Der Mathematische Monatskalender: Jurij Vega (1754–1802)
Dass ihr Sohn einmal den Namen Georg Freiherr von Vega (latinisiert: Georgius Bartholomaei Vecha) tragen würde, hatten sich die Eltern – einfache Bauern im Krainer Land – sicherlich nicht einmal im Traum vorstellen können. Der Vater starb, als Jurij sechs Jahre alt war, und es war unsicher, ob das Kind einmal die Lateinschule der Jesuiten im nahen Laibach (damals: Provinz Innerösterreich des Habsburger Reichs, heute: Ljubljana, Slowenien) besuchen könnte. Dieser Schulbesuch verlief jedoch sehr erfolgreich: Jurij Vega schloss die Schule als Klassenbester ab, nicht zuletzt dank der Unterstützung (auch finanzieller Art) seines Mathematiklehrers, der die besondere mathematische Begabung des Jungen erkannte – später erinnert sich Jurij Vega seines Förderers und widmet ihm aus Dankbarkeit die zweite Auflage seines erfolgreichen Tafelwerks.
Mit 21 Jahren findet er eine Stelle als Schifffahrtsingenieur und arbeitet mit an der Flussregulierung der Save, dem größten Fluss Sloweniens. 1780 tritt er in den Militärdienst ein und macht dort schnell Karriere: Nach Besuch der Offiziersschule in Wien erhält er bald die Ernennung zum Lehrer für Mathematik an Schulen des österreichischen Artilleriecorps. Und da er mit den vorhandenen Lehrmaterialien nicht zufrieden ist, verfasst er selbst das Unterrichtswerk Rechenkunst und Algebra, dem ersten Band der Vorlesungen über Mathematik, das 1782 in einer vergleichsweise hohen Startauflage von 1500 Exemplaren erscheint. Das Buch ist unter anderem deshalb so erfolgreich, weil es in verständlicher Sprache verfasst ist und somit dazu beiträgt, dass auch die nur wenig vorgebildeten Kanoniere und Unteroffiziere eine mathematische Grundbildung erhalten können. In den Jahren 1784, 1788 und 1800 folgen weitere Bände mit Themen aus der höheren Mathematik: Planimetrie, Stereometrie, ebene und sphärische Trigonometrie sowie Anfangsgründe der Differential- und Integralrechnung (die »Anfangsgründe« umfassen erheblich mehr, als heutzutage in der Schule unterrichtet wird), Mechanik der festen Körper und Hydrodynamik. Bis 1850 wird das vierbändige Werk sieben Mal aufgelegt.
1783 gibt Jurij (Georg) Vega ein Tafelwerk mit siebenstelligen dekadischen Logarithmen heraus, das alle bis dahin vorliegenden Tafeln an Korrektheit übertrifft. Aufgrund des großen Verkaufserfolgs folgt 1793 das Logarithmisch-trigonometrische Handbuch – mit dem Untertitel: Anstatt der kleinen Vlackischen, Wolfischen und anderen dergleichen, meistens sehr fehlerhaften, logarithmisch-trigonometrischen Tafeln, für die Mathematikbeflissenen eingerichtet.
Das Werk umfasst auf fast 400 Seiten die Logarithmen der natürlichen Zahlen von 1 bis 101000 sowie die Logarithmen der trigonometrischen Funktionen für Winkel zwischen \(0°\) und \(45°\) mit einer Schrittweite von 10 Bogensekunden. Im 40-seitigen Vorwort, das auf Latein und Deutsch verfasst ist, wird detailliert erläutert, wie Rechnungen mithilfe von Logarithmen durchgeführt werden können und wie man fehlende Werte durch Interpolation findet. Der Anhang enthält eine Übersicht über alle möglichen Aufgabenstellungen für ebene und sphärische Dreiecke mit den zur Lösung benötigten Formeln, in späteren Auflagen auch Listen mit Primzahlen und vielem anderen mehr.
Der Untertitel bezieht sich auf die bis dahin erfolgreich verkaufte Logarithmentafel des Adriaen Vlack (Vlacq), der zusammen mit Ezechiel de Decker 1628 als Erster ein Tafelwerk mit zehnstelligen dekadischen Logarithmen der natürlichen Zahlen von 1 bis 100 000 herausbrachte und damit das von Henry Briggs ursprünglich angestrebte Ziel erreichte. Vega übernimmt die Logarithmenwerte seiner Vorgänger, überprüft sie jedoch gewissenhaft. Hierbei bedient er sich auch der ihm untergebenen Soldaten, indem er ihnen eine Belohnung von einem Golddukaten für jeden entdeckten Fehler verspricht; es heißt, dass er bis zur Veröffentlichung nur zwei Dukaten hat ausgeben müssen. Der Verkaufserfolg ist auch diesmal enorm; auch noch viele Jahre nach seinem Tod erlebt das Werk Nachdrucke und Bearbeitungen (1856 erscheint die 75. , 1970 die 100. Auflage), auch in Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch und Niederländisch.
1794 gibt Jurij Vega eine dritte Logarithmentafel heraus, den Thesaurus logarithmorum completus; die hierin enthaltenen zehnstelligen Logarithmen sind insbesondere für Berechnungen in der Astronomie gedacht. Es heißt, dass Gauß die Fehlerhaftigkeit etlicher Werte in der zehnten Dezimalstelle kritisiert habe. Tatsächlich werden später immer wieder Fehler bei den letzten Ziffern entdeckt und in den folgenden Auflagen korrigiert; die gewaltigen Fortschritte in den Ingenieurwissenschaften und der Astronomie wären jedoch ohne die Vega’schen Tafeln nicht denkbar.
