Der Mathematische Monatskalender: Rafael Bombelli (1526–1572)
Rafael Bombelli ist das älteste von sechs Kindern des Wollhändlers Antonio Mazzoli aus Bologna und seiner Frau Diamante Scudieri, Tochter eines Schneiders. Da der Familienname Mazzoli in Bologna – wegen eines missglückten Putschversuchs des Urgroßvaters gegen die Papstherrschaft (Bologna gehört um diese Zeit zum Kirchenstaat) – belastet ist, nehmen sie den Namen Bombelli an. Rafael Bombelli hat vermutlich keine Möglichkeit, eine Universität zu besuchen. Er macht eine Ausbildung bei dem Ingenieur und Architekten Pier Francesco Clementi, der 1548 den Auftrag erhält, die zum Kirchenstaat gehörenden Sumpfgebiete südöstlich von Perugia trockenzulegen.
Es ist davon auszugehen, dass auch Bombelli den mit großer Heftigkeit ausgetragenen Streit zwischen Girolamo Cardano und Nicolo Tartaglia verfolgt, wer denn von beiden tatsächlich als Erster ein Lösungsverfahren für kubische Gleichungen entwickelt hat. Möglicherweise ist er 1548 in Mailand sogar Zeuge des öffentlichen Wettstreits zwischen Cardanos Schüler Lodovico Ferrari und Tartaglia. Mit Sicherheit kann man davon ausgehen, dass er sich intensiv mit dem im Jahr 1545 erschienenen Hauptwerk Cardanos beschäftigt hat, der Ars magna (Artis magnae sive de Regulis Algebraicis liber unus); denn im Jahr 1551 beschließt er, selbst ein Buch über Algebra zu verfassen.
Bombelli, mittlerweile im Dienst von Alessandro Rufini, einem einflussreichen römischen Adligen, dem späterem Bischof von Melfi, wird von diesem beauftragt, in der Toscana das sumpfige Gelände um das Flüsschen Chiana zu erkunden. Dieses Flüsschen hatte in der Vergangenheit mehrfach seinen Verlauf geändert, zeitweise floss es in den Arno, zeitweise in den Tiber.
Bereits Leonardo da Vinci hatte Pläne zur Regulierung des Flüsschens und zur Trockenlegung der umliegenden Sümpfe entworfen. Bombelli führt die notwendigen Vermessungsarbeiten im schwer zugänglichen Gelände durch, muss dann aber etliche Monate auf die endgültige Beauftragung durch seinen Dienstherrn warten.
Für Bombelli ist Cardanos Ars magna das bedeutendste Werk zur Algebra, aber er hält es für Menschen ohne umfangreiche Vorbildung für unverständlich, da es zu wenige Erläuterungen enthält. Er denkt, dass es an der Zeit ist, ein Werk zu verfassen, das auch jemand ohne große Vorbildung in Mathematik verstehen kann. So nimmt er 1557 im Chiana-Tal die Manuskriptarbeit an seiner L'Algebra auf. Als er um 1560 die Regulierungsarbeiten erfolgreich abschließen kann, geht er als angesehener Wasserbau-Ingenieur nach Rom. Weniger erfolgreich ist er allerdings bei seinem nächsten Auftrag, bei dem er eine vom Hochwasser beschädigte Brücke über den Tiber reparieren soll, und auch seine Pläne zur Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe lassen sich nicht so umsetzen, wie von ihm geplant. (Erst in den 1930er Jahren wird dies als Prestige-Projekt des Mussolini-Regimes realisiert.)
In Rom lernt Bombelli den Hochschullehrer Antonio Maria Pazzi kennen, der ihm in der Bibliothek des Vatikans ein Exemplar der Arithmetica des Diophant zeigt. Voller Begeisterung für dieses Werk beschließen sie, eine Übersetzung anzufertigen; doch sie setzen ihren Beschluss nur bei fünf der sieben Bücher um.
Nach der Lektüre der Arithmetica sieht sich Bombelli veranlasst, sein bisheriges Manuskript umzuschreiben. Als im Jahr 1572 die ersten drei seiner auf fünf Bände geplanten L'Algebra in Venedig erscheinen (nachgedruckt 1579 in Bologna), enthält Band III insgesamt 272 Aufgaben, davon stammen 143 Probleme von Diophant. (Bombelli gibt allerdings nicht an, welche Aufgaben von ihm selbst entwickelt wurden und welche er übernommen hat.)
Bombelli kann die letzten beiden der geplanten Bände nicht fertigstellen, da er im selben Jahr überraschend stirbt. Erst 1923 wird ein frühes Manuskript des Werks gefunden, das eine Vorfassung der gedruckten Bände sowie teilweise ausgeführte Skizzen der unvollendeten Teile umfasst. In den geplanten Bänden IV und V beabsichtigt er, Zusammenhänge zwischen Geometrie und Algebra darzustellen: Anwendung algebraischer Methoden zur Lösung geometrischer Probleme und das Lösen von Gleichungen durch geometrische Konstruktionen – in der Tradition der Elemente des Euklid und der Algebra des Al Khwarizmi.
