobachtet werden darf.
12.00 Uhr: Der Vortrag ist zu Ende und eine prickelnde Spannung macht sich schon breit. Das Wetter bessert sich weiter, die Zirruswolken werden immer dünner, so dass die Sonne fast ungedämpft durchscheinen kann. Der Himmel ist jetzt größtenteils klar. Wenn es so bleibt, sieht es günstig aus.
14.30 Uhr: Es bleibt weiterhin windig, und von Westen ziehen wieder dickere Kumuluswolken heran, die häufig die Sonne verdecken. Die Zirruswolken haben sich jedoch aufgelöst und die dickeren Wolken sind vermutlich durch die mittägliche Erwärmung entstanden. Es bleibt zu hoffen, dass sie am späten Nachmittag wieder abnehmen, wenn die Sonneneinstrahlung nachlässt. Noch sind bis zum Finsternisbeginn zwei Stunden Zeit.
16.00 Uhr: Das Wetter scheint weiterhin mitzuspielen. Es ziehen zwar weiterhin Schönwetterwolken durch, aber sie geben immer wieder den Blick zur Sonne frei, so dass man zeitweilig klare Sicht hat. Unsere Astro-Spezialisten haben bereits ihre Fotokameras installiert und beginnen mit dem Aufbau der Teleskope.
16.45 Uhr: Der Countdown läuft! Der erste Kontakt wird registriert, der Mond beginnt, sich in die Sonne hineinzuschieben. Die Wolkenzahl ist tatsächlich geringer geworden, aber der Wind hat sich noch verstärkt und stört zuweilen beim Fotografieren. Die ersten Bilder der partiellen Phase werden aufgenommen.
17.20 Uhr: Die Sonne ist bereits zu 60 % verfinstert und erscheint als Sichel. Das Licht hat schon merklich abgenommen. Das Wetter ist jetzt optimal, der Himmel wird immer wolkenärmer.
17.30 Uhr: Allmählich legt sich eine eigentümlich dämmerige Stimmung über die Landschaft, die Farben verblassen oder erscheinen seltsam verfremdet. Ich habe mein 500-mm-Teleobjektiv mit einer Schutzfolie überzogen, die mir Dr. Zekl freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat und mache einige Bilder von der immer schmaler werdenden Sichel. Dann befestige ich die Fotokamera mit einem Ledergürtel an meinem Fernrohr und zurre sie möglichst fest, um von der totalen Phase möglichst scharfe Aufnahmen zu bekommen.
17.41 Uhr: Dr. Zekl ruft uns zu: „Noch zwei Minuten bis zur Totalität!“ Eilig werden die letzten Vorbereitungen getroffen, denn jetzt naht der Höhepunkt des kosmischen Schattenspieles. Ein Reiseteilnehmer hat eben schon die Venus ausfindig gemacht – sie ist deutlich zu sehen, wenn man die Hand vor die Sonne hält. Nun wird es rasch immer dunkler. Der Mondschatten rast heran, man sieht blassgraue Streifen über das weiße Tuch wirbeln, das wir auf der Hotelterrasse ausgebreitet haben. Und dann geht in Sekundenschnelle über Nowosibirsk das Licht aus. Von der Stadt her ist ein vielstimmiger Jubelschrei zu hören – so als wäre bei der Fußball-WM ein entscheidendes Tor gefallen. Denn nun sieht man sie tatsächlich – die „Schwarze Sonne“. Der phänomenale Anblick dieses Naturereignisses ist mit Worten und Bildern nicht zu beschreiben – man muss es selbst erlebt haben. Die Sonne wirkt keineswegs völlig schwarz; vielmehr erscheint der Mond tief dunkelblau, was wohl auf den Erdschein zurückzuführen ist. Ringsum sieht man in zartem Weißgelb die wogende Korona, die diesmal recht klein ausfällt. Wir haben auch das Glück, mehrere Protuberanzen am Sonnenrand zu sehen. Deutlich sind die Venus, der Merkur und einige helle Fixsterne zu sehen. Ich mache einige Aufnahmen mit der Kamera, aber zu meinem Ärger löst sich beim Verstellen der Belichtungszeit der Gürtel. Schnell reiße ich den Fotoapparat los und schieße freihändig noch einige Aufnahmen. Zum Glück bleibt danach noch eine kurze Zeitspanne, um den überwältigenden Himmelsanblick zu genießen. Dann ruft Dr. Zekl schon warnend: „Achtung! Der Diamantring baut sich auf!“ Für Sekunden blitzt ein vielfarbig schimmernder Ring um die Sonne auf – und dann ist der Spuk auch schon vorbei. Nur zweieinhalb Minuten hat die totale Verfinsterung gedauert. Das Licht kehrt schnell zurück und wir haben schnell wieder unsere Schutzbrillen aufgesetzt. Im südlicher Richtung sieht man noch wie eine drohende Gewitterwand den entschwindenden Mondschatten. Dann beginnt der während der totalen Phase eingeschlafene Wind wieder kräftig zu wehen und einige von uns verfolgen noch den Ausklang der Finsternis.
