Der Mathematische Monatskalender: Galileo Galilei (1564–1642): Seiner Zeit voraus
Galileo Galilei wächst zunächst im Hause seiner Eltern in der Nähe von Pisa auf. Als er acht Jahre alt ist, ziehen diese nach Florenz; der Junge bleibt während der nächsten zwei Jahre bei einer Verwandten der Mutter. Danach wohnt er wieder vorübergehend bei seinen Eltern, besucht eine Klosterschule in der Nähe, bis er selbst den Entschluss fasst, als Mönch in den Orden einzutreten – was seinem Vater, ein Musikgelehrter, nicht gefällt. Dieser besteht darauf, dass sein Sohn Arzt werden soll – wie einer seiner Vorfahren. Mit 17 Jahren wird Galileo wieder nach Pisa geschickt, und er beginnt dort ein Medizinstudium – wesentlich mehr interessieren ihn jedoch die Beifächer, Mathematik und Naturphilosophie (Naturwissenschaften).
Galilei hört Vorlesungen über die Werke von Euklid und Archimedes bei Ostilio Ricci, einem Schüler von Nicolo Tartaglia (1500–1557), während sein Vater ihm die Schriften des griechischen Arztes Galenos (129–216) ans Herz legt. Ricci versucht, zunächst mit geringem Erfolg, den Vater von dessen Zukunftsplanungen abzubringen. Als Galilei 21 Jahre alt ist, verlässt er die Universität ohne Abschluss und beginnt eine Tätigkeit als Mathematiklehrer in Siena. 1586 verfasst er eine erste größere Schrift (»La Balancetta«), in der er darlegt, wie man das spezifische Gewicht eines Körpers mit Hilfe der von ihm erfundenen hydrostatischen Waage bestimmen kann.
Im darauf folgenden Jahr besucht er Christopher Clavius, Mathematiker am Collegio Romano, der Hochschule der Jesuiten in Rom, und verantwortlich für die (Gregorianische) Kalenderreform, und beeindruckt diesen mit seinen Untersuchungen über die Schwerpunktbestimmung von Körpern. Aufgrund der mittlerweile erlangten Reputation, aber auch der Empfehlungen durch Clavius, darf er ab 1589 an der Universität von Pisa Vorlesungen über Mathematik halten, vor allem über die Geometrie des Euklid.
Er beschäftigt sich mit Problemen der Bewegung von Körpern. In einer nicht veröffentlichten Schrift aus dem Jahr 1589 (»De Motu«) widerlegt er in einem Gedankenexperiment die Lehre des Aristoteles, nach der schwere Körper schneller fallen als leichte: Angenommen, ein Objekt A ist schwerer als ein Objekt B; dann würde A schneller fallen als B. Betrachtet man die Vereinigung der beiden Objekte, dann würde diese langsamer fallen als das Objekt A allein, denn B hemmt A. Andererseits ist die Vereinigung von A und B schwerer als A, muss also schneller fallen als A – was ein Widerspruch ist.
1592 wechselt Galilei für die kommenden 18 Jahre auf einen Lehrstuhl für Mathematik an der Universität von Padua (Republik Venedig), die ihm ein deutlich höheres Gehalt zahlt. Seine Einkünfte bessert er noch durch den Verkauf eines von ihm erfundenen Proportionszirkels auf (als Rechenhilfsmittel und für Vergrößerungen / Verkleinerungen von Zeichnungen).
Während seiner Zeit in Padua lebt er mit Maria Gamba, seiner Haushälterin, zusammen; aus der Beziehung gehen drei Kinder hervor. Er heiratet sie allerdings nicht, weil er seine finanzielle Situation als nicht genügend gesichert empfindet. Die beiden Töchter treten später in ein Kloster ein, da sie, als außerehelich Geborene, nicht standesgemäß heiraten können; den Sohn legitimiert er, als Maria Gamba einen anderen Mann heiratet.
Als ihn im Mai 1609 die Informationen über das Fernrohr erreichen, das der Holländer Jan (Hans) Lippershey erfunden hat, baut er dieses Instrument nach, experimentiert mit den Abmessungen und schleift eigene Linsen; schließlich gelingt es ihm, ein Teleskop zu bauen, das eine neunfache Vergrößerung hat.
