Der Mathematische Monatskalender: Gotthold Eisenstein (1823–1852)
Carl Friedrich Gauß soll – wie der Mathematik-Historiker Moritz Cantor 1877 berichtet – kurz vor seinem Tod gesagt haben: Es hat nur drei epochenbildende Mathematiker gegeben: Archimedes, Newton und Eisenstein.
Es lässt sich nicht mehr überprüfen, ob dies tatsächlich so war, aber selbst wenn Gauß diesen Satz so nicht gesagt haben sollte, lässt sich aus vielen anderen Äußerungen des Princeps Mathematicorum (Fürst der Mathematiker) entnehmen, dass er eine hohe Meinung von Eisenstein hatte.
Gerade einmal 29 Jahre alt wurde dieser geniale Mathematiker; man kann nur ahnen, welche Leistungen er noch hätte vollbringen können, wenn er nicht so früh gestorben wäre.
Schon als Kind ist Gotthold Eisenstein häufig krank. Eine Meningitis-Infektion überlebt der älteste Sohn eines Berliner Kaufmanns so gerade noch, bleibt aber zeit seines kurzen Lebens anfällig für Erkrankungen. Alle fünf nach ihm geborenen Geschwister sterben in frühen Jahren, davon vier an Hirnhautentzündung. Die durchgehend schlechte körperliche Verfassung hindert ihn daran, auf der Straße mit gleichaltrigen Kindern zu spielen. Seine Mutter kümmert sich ängstlich um sein Wohlbefinden, bringt ihm die Buchstaben des Alphabets bei, als er gerade einmal zwei Jahre alt ist. Der Rechenunterricht in den ersten Schuljahren langweilt ihn, weil er nicht einsehen kann, warum man beispielsweise das Multiplizieren tagelang üben muss. Dagegen gefällt ihm alles, was sein logisches Denkvermögen herausfordert. Wegen seines Gesundheitszustandes wird er für einige Monate aufs Land geschickt, was ihn allerdings in der schulischen Entwicklung zurückwirft.
Im Alter von zehn Jahren wechselt Eisenstein auf ein Internat im ländlichen Charlottenburg (erst ab 1920 Teil von Berlin). Der militärische Drill der Schule und die spartanische Lebensweise tragen nicht dazu bei, seinen Gesundheitszustand zu verbessern, vielmehr zeigen sich bei ihm auch erste Anzeichen einer Depression. Später erinnert sich Eisenstein rückblickend und in Dankbarkeit an einen seiner Lehrer, weil der es verstanden hat, sein Interesse an der Mathematik zu wecken.
1837 wechselt Eisenstein an das Berliner Friedrich-Wilhelm-Gymnasium; sein Mathematiklehrer Schellbach erkennt die besondere Begabung; er fördert den 14-Jährigen und ermutigt ihn, sich selbstständig mit den Werken von Euler und Lagrange zur Differenzial- und Integralrechnung zu beschäftigen. Zur Prima wechselt Eisenstein an das Friedrich-Werder-Gymnasium und besucht gleichzeitig Vorlesungen von Peter Gustav Lejeune Dirichlet an der Berliner Universität.
Bevor er jedoch seine Schulzeit abschließen kann, zieht die Familie nach England um. Sein Vater, der mit seinen beruflichen Aktivitäten in Berlin bisher nur wenig erfolgreich war, will sein Glück in England versuchen. Auf der vergeblichen Suche nach einer geeigneten Tätigkeit reisen die Drei auch durch Wales und Irland. Gotthold vertieft sich in eine französische Übersetzung der Gauß'schen Disquisitiones arithmeticae und beginnt mit eigenen Untersuchungen.
In Dublin begegnet er William R. Hamilton, der ihn bittet, der Berliner Akademie eine von ihm verfasste Abhandlung zu überreichen: Über Abels Beweis der Unmöglichkeit, allgemeine Gleichungen höheren als vierten Grades zu lösen.
