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Der Mathematische Monatskalender: Heron von Alexandria (10–75)

Die Werke des Heron von Alexandria waren in der Antike für die angewandte Seite der Mathematik ungefähr so bedeutend wie die des Euklid für die theoretische.
Heron von Alexandria

Ob Heron von Alexandria so aussah, wie auf der Abbildung zu sehen ist, ist nicht zuverlässig überliefert, auch nicht, ob er tatsächlich in der Zeit von 10 bis 75 nach Christus lebte. Da Heron in seinen Schriften nur auf Archimedes (287 – 212 vor Christus) Bezug nahm, seine Schriften wiederum nicht vor der Zeit des Mathematikers Pappos im 4. Jahrhundert nach Christus zitiert wurden, waren seine Lebensdaten lange Zeit unklar. Erst im Jahr 1938 konnte nachgewiesen werden, dass sich ein Bericht Herons über eine Mondfinsternis auf eine Himmelskonstellation bezieht, die es so nur im Jahr 62 nach Christus gab. Hieraus wurden dann die oben angegebenen Lebensdaten erschlossen.

Heron war als Lehrer und Forscher im Museion tätig, der berühmten Bibliothek und Universität in Alexandria. Manche seiner Schriften sind ausgearbeitete Lehrbücher, andere vom Stil her eher Vorlesungsmanuskripte. Das Gesamtwerk Herons stellt so etwas wie eine Enzyklopädie der angewandten Mathematik und Ingenieurwissenschaften der griechisch-römischen Epoche dar; die Schriften enthalten viele Erkenntnisse, die aus ägyptischer und babylonischer Zeit stammen. Herons Werke wurden über Jahrhunderte weitergegeben, und nicht in allen Fällen ist klar, welche Teile von ihm selbst verfasst und welche erst später ergänzt wurden. Herons Hauptwerk, Metrica, galt lange Zeit als verloren; erst 1896 wurde es im griechischen Original wieder entdeckt. Andere Werke, wie die Kommentare zu EuklidsElementen oder die dreibändige Mechanica, überlebten als Übersetzung durch islamische Wissenschaftler.

Einige Wissenschaftshistoriker äußerten grundsätzliche Zweifel an der Originalität der Beiträge Herons. Bartel Leendert van der Waerden etwa schreibt: »Seien wir froh, dass wir die Meisterwerke eines Archimedes und Apollonius haben, und trauern wir nicht den zahlreichen verloren gegangenen Rechenbüchlein von der Art des Heron nach.«

Ohne Zweifel aber war Heron der letzte bedeutende Lehrbuchautor des Altertums, der den praktischen Gebrauch mathematischer Methoden darlegte. In diesem Sinne sind seine Werke in ihrer Bedeutung für die nachfolgenden Jahrhunderte fast vergleichbar mit den eher theoretisch angelegten Elementen des Euklid.

Herons Buch Pneumatica enthält über 100 detaillierte Beschreibungen von Geräten, die allein der Unterhaltung der Menschen dienten: Vorrichtungen zum selbstständigen Öffnen von Tempeltüren, Weihwasserautomaten, Wasserorgeln und vielen anderen mehr.

Eine griechische Briefmarke zeigt den Nachbau eines automatischen Theaters, bei dem mithilfe von Dampf- und Wasserdruck, Zahnrädern und Seilverknüpfungen nacheinander verschiedene Szenen mit sich bewegenden Figuren gezeigt wurden. Auch der Vorläufer der Dampfmaschine, der Heronsball (Aeolipile), und der scheinbar endlos laufende Heronsbrunnen dienten dazu, die Bevölkerung zum Staunen zu bringen und verfolgten keinen praktischen Nutzen. Dagegen fasst das Buch Mechanica die (größtenteils auf Archimedes zurückzuführenden) Erkenntnisse über einfache Maschinen wie Hebel, Keil, Flaschenzug und Schrauben zusammen, enthält aber auch Ausführungen zu Kränen und Weinpressen.

Herons Buch Dioptra beschäftigt sich mit verschiedenen Methoden der Vermessung; das Wort Dioptra steht dabei für ein Messgerät, das unserem heutigen Theodoliten entspricht: Ein Diopter besteht aus einem Gestell mit einem horizontal drehbaren Lattenkreuz, an dessen Ende Visiervorrichtungen angebracht sind und mit dem auch rechte Winkel eingestellt werden können. Die horizontale Ausrichtung des Visiergeräts erfolgt an den vier Enden des Lattenkreuzes nach dem Prinzip kommunizierender Röhren.

