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Der Mathematische Monatskalender: Srinivasa Ramanujan (1887–1920): Ordnung des Unendlichen

Nachdem er sich in die Mathematik verliebte, scheiterte Srinivasa Ramanujan an der Oberschule – doch seine Berechnungen faszinierten Zahlentheoretiker weltweit. Formale Herleitungen hielt das Genie für überflüssig, denn seiner Überzeugung nach werden Formeln und Sätze »entdeckt«.
Srinivasa Ramanujan

»Sehr geehrter Herr, darf ich mich Ihnen vorstellen als Angestellter der Buchhaltung in der Hafenverwaltung von Madras mit einem Jahreseinkommen von 20 Pfund. Ich bin jetzt 23 Jahre alt. Ich habe keine abgeschlossene Universitätsausbildung, habe aber den üblichen Unterricht absolviert. Nachdem ich die Schule verlassen habe, habe ich mich in der mir zur Verfügung stehenden Freizeit mit Mathematik beschäftigt. Ich habe nicht den konventionellen geregelten Weg beschritten, ... sondern ich gehe einen eigenen neuen Weg. Ich bitte Sie, die beigefügten Papiere durchzusehen. Da ich arm bin, möchte ich gerne meine Sätze veröffentlichen, falls Sie überzeugt sind, dass sie einen Wert haben.«

Empfänger dieses Briefes von Srinivasa Ramanujan (wird Ramanadschan ausgesprochen) ist unter anderem der berühmte Zahlentheoretiker Godfrey Harold Hardy (1877 – 1947), Professor am Trinity College der Universität von Cambridge, an dem einst auch Isaac Newton lehrte. Als der Brief Ramanujans mit Formeln aus dessen Notizbuch mit dem Titel Ordnung des Unendlichen eintrifft, zieht er seinen Kollegen John Endensor Littlewood (1885 – 1977) zu Rate. »Einige Formeln erschlugen mich regelrecht; ich hatte zuvor nichts auch nur im entferntesten Ähnliches zu Gesicht bekommen. Ein einziger Blick darauf genügte, um zu erkennen, dass nur ein Mathematiker allerhöchsten Ranges sie niedergeschrieben haben musste. Sie mussten wahr sein, denn wären Sie es nicht gewesen, so hätte kein Mensch die Fantasie besessen, sie zu erfinden.«, äußert sich Hardy später in seinen Erinnerungen.

Und in einem Interview mit Paul Erdös (»Der Mann, der die Zahlen liebte«) antwortet er auf die Frage nach seinem wichtigsten Beitrag zur Mathematik – ohne zu zögern: »Die Entdeckung Ramanujans!«. An anderer Stelle sagt er: »Man kann ihn nur noch mit Euler oder Jacobi vergleichen ...«

Srinivasa Ramanujan wächst im Süden Indiens auf, circa 240 km südlich von Madras. Sein Vater arbeitet als Büroangestellter in einem Kleiderladen; er geht früh zur Arbeit und kehrt spät zurück. Allein die Mutter bestimmt das Leben des Jungen, seine religiöse Erziehung als Brahmane, die Einführung in die Lehre von den Gottheiten der Religion, die das Leben eines jeden Menschen bestimmen.

Nach dem Besuch einer Grundschule wechselt er auf eine höhere Schule und fällt dort durch hervorragende Leistungen in allen Fächern auf, für die er mehrfach ausgezeichnet wird – bis ihm ein Buch aus dem Jahr 1856 in die Hände fällt, das sein Leben, insbesondere seine mathematische Arbeitsweise entscheidend prägt: A Synopsis of Elementary Results in Pure and Applied Mathematics von G. S. Carr, eine Zusammenstellung von mehreren tausend mathematischen Formeln und Sätzen – die meisten ohne Begründung oder Beweis. Für Ramanujan scheint dies typisch für Mathematik zu sein: Formeln und Sätze werden »entdeckt« (beispielsweise aufgrund von Zahlenbeispielen) – formale Herleitungen sind überflüssig.

Bereits früh hat Ramanujan besonderes Interesse an mathematischen Problemen gezeigt; als 12-Jähriger beschäftigt er sich mit arithmetischen und geometrischen Folgen; als 15-Jähriger erfährt er, wie man kubische Gleichungen löst, und entwickelt hieraus selbstständig das Verfahren für die Lösung von Gleichungen 4. Grades. Vergeblich bemüht er sich um ein entsprechendes allgemeines Lösungsverfahren für Gleichungen 5. Grades – niemand weist ihn darauf hin, dass 80 Jahre zuvor von Galois und Abel bewiesen worden ist, dass es ein solches Verfahren nicht geben kann.