Galilei erkennt den wirtschaftlichen und militärischen Nutzen des von ihm als »perspicillum« bezeichneten Geräts und verkauft das alleinige Recht, ein solches Teleskop herzustellen, an die venezianische Regierung. Diese stellt jedoch bald die Wertlosigkeit des mit Galilei abgeschlossenen Vertrags fest und friert die Zahlungen an ihn ein.
Im Mai 1610 veröffentlicht er im »Sidereus Nuncius« (»Sternenbote«): Es gibt Berge auf dem Mond, die Milchstraße besteht aus einzelnen Sternen, der Jupiter wird von vier kleinen Körpern umkreist, die er als »Medici-Sterne« bezeichnet, um die Gunst von Cosimo von Medici, des neuen Großherzogs der Toskana, zu erlangen. Dieser ernennt Galilei zu seinem Hofmathematiker und Hofphilosophen und zum obersten Mathematiker der Universität von Pisa – ohne Lehrverpflichtungen. Galilei wird im Collegio Romano wegen seiner Entdeckungen gefeiert und erhält den Ehrentitel als Mitglied der »Accademia dei Lincei«.
Dann beobachtet Galilei, dass die Venus zeitweise »hinter« der Sonne, zeitweise »vor« der Sonne steht, woraus folgt, dass die Venus die Sonne umkreist und nicht die Erde – dies ist zwar noch kein Beweis für die Richtigkeit der Theorien des Nikolaus Kopernikus (1473–1543), aber ein weiteres wichtiges Indiz. Das Phänomen lässt sich nämlich auch durch die (von den Jesuiten in Rom favorisierten) Theorien des Tycho Brahe (1546–1601) erklären, in dessen System sich die Sonne und der Mond um die Erde drehen, die übrigen Planeten jedoch um die Sonne.
Galilei gerät in einen – mit großer Polemik ausgetragenen – Prioritätenstreit mit dem Jesuiten Christoph Scheiner wegen der Entdeckung der Sonnenflecken. Darüber hinaus hält Scheiner – wegen der Vollkommenheit der Sonne – die beobachteten Punkte für Satelliten der Sonne; Galilei dagegen schreibt in seinen in italienischer Sprache verfassten »Lettere solari«, dass die Flecken »entstehen und vergehen«.
Zunächst vermeidet er öffentliche Stellungnahmen zur Gültigkeit des Kopernikanischen Weltbildes, gerät jedoch ins Visier der Inquisition, als eine gefälschte Abschrift eines Brief an seinen Schüler Castelli an die Inquisition weitergeleitet wird: Galilei betont in einer Klarstellung, dass die Bibel kein astronomisches Lehrbuch sei und dass Beobachtungen von natürlichen Erscheinungen keine Gefahr für den Glauben darstellen können, sondern den Glauben nur vervollständigen, weil beides, Natur und göttliche Offenbarung, Teil der göttlichen Wahrheit seien.
Es gelingt ihm durch spektakuläre Experimente, Lehren des von der Kirche als unfehlbar dargestellten Aristoteles zu widerlegen: Er bestimmt das spezifische Gewicht von Luft (welche nach Aristoteles kein Gewicht haben soll) und kann erklären, warum Eis auf Wasser schwimmt (Aristoteles gab als Grund die Flachheit an).
Im Jahr 1600 war Giordano Bruno wegen seiner nicht kirchen-konformen Ansichten hingerichtet worden. Der Großinquisitor im damaligen Häresieprozess, der mächtige Kardinal Bellarmino, sieht noch keinen Anlass, gegen Galilei einzuschreiten, denn das Kopernikanische System ist für ihn nur eine elegante mathematische Theorie, mit deren Hilfe man die Bewegung der Himmelskörper vielleicht besser beschreiben kann als mit dem Ptolemäischen. Als jedoch Galilei im Jahr 1616 in einem Brief an die Großherzogin die Lehre des Kopernikus als physikalische Realität bezeichnet, wird er durch Bellarmino belehrt, dies zukünftig zu unterlassen.