Cardano hatte festgestellt, dass die bloße Anwendung der von ihm entwickelten Formel bei der Lösung der Aufgabe \(x^3 = 15x+4\) auf das Ergebnis
\( x= \sqrt[3]{\frac{4}{2}+\sqrt{\left(\frac{4}{2}\right)^2-\left(\frac{15}{3}\right)^3}} + \sqrt[3]{\frac{4}{2}-\sqrt{\left(\frac{4}{2}\right)^2-\left(\frac{15}{3}\right)^3}}\) \( \phantom{\Biggl(}= \sqrt[3]{2+\sqrt{-121}} + \sqrt[3]{2-\sqrt{-121}} \) führt. Er bezeichnete solche Quadratwurzeln aus negativen Zahlen als ausgeklügelte, gekünstelte Größen (vere sophisticae), denn offensichtlich ist \(x = 4\) eine Lösung der Gleichung.
Aufgrund der Beobachtung, dass sich die beiden Radikanden der Kubikwurzeln, also \(2 +\sqrt{ −121}\) und \(2 -\sqrt{ −121}\), nur durch das Rechenzeichen unterscheiden, kommt Bombelli zur Vermutung, dass dies auch für die Kubikwurzeln selbst gilt:
Aus den Ansätzen \( \sqrt[3]{2 +\sqrt{ −121}} = a + \sqrt{− b}\) und \( \sqrt[3]{2 -\sqrt{ −121}} = a – \sqrt{− b}\) erhält er jeweils \(a = 2\) und \(b = 1\), und er zeigt so, dass auch im Falle des casus irreducibilis die rein formale Rechnung zur Lösung 4 führt: \( \sqrt[3]{2 +\sqrt{ −121}} +\sqrt[3]{2 -\sqrt{ −121}} \) \(= (2+\sqrt{-1} ) + (2-\sqrt{-1})=4\).
Bombelli verwendet in seiner L'Algebra eine Schreibweise für Wurzelterme, wie sie von Luca Pacioli eingeführt wurde. Dieser hatte in seiner Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalita (1494) \(p\) für plus und \(m\) für minus geschrieben sowie \(R\) für Wurzel. Bombelli notiert Quadratwurzeln als \(Rq\), zum Beispiel \(\sqrt{4 + \sqrt{6}}\) als \(Rq \lfloor 4pRq6\rfloor\), Kubikwurzeln als \(Rc\), zum Beispiel \(\sqrt[3]{2+\sqrt{0-121}} \) als \(Rc \lfloor 2pRq \lfloor 0m121\rfloor \rfloor\). Zusammenhängende Terme werden durch die Klammersymbole \(\lfloor\) und \(\rfloor\) abgetrennt. Auch für Potenzen in Gleichungen höheren Grades erfindet er eine neue Schreibweise, zum Beispiel \( \frac{2}{5}\) für \(5x^2\).
Für Bombelli sind diese Wurzeln aus negativen Zahlen weder positiv noch negativ. Er verwendet hierfür auch die Bezeichnungen \(pdm\) (piu di meno, wörtlich: plus von minus) und \(mdm\) (meno di meno, wörtlich: minus von minus), zum Beispiel \( pdm11\) für \(+ \sqrt{− 121}\) und \(mdm11\) für \( −\sqrt{ −121}\). Er stellt fest, dass man mit diesen besonderen Wurzeln genauso rechnen kann wie mit anderen Zahlen, und er gibt Regeln zum Addieren und Subtrahieren der Zahlenterme an, die wir heute als komplexe Zahlen bezeichnen. Entsprechend formuliert er Regeln für das Multiplizieren wie zum Beispiel \( \sqrt{− n} \cdot \sqrt{ − n} = −n\).
Bombelli gibt in seiner L'Algebra auch einen Algorithmus an, mit dem Näherungswerte für Wurzeln bestimmt werden können. Diese werden hier noch als gewöhnliche Brüche angegeben; erst Simon Stevin führt Dezimalzahlen ein (De Thiende, 1585).
Um zum Beispiel einen Näherungsbruch für \(\sqrt{13}\) zu bestimmen, macht er folgenden Ansatz: Die nächste Quadratzahl ist 9, die gesuchte Zahl ist also 3 plus eine unbekannte Größe (tanto): \(3 + x = \sqrt{13}\). Für das Quadrat hiervon gilt \(9 + 6x + x^2 = 13\), also \(6x + x^2 = 4\). Vernachlässigt man (lasciato andare) das Quadrat von \(x\), dann folgt aus \(6x \approx 4\), dass \(x \approx \frac{2}{3}\), also \(\sqrt{13}\approx 3 \frac{2}{3}\). Wenn \(x \approx \frac{2}{3}\), dann ist \(x^2\approx \frac{2}{3}x\); aus der Gleichung \(6x + x^2 = 4\) wird dann \(6x+\frac{2}{3}x \approx 4\), also \( x \approx \frac{4}{6+\frac{2}{3}}=\frac{3}{5}\). Eine Wiederholung des Verfahrens führt im nächsten Schritt zu \(x \approx \frac{4}{6+\frac{3}{5}}=\frac{20}{33}\). Dies kann man bis zu einer beliebigen Genauigkeit fortsetzen (e cosi procedendo si puo approssimare a una cosa insensibile).
Im Prinzip liefert der Ansatz Bombellis eine Kettenbruchentwicklung der Zahl \(\sqrt{13}\). Wenige Jahre später wird diese Methode durch den ebenfalls aus Bologna stammenden Mathematiker Pietro Antonio Cataldi weiterentwickelt (Trattato del modo brevissimo, 1613).
Bombellis L'Algebra ist von großer Bedeutung für nachfolgende Mathematiker: Stevin bezeichnet Bombelli als grand arithmeticien de nostre temps, Leibniz preist ihn als egregius certe artis analyticae magister.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.