Im Juni 1843 kehrt Gotthold Eisenstein mit seiner Mutter nach Berlin zurück und beantragt, als Externer die Reifeprüfung absolvieren zu dürfen. Zur Zulassung verfasst er einen umfangreichen Lebenslauf, in dem er unter anderem darstellt, wie sich durch seine Beschäftigung mit den Schriften von Gauß, Jacobi und Dirichlet in ihm der Wunsch entwickelt hat, Mathematik zu studieren. Im September besteht er die Prüfung. Einer seiner Prüfer ist sein ehemaliger Mathematiklehrer Schellbach, der im Abiturzeugnis festhält: In der Mathematik reichen seine Kenntnisse weit über den Umfang des Gymnasialunterrichts hinaus. Sein Talent und sein Eifer berechtigen zu der Erwartung, dass er einst wesentlich zur Ausbildung und Erweiterung der Wissenschaft beitragen werde.
Ab Oktober besucht Eisenstein dann Vorlesungen an der Berliner Universität. Im Januar 1844 überreicht er der Akademie der Wissenschaften die Abhandlung Hamiltons zusammen mit einer eigenen Schrift: Die cubischen Formen mit zwei Variablen. Diese wird umgehend in Crelles Journal(Journal für die reine und angewandte Mathematik) veröffentlicht. Weitere Abhandlungen Eisensteins folgen; allein 1844 werden insgesamt 25 Beiträge in Crelles Journal abgedruckt.
Über August Leopold Crelle kommt auch ein erster Kontakt zu Alexander von Humboldt zustande, der sich von da an beständig um das persönliche Wohlergehen und die finanzielle Absicherung des hochbegabten Nachwuchswissenschaftlers kümmert. Mit einem Empfehlungsbrief Humboldts an Gauß reist Eisenstein nach Göttingen. Gauß ist hoch erfreut, den 21-Jährigen persönlich kennenzulernen, hatte er doch bereits vor dessen Anreise einige seiner Schriften gelesen.
Anfang Februar 1845 schlagen Ernst Eduard Kummer und Carl Jacobi der Universität Breslau vor, Eisenstein ehrenhalber zu promovieren. Noch im selben Monat wird der Student des 3. Semesters zum Dr. phil. h. c. promoviert!
Im Sommer 1845 verschlechtert sich der physische und psychische Gesundheitszustand Eisensteins dramatisch. Als er Anfang 1846 von Jacobi des Plagiats bezichtigt wird, kommt es für Eisenstein noch schlimmer: Ein Jahr nach seinem eigenen Vorschlag, Eisenstein zu promovieren, teilt der einflussreiche Jacobi dem preußischen Kultusminister mit, dass er Eisenstein im Hinblick auf eine akademische Laufbahn wegen dessen wissenschaftlichen Leichtsinns nur für wenig geeignet hält. (Eisenstein hatte in einer Abhandlung über elliptische Funktionen nicht ausdrücklich herausgestellt, welche Erkenntnisse von Jacobi stammten im Unterschied zu anderen Abhandlungen, in denen er detailliert die Vorleistungen von Gauß beschrieben hatte.)
Gauß, der Eisensteins Begabung weiterhin als eine besondere einschätzt, welche die Natur in jedem Jahrhundert nur wenigen erteilt, versucht das beschädigte Ansehen Eisensteins in der akademischen Welt zu korrigieren. Ende 1846 macht Humboldt seinen ganzen Einfluss geltend, um Eisenstein von der drohenden Einziehung zum Militär zu befreien.
Im Mai 1847 habilitiert sich Eisenstein an der Berliner Universität, was nach der geltenden Regelung eigentlich frühestens 1849 möglich gewesen wäre. Als Privatdozent hält er vom Sommersemester an Vorlesungen; einer seiner ersten Hörer ist Bernhard Riemann. Im September erscheinen seine Sammlung Mathematische Abhandlungen besonders aus dem Gebiet der Höhern Arithmetik und der Elliptischen Funktionen, zu der Gauß ein Vorwort verfasst.
Im März 1848 gerät Eisenstein zufällig in Kampfhandlungen während der sogenannten Märzrevolution; nach seiner Verhaftung wird er in der Spandauer Zitadelle misshandelt. Zwar erfolgt seine Freilassung schon am folgenden Tag, aber aufgrund von Verleumdungen als angeblicher Anhänger der Republikaner wird die ihm bewilligte staatliche Unterstützung von jährlich 500 auf 300 Taler reduziert (ab 1850 aufgrund der Bemühungen Humboldts wieder auf 400 Taler aufgestockt).
