Der Mathematische Monatskalender: Mohammed Al-Khwarizmi (780–850): »Vater der Algebra«
In der Zeit von 786 bis 809 regiert der Kalif Harun-al-Rashid von Bagdad aus ein Weltreich, das sich von Spanien bis zu den Ausläufern des Himalaja erstreckt. Unter seiner Regierung werden die Künste und die Wissenschaften gefördert; an seinem Hof entwickelt sich ein vielfältiges kulturelles Leben. Sein Nachfolger auf dem Thron wird – nach blutigem Machtkampf – sein jüngerer Sohn Al-Mamun. Dieser gründet in Bagdad das »Haus der Weisheit« als Zentrum der Wissenschaft. Dort entsteht eine umfassende Bibliothek – vergleichbar mit der Bibliothek in Alexandria; hier werden bedeutende Werke aus anderen Kulturkreisen ins Arabische übersetzt, darunter auch die der griechischen Philosophen und Mathematiker.
Zu den bedeutenden Wissenschaftlern des »Hauses der Weisheit« gehören Abu Jafar Mohammed ibn Musa Al-Khwarizmi, außerdem die Brüder Abu Jafar Muhammed (800 – 873), Ahmed (803 – 873) und Al-Hasan ibn Musa ibn Shakir (810 – 873) sowie Abu Yusuf Yaqub ibn Ishaq al-Sabbah Al-Kindi (801–873). Von Mohammed Al-Khwarizmi kennt man weder Geburtsort noch genaue Lebensdaten; möglicherweise stammt seine Familie aus der persischen Stadt Khwarizm (heute Usbekistan). Ihm verdanken wir die Übernahme der indischen Ziffern, die seitdem als arabisch-indische Ziffern bezeichnet werden. Er erkennt die Vorteile der Dezimalschreibweise – insbesondere auch die Rolle der Null als Platzhalter für nicht besetzte Stellen im Stellenwertsystem. Al Khwarizmi bezeichnet die Null als »as-sifr« (die Leere), woraus sich in den europäischen Sprachen die Wörter »zefiro« oder »zero« (italienisch), »chiffre« (französisch), »Ziffer« (deutsch) entwickeln.
Al Khwarizmis Hauptwerk trägt den Titel »Al Kitab al-muhtasar fi hisab al-gabr w-al-muqabala« (Ein kurzgefasstes Buch über die Rechenverfahren durch Ergänzen und Ausgleichen). »al-gabr = ergänzen« bedeutet: Auf beiden Seiten einer Gleichung werden gleiche Terme addiert, um aus einer Gleichung, in der eine Differenz steht, eine Gleichung zu erzeugen, in der eine Summe vorkommt: \( ax^2- bx = c\) wird umgeformt zu \(ax^2 = c + bx\). Im 12. Jahrhundert wird das Werk ins Lateinische übersetzt (»Liber algebrae et almucabala«). Aus der Verballhornung des Buchtitels entsteht so in Europa der Begriff »Algebra«.
Der Name des Mathematikers selbst ist auch Ursprung eines Worts unserer heutigen Sprache: Die lateinische Übersetzung seines Buches über die indischen Ziffern trägt den Titel »Algoritmi de numero Indorum«; er wird zitiert mit »Algorizmi dixit«. Aus Al Khwarizmi wird so die Bezeichnung »Algorithmus« für Rechenverfahren.
Was dieses Buch auszeichnet, ist die Systematik des Aufbaus – hier werden nicht nur Probleme aneinandergereiht und gelöst, sondern dies geschieht reflektiert:
Zunächst werden alle möglichen Typen von linearen und quadratischen Gleichungen aufgelistet; dabei muss alles mit Worten ausgedrückt werden – eine formale Schreibweise, wie wir sie heute wie selbstverständlich benutzen, ist noch nicht entwickelt. Man unterscheidet Quadrat \((x^2)\), Wurzel \((x)\) und Zahl; damit ergeben sich die Fälle:
(1) \(ax^2 = bx\) (Quadrate sind gleich Wurzeln)
(2) \(ax^2 = b\) (Quadrate sind gleich Zahlen)
(3) \(ax = b\) (Wurzeln sind gleich Zahlen),
sowie analog zu beschreiben;
(4) \(ax^2 + bx = c\)
(5) \(ax^2 + c = bx\)
(6) \(ax^2 = bx + c\)
Die hier notierten Koeffizienten \(a, b, c\) stellen positive Zahlen dar. Wenn in einer Gleichung Differenzen auftreten, muss durch »al-gabr« die Gleichung erst auf eine der oben angegebenen Formen gebracht werden.
Al Khwarizmi interpretiert die Gleichungen als geometrische Probleme; daher existieren für ihn nur positive Lösungen. Insofern verwundert es nicht, dass er für die Gleichungen (1) und (3) die gleichen Lösungen angibt (Null wird als Lösung einer Gleichung erst im 17. Jahrhundert akzeptiert).
