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Tellspotting in Syrien

Die letzten zehn Tage führten Philipp, Francis und mich in einem Mietwagen quer durch den Osten und Norden Syriens, und mich damit zu einem echten Höhepunkt der Reise: in der Jezirah, der brettebenen fruchtbaren Ebene zwischen Euphrat und Khabour, die wir zwei Tage lang durchfuhren, bilden Tellsiedlungen die einzigen Landmarken am Horizont.

Tells sind grob gesagt Hügel, die sich durch Hausreste und Abfälle bilden, wenn Siedlungen immer wieder am selben Ort übereinander gebaut werden, und zu den Problemen ihrer genauen Definition, ihrer Forschungsgeschichte und Verbreitung im Neolithikum kann man inshallah nicht allzu lang nach meiner Rückkehr auch mein Buch lesen …

Zwar waren seit dem Beginn meiner Reise immer wieder Tells auf unserem Besichtigungsprogramm, in der Jezirah aber ist die Landschaft mit ihnen gespickt: die Formulierung "dotted with tells" gehoert seit Austen Henry Layards und Vere Gordon Childes Zeiten zu den feststehenden Topoi jeder Beschreibung dieser Landschaft in der englischsprachigen archäologischen Reiseliteratur.

Wir starteten bei Sonnenaufgang nach einer Nacht in Deir ez-Zor am Euphrat, und zunächst begann der Tag wenig verheißungsvoll: eine schnurgerade Strasse nach Osten führte uns an den Khabour und von dort nach Tell Scheich Hamad, einer Grabung der FU Berlin unter Prof. Dr. Hartmut Kühne. Unseres Jordanienausflugs wegen hatten wir den Platz nicht besuchen können, während dort gearbeitet wurde, aber ein Junge namens Amin aus dem Dorf führte uns vor, wozu Tells noch gut sein können: mit halsbrecherischem Tempo und flatternder Galabiya raste er auf einem alten Fahrrad die Tellflanken hinunter! Von der Höhe des Hügels aus konnten wir endlich die nächsten Tells bereits am Horizont erkennen, und von da an bestand unsere Konversation im Auto hauptsächlich aus Sätzen wie: "Schaut mal rechts, ein Tell!" – "Halblinks, da kommt ein flacher!" "Achtung, hinter uns, da war ein ganz dicker!" Andrew Sherratt von der Universität in Oxford hat dieses Freizeitvergnügen einmal "tellspotting" genannt.

Es war noch früh am Tag, und der Tank war voll, also fuhren wir weiter ins Blaue nach Tell Brak. Unsere Karte war recht schlecht, wir wurden langsam unsicher, und am Horizont tauchte eine riesige Anhöhe auf. Meine Frage, ob das gar ein Tell sein könnte, wurde von Francis mit "Nee, das ist ein Berg …" quittiert. "Francis, bist Du sicher?" – "Ja …". Ich habe noch ein bisschen zweifelnd gegrunzt, aber als die Anhöhe auch nach weiteren zehn Minuten Fahrt nicht kleiner schien, habe ich klein beigegeben und mich der Bergtheorie angeschlossen. Als wir etwas später wieder nach links blickten, blieb uns allen die Spucke weg: es war doch ein Tell! Tell Brak, der größte und höchste (45m!) Siedlungshügel Nordsyriens.

Er wird derzeit von einem Team aus Chicago und Cambridge unter Dr. Augusta McMahon gegraben, die u.a. nach der frühesten Besiedlung des Hügels im Neolithikum suchen, und obwohl wir völlig unangekündigt aufgetaucht waren, bekamen wir eine Führung, Kaffee und Wegbeschreibungen zu weiteren gerade laufenden Grabungen. Vom berühmten Tempel mit den Augenidolen der Jemdet Nasr-Zeit (ca. 3000 v. Chr.), den Max Mallowan hier in den 1930er Jahren ergraben hat, ist allerdings nur noch ein unförmiges Loch zu sehen … Weiter ging es nach Tell Barri. Wir blickten mit Schaudern in den tiefsten nicht abgetreppten oder verschalten Grabungsschnitt durch einen Siedlungshügel, den ich je gesehen habe, und erfuhren erst später, dass der Leiter der Grabung genau hier im letzten oder vorletzten Sommer durch einen Sturz zu Tode gekommen ist.

Unsere letzte Station war Tell Chagar Bazar, der eng mit der Romanze zwischen Agatha Christie und Max Mallowan verwoben ist: die Krimiautorin begleitete den viel jüngeren Archäologen nach Syrien, wo die Idee zu "Murder in Mesopotamia" und mit dem Gedicht "A-sitting on a tell" an Mallowan eines der charmantesten Beispiele archäologischer Liebeslyrik entstanden. Zudem übernahm die Christie gerne die photographische Dokumentation und die Bearbeitung der Funde. Entsprechend notwendig ist eine Neubearbeitung der Stratigraphie und Keramikchronologie, die sich das Grabungsteam um Prof. Dr. Önhan Tunca aus Liege sich vorgenommen hat! Auch hier bekamen wir eine hochinteressante Führung über die Grabungsschnitte und erreichten am Abend Kamishli an der türkischen Grenze.

An ihr entlang fuhren wir am nächsten Tag nach Tell Mozan (Urkesh), wo ich kopfschüttelnd vor dem luxuriösen Grabungshaus der Mannschaft um Prof. Giorgio Bucellati stand. Natürlich stehen Grabungshäuser oft direkt in den Fundstätten, aber das war sicher die größte Unterkunft, die ich bisher gesehen habe. Setzt es eigentlich die richtigen Zeichen, wenn man in einem Land, in dem ständig Tells durch Eisenbahnlinien, Landwirtschaft, Staudämme und sich vergrößernde Dörfer zerstört werden, als Archäologe auf Tells baut? Oder soll man in archäologischem Dimensionen denken und das alles zum natürlichen Weiterleben eines Tells zählen?

Unser letzter Halt galt dem durch die Grabungen Max von Oppenheims berühmten Tell Halaf, dessen in Berlin ausgestellte Skulpturen 1943 bei einem Luftangriff zerstört wurden, bevor wir die lange Autobahnstrecke nach Westen in Richtung Aleppo einschlugen. Dort schließlich klang der Ausflug stilvoll bei einem Bier in der Bar des Hotel Baron in Aleppo aus, wo es sich auch schon so illustre Leute wie T.E. Lawrence, als er noch Archäologe war, und natürlich auch Mallowan und Christie haben gut gehen lassen.

Eva

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