Eisensteins Gesundheitszustand verschlechtert sich; auch macht es ihm sehr zu schaffen, dass er seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann und dass er vom Wohlwollen anderer abhängt. An manchen Tagen muss er seine Vorlesungen vom Krankenbett aus halten (was wegen der niedrigen Studentenzahlen im Fach Mathematik möglich ist). Seine zahlreichen neuen Veröffentlichungen werden zunehmend sprunghafter in der Gedankenführung – aus heutiger Sicht gesehen, könnte man vermuten, dass er spürt, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt.
Im Januar 1851 wird er auf Vorschlag von Dirichlet und Jacobi (!) zum Mitglied der Berliner Akademie gewählt; die Wahl ist ohne Wirkung, weil drei Kandidaten gewählt werden, aber nur zwei Stellen frei sind. Erst ein Jahr später rückt er nach. Auf Vorschlag von Gauß erfolgt seine Wahl zum korrespondierenden Mitglied an der Göttinger Akademie (zusammen mit Kummer).
Im Sommersemester 1851 ist er nicht in der Lage, seine Vorlesungen zu halten; eine Kur (seine dritte) bleibt ohne Wirkung. Im Juli 1852 erleidet er aufgrund einer Tuberkulose-Erkrankung einen Blutsturz. Humboldt bemüht sich um eine Zuwendung für einen einjährigen Kuraufenthalt in Sizilien. Eisenstein ist jedoch nicht mehr in der Lage, die Reise anzutreten; am 11. Oktober stirbt er, einsam und verlassen.
Die ersten Veröffentlichungen Eisensteins ergaben sich aus seiner Beschäftigung mit den Disquisitiones arithmeticae. Ihm gelang es, einige der Entdeckungen seines großen Vorbilds Gauß zu verallgemeinern beziehungsweise vermutete Verallgemeinerungen zu beweisen, beispielsweise die Verallgemeinerung vom quadratischen zum kubischen und biquadratischen Reziprozitätsgesetz oder Erkenntnisse bei der Untersuchung kubischer und biquadratischer Formen.
Mit dem Namen Eisenstein sind verschiedene Begriffe der Mathematik verbunden:
- Eisenstein-Zahlen sind komplexe Zahlen der Form \(E = a + b \cdot \omega\), wobei \(a, b \in \mathbb{Z}\) und \( \omega=-\frac{1}{2} + \frac{\sqrt{3}}{2}i\ \ \) (\(\omega\) ist eine der Lösungen der sogenannten Kreisteilungsgleichung \(z^6 = 1\).)
In der Gauß'schen Zahlenebene bilden diese Zahlen ein Dreiecksgitter.
In der höheren Algebra wird der Begriff Primzahl in der Menge der natürlichen Zahlen auf den Begriff Primelement in anderen Zahlenmengen verallgemeinert. In der mittleren Abbildung sind einige Primelemente der unendlich vielen Gauß'schen Zahlen markiert, das sind komplexe Zahlen der Form \(G = a+b\cdot i\) mit \(a, b \in \mathbb{Z}\), in der Abbildung rechts einige Primelemente der Eisenstein-Zahlen.
- Das Eisenstein-Kriterium in der Algebra ermöglicht Aussagen hinsichtlich der Zerlegbarkeit von Polynomen mit ganzzahligen Koeffizienten \(a_0, a_1, ..., a_{n-1}, a_n\):
- \(p\) ist ein Teiler der Koeffizienten \(a_0, a_1, ..., a_{n-1}\),
- \(p^2\) ist kein Teiler des Koeffizienten \(a_0\),
- \(p\) ist kein Teiler des Koeffizienten \(a_n\).
Zu einem Polynom \(P(x)= a_nx^n+ ... + a_1x+a_0\ \ \) prüft man, ob es eine Primzahl \(p\) gibt mit den folgenden Eigenschaften:
Wenn diese drei Bedingungen erfüllt sind, dann lässt sich das Polynom nicht in Faktoren mit rationalen Koeffizienten zerlegen. (Wenn eine der Bedingungen nicht erfüllt sind, kann man ohne weitere Untersuchungen keine Aussage machen.)
Beispiel: Das Polynom \(P_{(x)} = x^3 − 3x^2 − 6x + 12\) hat keine rationale Nullstelle.
Leopold Kronecker, mit dem sich Eisenstein während dessen kurzem Aufenthalt an der Berliner Universität anfreundete, führte nach Eisensteins Tod dessen Zugang zu elliptischen Funktionen mithilfe von (heute so genannten) Eisenstein-Reihen weiter.
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