Al Khwarizmi erläutert die Methoden zur Lösung anhand konkreter Zahlenbeispiele:
Lösung der Gleichung \(x^2 + 8x = 65\) (Quadrate und Wurzeln sind gleich Zahlen):
Wir betrachten zunächst ein Quadrat der Seitenlänge \(x\). Dieses ergänzen wir um vier Rechtecke mit den Seitenlängen \(2\) und \(x\) (grau unterlegt); diese Figur hat also insgesamt den Flächeninhalt \(x^2 + 8x\), also \(65\).
Wenn wir die Figur zu einem Quadrat ergänzen (»quadratische Ergänzung«), setzt sich dieses aus dem inneren Quadrat, den grau unterlegten Rechtecken sowie vier kleinen Quadraten der Seitenlänge \(2\) (also jeweils mit Flächeninhalt \(4\)) zusammen. Der Flächeninhalt der neuen Quadratfigur ist also: \(65 + 4 \cdot 2^2 = 81\).
Die Seitenlänge des großen Quadrats ist demnach \(9\). Hieraus ergibt sich, dass das innere Quadrat die Seitenlänge \(x = 5\) haben muss.
Lösung der Gleichung \(x^2 + 35 = 12x\) (Quadrate und Zahlen sind gleich Wurzeln):
Wir betrachten ein Rechteck mit den Seitenlängen \(12\) und \(x\), also mit Flächeninhalt \(12x\); rechts trennen wir ein Quadrat mit Flächeninhalt \(x^2\) ab; das restliche Rechteck (grau unterlegt) hat den Flächeninhalt \(35\). Wir halbieren dann die Grundseite des ursprünglichen Rechtecks und ergänzen die linke Hälfte des Rechtecks zu einem Quadrat (Seitenlänge \(6\), also mit Flächeninhalt \(36\)).
Dieses Quadrat setzt sich dann aus drei Teilflächen zusammen: aus einem Rechteck mit den Seitenlängen \(6\) und \(x\), oben aus einem Rechteck mit den Seitenlängen \(x\) und \(6-x\) sowie einem (kleinen) Quadrat mit der Seitenlänge \(6-x\), also dem Flächeninhalt \((6-x)^2\).
Da die grau unterlegte Fläche den Flächeninhalt \(35\) und das große Quadrat den Flächeninhalt \(36\) hat, ergibt sich für das rechts oben liegende Quadrat die Beziehung \((6-x)^2 = 1\). Hieraus folgt, dass die unbekannte Länge \(x\) gleich \(5\) sein muss.
Wählt man in der Zeichnung die Seitenlänge \(x\) größer als \(6\), so ergibt sich eine Figur, die zu der Gleichung \((x-6)^² = 1\) führt und so zur zweiten Lösung \(x = 7\). Außerdem erkennt man, dass Gleichungen wie \(x^² + 37 = 12x\) keine Lösung haben können.
»Hisab al-gabr w-al-muqabala« enthält neben dieser systematischen Gleichungslehre auch eine Reflexion darüber, was Zahlen sind und welche Regeln für das Rechnen mit Termen gelten, zum Beispiel, wie man Terme des Typs \(a + bx\) miteinander multipliziert, und wie man Maßzahlen von Flächen und Volumina bestimmt (Kreis, Kugel, Kegel, Pyramide). Einen großen Raum in Al Khwarizmis Buch nehmen Aufgaben ein, die dazu dienen sollen, schwierige Alltagsprobleme zu lösen; darunter sind vor allem auch solche Probleme, die sich aus der Anwendung islamischen Rechts ergeben.
Beispiel: Eine Frau stirbt und hinterlässt ihrem Ehemann, ihrem Sohn und ihren drei Töchtern ihr Erbe; ein Siebtel und ein Achtel des Vermögens stehen einer anderen Person zu. Nach islamischem Recht erbt der Ehemann ein Viertel des Rests, die männlichen Nachkommen doppelt so viel wie die Töchter.
Al Khwarizmi verfasst auch mehrere Abhandlungen zur Astronomie mit Tabellen zur Bewegung der Sonne, des Mondes und der Planeten – Grundlage vieler nachfolgender Werke von Astronomen des islamisch-arabischen Kulturkreises und Europas. Er erfindet Geräte zur Himmelsbeobachtung und entwickelt die Sonnenuhren weiter, so dass die gläubigen Moslems den Zeitpunkte des vorgeschriebenen Gebets leichter ablesen können. Andere Schriften beschäftigen sich mit dem Problem, Kalender so zu gestalten, dass Sonnen- und Mondbewegung angemessen berücksichtigt werden.
Ausgehend von der Geographia des Claudius Ptolemäus (100 – 175), stellt Al Khwarizmi in seinem Buch Kitab Surat al-ard (Bild von der Erde) die Längen- und Breitenkreis-Koordinaten von 2402 Städten, Bergen, Inseln usw. der damals bekannten Welt zusammen. Er korrigiert die Angaben des Ptolemäus hinsichtlich der Ausdehnung des Mittelmeers in Ost-West-Richtung (50 statt 63 Längengrade); der Längengrad durch die Ostküste des Mittelmeers wird zum Nullmeridian seines Erd-Koordinatensystems.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.