Noch sind seine schulischen Leistungen überragend und er erhält ein Stipendium für den Besuch einer höheren Schule. Es ist das Ziel der englischen Kolonialverwaltung, auf Schulen dieser Art die zukünftigen Angestellten für Behörden auszubilden; daher erfolgt der Unterricht allgemeinbildend – ohne die Möglichkeit einer Spezialisierung. Für Ramanujan, der über seine intensive Beschäftigung mit Mathematik jegliches Interesse an anderen Fächern verloren hat, hat dies schlimme Folgen: Er versagt im Examen und verliert sein Stipendium. Auch sein Versuch, an einer Schule in Madras einen Abschluss zu erreichen, der ihn berechtigt, an der Universität zu studieren, misslingt.

In der Zwischenzeit hat Ramanujan ein Notizbuch angelegt (insgesamt wird er vier solcher Bücher füllen), in dem er – nach Themen geordnet – seine Entdeckungen festhält. Eine seiner ersten Eingebungen ist die Gleichung:

\[\sqrt{1 + 2 \cdot \sqrt{1 +3 \cdot \sqrt{1 + \dots}}} =3 \]

Die von ihm notierten Gleichungen haben – wie er später sagt – an sich keine Bedeutung, es sei denn, sie drücken einen Gedanken Gottes aus.

Auch Kettenbrüche – das sind Brüche, in deren Nenner wiederum Brüche stehen, die wiederum Brüche enthalten... – üben auf ihn eine besondere Faszination aus; beispielsweise findet er die Beziehungen:

\[ \frac{1}{1+\frac{e^{-2\pi}}{1+\frac{e^{-4\pi}}{1+\frac{e^{-6\pi}}{1+\frac{e^{-8\pi}}{...}}}}} = \left( \sqrt{\frac{5+\sqrt{5}}{2}} – \frac{\sqrt{5}-1}{2}\right) \cdot e^{\frac{2\pi}{5}}\]

und:

\[ 1 + \frac{1}{1\cdot 3} + \frac{1}{1\cdot 3 \cdot 5} + \frac{1}{1\cdot 3 \cdot 5 \cdot 7} + ... + \frac{1}{1+\frac{1}{1+\frac{2}{1+\frac{3}{1+\frac{4}{1+...}}}}} \]

1911 wird eine erste Abhandlung Einige Eigenschaften der Bernoulli-Zahlen im Journal of the Indian Mathematical Society veröffentlicht (diese Zahlen hatte Jakob Bernoulli bei der Reihenentwicklung der Tangensfunktion entdeckt). Unter den Mathematikern im Umkreis von Madras verbreitet sich sein Ruf als mathematisches Genie. Vergeblich bemüht sich der Gründer der Indian Mathematical Society (IMS), Ramachandra Rao, um ein Stipendium für ihn; auch bleiben Empfehlungsschreiben indischer Mathematiker an Professoren englischer Universitäten ohne den gewünschten Erfolg. Der mittellose Ramanujan lebt von den Almosen seiner Freunde. Als er erkrankt, kann eine notwendige Operation nur durchgeführt werden, weil der Arzt auf die Bezahlung verzichtet. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, bewirbt er sich um eine Stelle als Buchhalter in der Hafenverwaltung von Madras; dank der Fürsprache von Mitgliedern der IMS erhält er den Posten.

Ramanujans Unzufriedenheit mit seinen Lebensbedingungen wächst (ich bin schon halb verhungert – um mein Denkvermögen zu erhalten, benötige ich Nahrung …) und er selbst ergreift die Initiative und schreibt drei Mathematik-Professoren englischer Universitäten an; nur Godfrey Harold Hardy antwortet ihm. Zu den etwa 100 Gleichungen, die er seinem Brief beifügt, gehören beispielsweise:

\[1–5\cdot\left(\frac{1}{2}\right)^3 + 9\cdot \left( \frac{1\cdot3}{2\cdot4} \right)^3 –13\cdot\left( \frac {1\cdot3\cdot5}{2\cdot4\cdot6} \right) ^3 +...= \frac{2}{\pi} \]

