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Der Mathematische Monatskalender: Hermann Graßmann (1809–1877)

Hermann Graßmann war kein Wunderkind; erst spät kam seine Genialität zum Vorschein – und wurde zu seinen Lebzeiten kaum erkannt.
Hermann Graßmann (1809–1877)

Hermann Günther Graßmann wird als drittes von zwölf Kindern eines Gymnasiallehrers für Mathematik und Physik in Stettin geboren. Während seines Schulbesuchs fällt er nicht durch außergewöhnliche Leistungen auf; zeitweise erwägt sein Vater sogar, ihn ein Handwerk erlernen zu lassen. Gegen Ende der Schulzeit jedoch blüht der junge Mann auf: Als zweitbester Abiturient seines Jahrgangs verlässt Hermann Graßmann die Schule und nimmt in Berlin ein Studium der Theologie auf (beeinflusst durch den Großvater mütterlicherseits, der evangelischer Pfarrer ist). Er hört auch Vorlesungen in Philosophie und den alten Sprachen – Mathematik und Physik spielen keine Rolle.

Im Herbst 1830 kehrt er nach Hause zurück; mögliche Überlegungen, einmal als Pfarrer tätig zu werden, verfolgt er zunächst nicht weiter; vielmehr entscheidet er sich dafür, den Beruf als Lehrer für Mathematik und Physik am Gymnasium anzustreben.

Ein Jahr lang bereitet er sich auf die Prüfungen in Berlin vor – ohne jemals zuvor Vorlesungen in den Fächern gehört zu haben. Sein Kenntnisstand scheint der Prüfungskommission nicht genügt zu haben – er erhält nur eine Lehrerlaubnis für die unteren Klassen sowie die Option, die Prüfung zu wiederholen. Vom Frühjahr 1832 an ist er als Hilfslehrer am Gymnasium in Stettin tätig.

1834 absolviert er beim Rat der Lutherischen Kirche in Stettin die erste Stufe von Theologie-Prüfungen für angehende Pfarrer, entscheidet sich dann aber doch, in Berlin eine Stelle als Mathematiklehrer an der Gewerbeschule (eine Art Oberrealschule) zu übernehmen, die vorher Jakob Steiner innehatte. Nach einem Jahr wird er wieder an einem anderen Gymnasium in Stettin tätig und bereitet sich parallel dazu auf die Wiederholungsprüfung in Berlin vor.

1839 legt er die zweite Stufe der Theologie-Prüfungen ab, 1840 dann auch die Lehrer-Prüfung, die es ihm endlich erlaubt, Mathematik, Physik, Chemie und Mineralogie in allen Klassen des Gymnasiums zu unterrichten. Im Rahmen der Lehrer-Prüfung muss er eine schriftliche Arbeit vorlegen, als Thema wird ihm die Darstellung einer Theorie der Gezeiten gestellt. In seiner 200-seitigen Abhandlung Theorie der Ebbe und Flut stellt er die Grundlagen dar, wie sie Pierre-
Simon Laplace in der Méchanique céleste und Joseph-Louis Lagrange in der Méchanique analytique beschrieben hatten, allerdings benutzt er eine Darstellung mithilfe von Vektoren, die einen einfacheren Zugang ermöglicht. Zwar wird die schriftliche Arbeit von der Prüfungskommission angenommen, aber keiner der Mitglieder erkennt die Genialität des neuartigen Ansatzes.

Die Verwendung von Vektoren war bis dahin nur in der Physik zum Beispiel zur Beschreibung von Kräften und Geschwindigkeiten üblich, auch von Vektorfeldern wie bei elektrischen und magnetischen Feldern, aber ohne eine exakte Definition des Vektorbegriffs. Darüber hinaus hatten Jean Robert Argand und Carl Friedrich Gauß erkannt, dass komplexe Zahlen als Vektoren aufgefasst werden können und dass sich die Addition dieser Zahlen durch Aneinandersetzen von Pfeilen veranschaulichen lässt. Graßmann selbst benutzt den Begriff des Vektors wegen der damit verbundenen Assoziation zu physikalischen Vorgängen nicht; statt dessen verwendet er den Ausdruck extensive Größe.

Ab 1832 entwickelt er seine Vektorrechnung, in der ein n-dimensionaler Raum durch ein System von Einheiten (Basisvektoren) aufgespannt wird, die linear unabhängig sind und mit deren Hilfe man jeden anderen Vektor durch Linearkombination darstellen kann. 1844 erscheint sein Werk Die Wissenschaft der extensiven Größe oder Die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Hierin entwickelt Graßmann eine algebraische Theorie für geometrische Objekte, zwischen denen Verknüpfungen definiert werden können (Addition sowie verschiedene Möglichkeiten einer Multiplikation). Er formuliert und beweist einen Satz, der sich kaum von dem Theorem unterscheidet, das heute als Steinitz'scher Austauschsatz bezeichnet wird (nach dem deutschen Mathematiker Ernst Steinitz, 1871 – 1928). Auch gibt er das Verfahren an, mit dem die "Koordinaten" von Punkten berechnet werden können, wenn die Basis des Vektorraums geändert wird. Graßmann geht auch auf Unterräume ein; er beweist die Dimensionsformel für die Vereinigung zweier Unterräume \(U\) und \(V\), die heute wie folgt notiert wird: \(\text{dim}(U \cup V) = \text{dim}(U) + \text{dim}(V)- \text{dim}(U \cap V)\).