Im Buch werden alle Methoden erläutert, die zum Alltag eines Vermessers gehören – viele sind von den ägyptischen Seilspannern (Harpedonapten) überliefert – wie zum Beispiel Nivellierung eines Geländes, Absteckung einer Geraden zwischen zwei Punkten, die nicht gleichzeitig sichtbar sind, Bestimmung der Entfernung von unzugänglichen Punkten, Wiederherstellung von rechteckigen Feldern, von denen nur einzelne Grenzsteine erhalten sind.

Auch wird in Dioptra ein Hodometer (ὁδός  = Weg; μέτρoν = Maß) vorgestellt, ein Wagen, mit dem eine erstaunlich genaue Messung einer Strecke vorgenommen werden konnte: Die Umdrehungen der Wagenräder werden mithilfe von Zahnrädern stufenweise in langsamere Bewegungen übersetzt. Heron gilt zwar als Erfinder des Hodometers, aber man findet Hinweise auf diese Messmethode bereits 100 Jahre zuvor beim römischen Architekten und Ingenieur Vitruv, dessen Proportions-Schema des menschlichen Körpers durch Leonardo da Vinci bekannt wurde. – Ein ähnlicher Vermessungswagen wurde zur gleichen Zeit in China verwendet; als Erfinder gilt hier der Mathematiker und Astronom Zhang Heng (78 – 139).

In einem Kapitel über astronomische Messmethoden erläutert Heron, wie man die Entfernung zweier Orte, zum Beispiel der Städte Rom und Alexandria, bestimmen kann: Das Eintreten und das Ende einer Mondfinsternis wird in beiden Orten gleichzeitig beobachtet; aus den Messdaten (wahre Ortszeit und Himmelskoordinaten) lässt sich der geografische Breiten- und Längenunterschied der beiden Orte ermitteln und damit die Entfernung berechnen. In den Schriften des Ptolemäus (85 – 165 nach Christus) wurde diese Methode nicht erwähnt; deshalb hatte man lange Zeit irrtümlicherweise angenommen, dass Heron nach Ptolemäus gelebt hat.

Schließlich enthält die Dioptra eine Formel zur Berechnung des Flächeninhalts \(A_\Delta\) eines Dreiecks aus den Seitenlängen \(a, b, c,\) also mit Semiperimeter (halbem Umfang) \(s = \frac{1}{2} \cdot (a + b + c)\) , die als Heron'sche Dreiecksformel bezeichnet wird:

\(\begin{split} A_\Delta &= \sqrt{ \frac{a + b + c}{2} \cdot \frac{a + b – c}{2} \cdot \frac{a – b + c}{2} \cdot \frac{-a + b + c}{2}} \\ &= \sqrt{ s \cdot(s-a) \cdot(s-b)\cdot(s-c)} \end{split}\)

An der Figur oben lässt sich ablesen, dass ein Dreieck durch die Winkelhalbierenden und die Lote vom Inkreismittelpunkt auf die Dreiecksseiten (= Inkreisradius \(r)\) in drei Paare von zueinander kongruenten rechtwinkligen Dreiecken zerlegt wird. Der Flächeninhalt \(A_\Delta\) eines Dreiecks kann daher mithilfe des Inkreisradius \(r\) und des halben Umfangs \(s\) berechnet werden:

\(A_\Delta = 2 \cdot \big[(\frac{1}{2} \cdot x \cdot r) + (\frac{1}{2} \cdot y \cdot r) + (\frac{1}{2} \cdot z \cdot r) \big]\) , also \(A_\Delta =(x+y+z)\cdot r = s \cdot r\)

Heron führt den Beweis der Dreiecksformel mithilfe der zweiten Figur: Der Punkt \(H\) wird als Schnittpunkt der Senkrechten zu \(AB\) durch \(B \) und der Senkrechten zu \(AI\) durch \(I\) konstruiert. \(H\) wird mit \(A\) verbunden. Wegen der beiden rechten Winkel bei \(I\) und \(B\) kann über der Strecke \(AH\) als Durchmesser ein Thales-Kreis gezeichnet werden. Daher ist \(AHBI\) ein Sehnenviereck, in dem einander gegenüberliegende Winkel eine Winkelsumme von 180° haben. So ergeben sich die in der Figur eingetragenen Winkel. In den zueinander ähnlichen Dreiecken ergibt sich dann: Aus der Ähnlichkeit \(\Delta AHB \sim \Delta\ CIE\) folgt:

\(BA : HB = (x + y) : HB = EC : IE = z : r\), das heißt \((x+y) : z = HB :r\) .

Aus der Ähnlichkeit \(\Delta\ BKH \sim \Delta\ DKI\) folgt:

\(HB : BK = ID : DK = r : DK\), also \(HB:r=BK:DK\), zusammengefasst: \((x+y):z=HB : r= BK : DK\).