17.50 Uhr: Mittlerweile hat sich eine euphorisch-gelöste Stimmung unter den Reiseteilnehmern verbreitet. Alle sind froh und glücklich darüber, dass die Finsternis so perfekt beobachtet werden konnte und tauschen lebhaft ihre Eindrücke aus. Das Hotelpersonal hat inzwischen Sekt herbeigebracht und wir stoßen gemeinsam an „auf die Sonnenfinsternis 2008“.
Am nächsten Tag fliegen wir über Moskau nach St. Petersburg, der letzten Station unserer Reise. Diese Stadt wurde zwar erst 1703 gegründet, aber sie hat eine solche Fülle an Sehenswürdigkeiten aufzuweisen, dass wir am 3. und 4. August nur die wichtigsten davon besuchen konnten. Dazu gehörten das Winterpalais und die Eremitage mit der weltberühmten Gemäldesammlung, das Schloss Peterhof und der Katharinenpalast mit dem legendären Bernsteinzimmer. Von besonderem Interesse war natürlich die historische Sternwarte von Pulkowo. Sie wurde im Jahre 1839 im Auftrag von Zar Nikolaus I. Gegründet. Das Konzept entwarf der deutsche Astronom Friedrich Georg Wilhelm Struve (1793-1864), der auch zugleich erster Direktor der neuen Sternwarte wurde. Auch seine Söhne und Enkel wirkten teilweise in Pulkowo als Astronomen. Im 19. Jahrhundert gehörte diese Sternwarte zu den bedeutendsten der Welt. Haute macht die recht weitläufige Anlage allerdings einen äußerlich ziemlich heruntergekommenen Eindruck und müsste dringend renoviert werden. Auch die Parkanlagen ringsum sind meist verwildert. Sehr schön gestaltet ist jedoch das kleine Museum im Innern des Hauptgebäudes, das zahlreiche alte Gemälde, historische Teleskope und andere astronomische Beobachtungsgeräte enthält. Ein Teil der Anlage, wie zum Beispiel ein großer 65-cm-Refraktor, ein Sonnen- und ein Radioteleskop sind noch heute für die wissenschaftliche Forschung im Einsatz und wurden uns teilweise vorgeführt. Wie so häufig, fehlt es an Geld, um dieses bedeutende Insitut wieder in guten baulichen Zustand zu versetzen. Dies wäre eine lohnende Aufgabe für einen deutsch-russischen Förderverein!
Bei der Heimfahrt zum Hotel erfuhren wir von Dr. Zekl noch viele interessante Einzelheiten über das Wirken der Astronomendynastie Struve, die Bahnbrechendes auf dem Gebiet der Doppelstern-Erforschung, der Entfernungsmessung bei Fixsternen und der Geodäsie geleistet hat und erst 1963 mit dem Tode des Struve-Urenkels Otto Struve ausstarb.
Am 5. August flogen wir mit der Lufthansa wieder nach Deutschland zurück. Damit endete die Sonnenfinsternis-Erlebnisreise, die für alle Teilnehmer sicher ein unvergessliches Erlebnis war.
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