1623 veröffentlicht Galilei das Werk »Il saggiatore« (Die Goldwaage), in dem er seine Ansichten zu wissenschaftlicher Forschung darlegt. Er widmet es dem neu gewählten Papst Urban VII, der lange zu seinen Bewunderern gehörte. Nach Galileis Überzeugung ist es die Aufgabe der Mathematik in den Naturwissenschaften, Prozesse zu beschreiben. Das Buch enthält die berühmten Worte: »Die Philosophie steht in diesem großen Buch geschrieben, dem Universum, das unserem Blick ständig offen liegt. Aber das Buch ist nicht zu verstehen, wenn man nicht zuvor die Sprache erlernt und sich mit den Buchstaben vertraut gemacht hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und deren Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen nicht möglich ist, ein einziges Wort zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum.«
Mehrere Audienzgespräche mit Urban VII verlaufen in angenehmer Atmosphäre, so dass Galilei den Eindruck hat, dass er zukünftig nicht mit ernsthaften Konsequenzen der Kirche zu rechnen hat.
So beginnt er die Arbeit am »Dialogo sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano« (Dialog über die zwei wichtigsten Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische). Um der Inquisition keine Angriffsfläche zu bieten, wählt Galilei die Form eines Dialogs zwischen einem Anhänger des Kopernikanischen Systems und einem Philosophen aus der Schule des Aristoteles; so könnte er immer rechtfertigen, dass er in der Schrift nicht die Lehren des Kopernikus vertritt, sondern nur eine Hypothese vorstellt.
Allerdings provoziert er dadurch, dass die Rolle des Vertreters des Ptolemäischen Systems durch einen Menschen mit offensichtlich beschränktem Verstand wahrgenommen wird (er trägt den Namen Simplicio). Nicht zuletzt verscherzt er sich auch die Sympathien des Papstes dadurch, dass er über dessen Meinung spottet, Gott könne auch Dinge bewirken, die einer Ursache widersprechen.
Auffallend ist, dass Galilei die Auseinandersetzung mit dem braheschen Modell im »Dialogo« vermeidet und auch das keplersche Modell der elliptischen Umlaufbahnen (veröffentlicht im Jahr 1609) nicht in Erwägung zieht, obwohl sie deutlich bessere Vorhersagen hinsichtlich der Planetenbahnen ermöglicht. Für Galilei ist die Rotation der Erde die Ursache für das Auftreten der Gezeiten – kurioserweise hält er diese falsche Erklärung für das überzeugendste Argument, das im »Dialogo« zugunsten des Kopernikanischen Systems enthalten ist.
Der »Dialogo« gehört zu den wichtigsten Büchern der Physikgeschichte – nicht zuletzt, weil in ihm der heute als Galilei-Prinzip oder Relativitätsprinzip der Bewegung bezeichnete Grundsatz formuliert ist: Ein Naturgesetz muss so beschrieben werden, dass es für alle Beobachter unabhängig vom Bewegungszustand dieselbe Form hat. Galilei erläutert dies sehr anschaulich: Man beobachte unter Deck eines Schiffes Bewegungen, zum Beispiel schwimmende Fische in einem Gefäß, fliegende Mücken oder Schmetterlinge, fallende Tropfen, Bälle, die Passagiere einander zuwerfen: »Nun lasst das Schiff mit jeder beliebigen Geschwindigkeit sich bewegen: Ihr werdet – wenn nur die Bewegung gleichförmig ist und nicht hier- und dorthin schwankend – bei allen genannten Erscheinungen nicht die geringste Veränderung eintreten sehen. Aus keiner derselben werdet Ihr entnehmen können, ob das Schiff fährt oder stille steht.«
Der Verkauf der Schrift wird kurze Zeit nach Erscheinen durch die Inquisition verboten, und Galilei wird nach Rom einbestellt. Das Inquisitionstribunal wirft ihm vor, die Vereinbarungen aus dem Jahr 1616 nicht beachtet zu haben. Nachdem er seinen Fehlern abgeschworen hat, wird er nach einem mehrere Wochen dauernden Prozess wegen Ungehorsams zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt; dies wird jedoch bald danach in Hausarrest mit Verbot der Lehrtätigkeit umgewandelt. Später verbreitet sich das Gerücht, er habe beim Verlassen des Gerichtsaals die Worte »E pur si muove« (und sie bewegt sich doch) gemurmelt, was vermutlich nicht zutrifft.