Seit den genialen Ansätzen von Briggs hat sich die Berechnungsmethode für Logarithmen aufgrund der rasanten Entwicklung der Differenzialrechnung völlig verändert: James Gregory (1638 – 1675) und Brook Taylor (1685 – 1731) hatten die Möglichkeit entdeckt, Funktionen mit Hilfe ihrer Ableitungen darzustellen (Satz von Taylor). Für natürliche Logarithmen (also zur Basis \(e\)) gilt dabei die Reihenentwicklung: \(\text{ln}(1+x)=x-\frac{x^2}{2}+\frac{x^3}{3}-\frac{x^4}{4}\pm ...\)
Aus der Beziehung \(\text{ln}(1–x)=–x–\frac{x^2}{2}–\frac{x^3}{3}–\frac{x^4}{4}...\) ergibt sich eine schnell konvergierende Reihe: \(\text{ln} \left( \frac{1+x}{1–x}\right) = 2\cdot\left( x+\frac{x^3}{3}+\frac{x^5}{5}+..\right)\)
Will man beispielsweise \(\text{ln}(2)\) berechnen, bestimmt man zunächst den zugehörigen Wert von \(x\):\(\frac{1+x}{1–x}=2\Leftrightarrow x=\frac{1}{3}\) und rechnet dann: \(\text{ln}(2)=2\cdot\left(\frac{1}{3}+\frac{1}{3\cdot3^3}+\frac{1}{5\cdot3^5}+\frac{1}{7\cdot3^7}+...\right)\)
Mit den ersten zehn Summanden erhält man den Wert auf zehn Stellen genau. Zwischen den dekadischen und den natürlichen Logarithmen gilt nun der Zusammenhang \(\text{lg}(x)=\log_{10}(x)=\frac{\log_e(x)}{\log_e(10)}=\frac{\text{ln}(x)}{\text{ln}(10)}\)
Um den dekadischen Logarithmus einer Zahl \(x\) zu berechnen, muss daher zunächst der natürliche Logarithmus von \(x\) bestimmt und dieser dann nur noch mit dem Kehrwert des natürlichen Logarithmus von zehn multipliziert werden: \(\frac{1}{\text{ln}(10)}=\frac{1}{\text{ln}(2)+\text{ln}(5)}=0{,}4342944819...\)
Diese Rechnung führt Vega für alle Primzahlen bis 100 000 durch; die übrigen ergeben sich aus \(\log(a\cdot b) = \log(a)+log(b)\)
1793 macht Vega die mathematische Welt durch eine weitere brillante Rechenleistung auf sich aufmerksam: Er bestimmt die Kreiszahl \(\pi\)auf 136 Dezimalstellen genau; erst 30 Jahre später wird dieser Rekord gebrochen. Auch hier verwendet er die Reihenentwicklung einer Funktion: \(\arctan(x) = x– \frac{x^3}{3}+\frac{x^5}{5}–\frac{x^7}{7}\pm...\), außerdem das Additionstheorem des Tangens:
\[\tan(a+b)=\frac{\tan(a)+\tan(b)}{1–\tan(a)\cdot \tan(b)}\]
Hieraus leitet er die Beziehung \(\pi = 20 \cdot\arctan\left(\frac{1}{7}\right)–8 \cdot\left(\frac{3}{79}\right)\) her (schnelle Konvergenz wegen der kleinen Argumente) und überprüft seine Rechnungen mit \(\pi = 8 \cdot\arctan\left(\frac{1}{3}\right)–4 \cdot\left(\frac{3}{7}\right)\)
Als Offizier nimmt Vega an mehreren Kriegen teil. Nachdem er 1787 die Schrift Praktische Anweisung zum Bombenwerfen verfasst hat, meldet er sich im darauf folgenden Jahr zur Teilnahme an der Belagerung der Stadt Belgrad, die zu dieser Zeit noch zum Osmanischen Reich gehört. Dank der verbesserten Zielgenauigkeit gelingt es den Angreifern schnell, die Stadt zu erobern. Während der Kriege gegen die französischen Revolutionsheere verbessert er die Reichweite der Kanonen, die er nach mathematisch-physikalischen Überlegungen ausrichten lässt (Höhenrichtwinkel \(15°-16°\) gegenüber den bisher üblichen \(50° – 75°\)). Für seine militärischen Verdienste erhält er 1796 den Maria-Theresia-Orden, die höchste Tapferkeitsauszeichnung der Habsburger Monarchie, und 1800 wird er in den erblichen Adelsstand erhoben.
Wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen wird Vega von mehreren Institutionen zum Mitglied ernannt, unter anderem von der Preußischen Akademie der Wissenschaften Berlin.
Im September 1802 wird Vega als vermisst gemeldet; schließlich findet man seine Leiche in der Donau. Zunächst nimmt man an, dass ein Unfall die Todesursache war; neun Jahre später stellt sich heraus, dass Vega Opfer eines Raubmordes wurde.
Auf den slowenischen Briefmarken von 1994 und 2005 ist außer Vega selbst auch der Mondkrater Vega abgebildet, darunter der Graph der natürlichen Logarithmus-Funktion mit \(\text{ln}(2)=0{,}6931472\).
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