Das Buch findet keine Käufer. Dies liegt nicht nur an den umfangreichen philosophischen Vorbemerkungen, auch nicht an der sparsamen Verwendung von Formeln. Vor allem ist es der ungewohnte Grad der Abstraktheit der Abhandlung, ein Buch über geometrische Objekte, in dem diese nur in abstrakter Form vorkommen. Mit Ausnahme von William Rowan Hamilton, der Graßmanns Ansatz in seinen Lectures on Quaternions (1853) begeistert erwähnt, stößt das Buch auf Unverständnis. Hamilton hatte sich intensiv mit der Frage beschäftigt, ob man ähnliche Operationen wie in der Menge der komplexen Zahlen (die als zweidimensionale Objekte aufgefasst werden können) auch im Dreidimensionalen definieren kann.

Graßmanns Bitte an August Möbius, sein Buch zu rezensieren, lehnt dieser ab, da selbst er die Bedeutung des Werks nicht erkennt. Gleichwohl befürwortet er 1846 als Mitglied einer Jury, Graßmann für die Abhandlung Geometrische Analyse geknüpft an die von Leibniz erfundene geometrische Charakteristik mit einem Preis der Fürstlichen Jablonowski'schen Gesellschaft auszuzeichnen (möglicherweise auch deshalb, weil Graßmann einen Bezug zum Möbius'schen baryzentrischen Kalkül herstellt).

1847 wird Graßmann, mittlerweile an der Friedrich-Wilhelms-Schule
in Stettin tätig, zum Oberlehrer ernannt. Im selben Monat wendet er sich an das Preußische Erziehungsministerium mit der Bitte um eine Versetzung an die Universität. Ernst Eduard Kummer, der um eine Stellungnahme gebeten wird, findet zwar anerkennende Worte für die neuen Ansätze des Bewerbers, bemängelt aber die Qualität der Darstellungen. Außerdem stellt er fest, dass bei Graßmann wohl nur eine eingeschränkte fachliche Eignung vorliege. Damit ist eine universitäre Laufbahn für die Zukunft so gut wie ausgeschlossen.

Als 1852 Graßmanns Vater Justus stirbt, wird der Sohn Hermann zu dessen Nachfolger ernannt; immerhin hat er damit den Rang eines Gymnasial-Professors erreicht. Doch seine Ausdehnungslehre hat immer noch keine Anerkennung gefunden, und er beschließt, das Werk zu bearbeiten. 1862 erscheint dann die stark veränderte Fassung (Die Ausdehnungslehre – Vollständig und in strenger Form bearbeitet) – allerdings mit ähnlich geringem Erfolg wie bei der Fassung von 1844.

Enttäuscht, dass er die Mathematiker seiner Zeit nicht von der Bedeutung seiner Überlegungen überzeugen kann, vertieft er sich in linguistische Studien. Bereits Jahre zuvor hatte er sich mit der Struktur der Sprache der Goten und mit Sanskrit beschäftigt. Diese Studien nimmt er jetzt wieder auf und veröffentlicht einige Schriften, unter anderem ein Vergleich der Grammatiken sowie ein Wörterbuch der vedischen Sprache, die zu einer Ehren-Mitgliedschaft bei der American Oriental Society und zur Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen führen.

Graßmann stirbt im Alter von 68 Jahren an Herzversagen. In seinen letzten Lebensjahren gibt es zwar erste anerkennende Rückmeldungen zu seinen mathematischen Leistungen, unter anderem Ernennung zum korrespondierenden Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, aber erst nach seinem Tod werden die tiefsinnigen Ansätze in Graßmanns Ausdehnungslehre richtig verstanden.

Bereits ein Jahr nach Graßmanns Tod erscheint eine Biografie mit einer würdigenden Darstellung seiner wissenschaftlichen Leistungen, verfasst von Victor Schlegel, der Graßmann persönlich kennengelernt hat, als er vorübergehend ebenfalls als Lehrer am Stettiner Gymnasium tätig ist (bekannt wird Schlegel durch die nach ihm benannten Schlegel-Diagramme, das sind 2-dimensionale Projektionen von 3-dimensionalen Körpern, unten sehen Sie das Bild eines Dodekaeders).

Aus der 1849 geschlossenen Ehe Graßmanns gehen elf Kinder hervor; drei seiner Söhne studieren Mathematik: Zwei von ihnen werden Lehrer an "seinem" Stettiner Gymnasium, einer Professor an der Universität in Gießen.

Hermann Graßmann (1809–1877)

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