Zunächst nimmt ihn der Erzbischof von Siena in seinem Hause auf; dann darf er in sein eigenes Haus in Arcetri (nahe Florenz) zurückkehren, wo er – bewacht von den Wächtern der Inquisition – bis zu seinem Tode lebt. Trotz aller Einschränkungen und Auflagen beginnt er mit der Arbeit an den »Discorsi e Dimostrazioni Matematiche intorno a due nuove scienze« (Diskussion und mathematische Beweise zu zwei neuen Wissenschaften), ein Werk, das nach Vollendung ins Ausland geschmuggelt und in Holland veröffentlicht wird.
Galilei vollendet in diesem Werk die Studien zur Kinematik, die er bereits um 1589 begonnen hat. Er analysiert den freien Fall als eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung, bei der die Masse des fallenden Körpers – im Vakuum – keine Rolle spielt.
Für seine Studien führt er Experimente an Schiefen Ebenen durch, die geniale Idee des »verlangsamten freien Falls« nutzend. Beispielsweise formuliert er Aussagen wie »Die Zeit, in der ein Objekt eine gewisse Strecke mit einer gleichmäßig beschleunigten Bewegung ab Stillstand zurücklegt, ist genauso groß wie die Zeit, in der das Objekt die Strecke mit einer gleichförmigen Geschwindigkeit zurücklegen würde, die halb so groß ist wie die maximale Geschwindigkeit bei gleichmäßig beschleunigter Bewegung«, um hieraus abzuleiten, dass die zurückgelegte Strecke proportional zum Quadrat der vergangenen Zeit ist. Erst später erhalten seine Aussagen die (algebraische) Form, die wir heutzutage gewohnt sind.
Im Gegensatz zu Aristoteles, der davon ausging, dass ein Körper natürlicherweise an Geschwindigkeit verliert, formuliert Galilei eine Gesetzmäßigkeit, die das erste Newtonsche Bewegungsgesetz vorwegnimmt: Ein Körper, der sich auf einer ebenen Fläche reibungsfrei bewegt, setzt diese Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit fort, solange er nicht gestört wird. Er erkennt, dass die Flugbahnen von Geschossen parabelförmig sind – die Bewegung setzt sich aus einer gleichförmigen horizontalen und einer vertikalen gleichmäßig beschleunigten Bewegung zusammen. Auch beschreibt er ein Experiment zur Messung der Lichtgeschwindigkeit mithilfe von wechselseitigen Laternensignalen, was sich jedoch in der Praxis als nicht realisierbar erweist.
In seinem letzten Werk beschäftigt er sich auch mit einem mathematischen Paradoxon, das erst durch Georg Cantor (1845–1918) geklärt wird: Im Zusammenhang mit dem Unendlichem hält Galilei die Eigenschaften »gleich«, »größer« und »kleine«“ nicht für anwendbar. Er schreibt: Man kann beispielsweise nicht sagen, dass bei zwei verschieden langen Strecken, die beide unendlich viele Punkte besitzen, das »Unendlich« der einen Strecke mehr ist als das »Unendlich« der anderen Strecke, nur weil sie unterschiedlich lang sind. Und auch kann man nicht sagen, dass es weniger Quadratzahlen als natürliche Zahlen gibt, obwohl nicht alle natürlichen Zahlen Quadratzahlen sind und es von beiden unendlich viele gibt.
Kurz vor seiner Erblindung im Jahr 1637 entdeckt Galilei noch die Libration des Mondes (scheinbare Taumelbewegung des Mondes, deshalb ist von der Erde aus nicht immer genau dieselbe »Seite« des Mondes zu sehen); seine Gedanken diktiert er seinen Assistenten (zuletzt Evangelista Torricelli). Als er stirbt, trauen sich seine Angehörigen nicht, ihn im Familiengrab in der Basilica von Santa Croce in Florenz zu bestatten – dies geschieht erst knapp 100 Jahre später.
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