Es folgt eine trickreiche Umformung:

\(\begin{split} \frac{x+y}{z} &=\frac{BK}{DK} \\ \Leftrightarrow \frac{x+y}{z} +1 &=\frac{BK}{DK} +1 \\ \Leftrightarrow \frac{x+y+z}{z} &=\frac{BK+DK}{DK} \\ \Leftrightarrow \frac{s}{z} &=\frac{y}{DK} \\ \Leftrightarrow s\cdot DK &= y\cdot z \end{split}\)

Da das Dreieck \(AKI\) rechtwinklig ist (nach Konstruktion), gilt nach dem Höhensatz:

\(AD \cdot DK = DI^2 \), also \( x \cdot DK = r^2\). Hieraus folgt dann:

\( \begin{split}A_\Delta^2 &= s^2 \cdot r^2 = s^2 \cdot x \cdot DK = s \cdot x \dot (s \cdot DK)\\ &= s \cdot x \cdot (y\cdot z) = s \cdot \big(s−(y+z)\big) \cdot \big(s−(x+z)\big) \cdot \big(s−(x+y)\big) \end{split}\)

und daher \(A_\Delta^2 = s \cdot (s−a) \cdot(s−b)\cdot(s−c)\), also \(A_\Delta = \sqrt{s\cdot(s−a)\cdot(s−b)\cdot(s−c)}\)

Aus der Heron'schen Formel folgt, dass die Flächenmaßzahl eines Dreiecks im Allgemeinen eine irrationale Zahl ist, selbst wenn die Seitenlängen rational sind. Andererseits ergibt sich aus der Flächeninhaltsformel \(A_\Delta = \frac{1}{2} \cdot g \cdot h\): Wenn die Seitenlängen und eine Höhe rational sind, dann sind auch die übrigen Höhen und der Flächeninhalt rational. Dreiecke mit rationalen Seiten und Höhen werden als Heron'sche Dreiecke bezeichnet. Diese Dreiecke setzen sich aus zwei rechtwinkligen Dreiecken zusammen, deren Seitenlängen rationale Pythagoreische Zahlentripel sind.

Da man den Flächeninhalt eines durch die drei Seiten gegebenen Dreiecks – gemäß der Heron'schen Formel – durch Wurzelziehen bestimmt, gibt Heron hierfür ein einfaches Verfahren an. Es trägt noch heute Herons Namen, obwohl Heron nur eine Methode beschreibt, die bereits 2000 Jahre zuvor den Babyloniern bekannt war und daher auch als babylonisches Wurzelziehen bezeichnet wird.

Heron erläutert die Methode im 1. Band seiner Metrica am Beispiel des Ergebnisses \(A_\Delta^2 = 720\). Da \(729\) die nächste Quadratzahl ist, teile \(720\) durch \(27\). Das Ergebnis ist \(26 \frac{2}{3}\). Addiere \(27\) hinzu, so ergibt dies \(53 \frac{2}{3}\) und die Hälfte hiervon ist \(26 \frac{5}{6}\). Multipliziert man \(26 \frac{5}{6}\) mit sich selbst, so ergibt sich \(720 \frac{1}{36}\), was sich nur um \( \frac{1}{36}\) von \(720\) unterscheidet. Wenn man einen noch kleineren Unterschied haben möchte, beginne man mit \(26 \frac{5}{6}\) anstelle von \(729\).

Der 1. Band der Metrica enthält Anleitungen, wie der Flächeninhalt von Vielecken und die Oberfläche eines Kegels, eines Zylinders, eines Prismas, einer Pyramide und einer Kugel berechnet werden kann. Im 2. Band werden die Volumina dieser Körper berechnet. Der 3. Band beschäftigt sich mit dem Problem, wie man gegebene Flächen oder Körper in einem vorgegebenen Verhältnis teilen kann, wobei Heron vieles von Euklid übernimmt. Für die Berechnung des Volumens eines Pyramidenstumpfs (entsprechend auch einem Kegelstumpf) gilt die Formel \[v=\frac{1}{3} \cdot h \cdot (A_1 + A_2 + \sqrt{A_1 \cdot A_2})\], wobei \(A_1\) beziehungsweise \(A_2\) der Flächeninhalt der Boden- beziehungsweise Deckfläche des Stumpfs ist und \(h\) die Höhe.

Man kann dies auch in folgender Form notieren: \[v = h \cdot (\frac{2}{3}\cdot \frac{A_1+A_2}{2} + \frac{1}{3} \cdot \sqrt{A_1 \cdot A_2}),\] also als gewichtetes Mittel des arithmetischen und des geometrischen Mittelwerts der Flächengrößen. Der Term \( \frac{1}{3} \cdot (x + y + \sqrt{x \cdot y})\) wird daher gelegentlich als Heron'scher Mittelwert der Größen \(x\) und \(y\) bezeichnet.

Heron von Alexandria

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