und

\[1 + 9\cdot \left( \frac{1}{4} \right)^4 +17\cdot \left( \frac{1\cdot 5}{4\cdot 8} \right)^4 +25\cdot \left( \frac{1\cdot 5\cdot 9}{4\cdot 8\cdot 12}\right)^4 + ... =\frac{\sqrt{8}}{\sqrt{\pi} \cdot \Gamma^2 \left( \frac{3}{4} \right)} \]

wobei die von Leonhard Euler im Jahr 1730 entdeckte Gammafunktion definiert ist durch \(\Gamma(x)=\int_0^\infty t^{x-1} e^{-t} dt\)

Hardy gelingt es, ein Stipendium für einen zweijährigen Aufenthalt am Trinity College in Cambridge zu beschaffen; aber Ramanujan hat große Bedenken, sein Land zu verlassen – unter anderem fürchtet der orthodoxe Brahmane, die Zugehörigkeit zu seiner Kaste zu verlieren. Erst nach Einwirken indischer Mathematik-Professoren begibt er sich auf die vierwöchige Schiffsreise und erreicht sein Ziel im April 1914, wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Hardy und Littlewood vermitteln Ramanujan – mit großer Behutsamkeit – die Grundlagen »moderner Mathematik«, um die genialen Gedankengänge des indischen Mathematikers entsprechend den wissenschaftlichen Standards darstellen zu können. In Zusammenarbeit vor allem mit Hardy entstehen zahlreiche Arbeiten, die in Fachzeitschriften veröffentlicht werden; sieben dieser Schriften über hoch-zusammengesetzte Zahlen bilden die Grundlage für Ramanujans Dissertation im Jahr 1916.

Natürliche Zahlen, die keine Primzahlen sind, bezeichnet man als zusammengesetzte Zahlen. Konzentriert man sich auf diejenigen zusammengesetzten Zahlen, für welche die Anzahl der Teiler größer ist als für alle vorangegangenen Zahlen, dann erhält man nacheinander die \(4\) (drei Teiler), \(6\) (vier Teiler), \(12\) (sechs Teiler), \(24\) (acht Teiler), \(36\) (neun Teiler), \(48\) (zehn Teiler), \(60\) (zwölf Teiler), ...

Ramanujan entdeckt, dass bei allen diesen sogenannten hoch-zusammengesetzten Zahlen , wenn man sie als Primzahlpotenzen schreibt, die Folgen der Exponenten der Primzahlen \(2, 3, 5,\) ... monoton abnehmen: \(6 = 2^1\cdot3^1\) (die Exponentenfolge ist: \((1, 1);\) \(12 = 2^2\cdot 3^1 (2, 1);\) \(24 = 2^3\cdot 3^1 (3, 1);\) \(36 = 2^2\cdot3^2 (2, 2);\) \( 48 = 2^4\cdot3^1 (4, 1);\) \( 60 = 2^2\cdot3^1\cdot5^1 (2, 1, 1), …\)

Zu den klassischen Fragen der Zahlentheorie gehört(e) das Problem, auf wie viele Arten sich eine natürliche Zahl \(n\) in Summanden zerlegen lässt (dabei wird die Zerlegung in einen Summanden, also die Zahl selbst, mitgezählt).

Beispielsweise gilt für die Anzahl \(p(n)\) dieser sogenannten Partitionen: \(p(3) = 3\), da \(3 = 2+1 = 1+1+1 ;\) \( p(4) = 5\), da \(4 = 3+1 \) \(= 2+2 = 2+1+1\) \( = 1+1+1+1\) und \(p(5) = 7\), da \(5 = 4+1 \) \(= 3+2 = 3+1+1 \) \( = 2+2+1 = 2+1+1+1\) \( = 1+1+1+1+1.\) Die Folge \(p(n)\) wächst stark an; zum Beispiel gilt: \(p(50) = 204226\) und \(p(100) = 190569292\). Leonhard Euler war es gelungen, für die Berechnung von \(p(n)\) eine Rekursionsformel aufzustellen. Ramanujan entwickelt zusammen mit Hardy eine Näherungsformel: \(p(n)=\frac{1}{4n\sqrt{3}} e^{\pi\sqrt{2n/3}}\)

Auch interessiert sich Ramanujan für Primzahlen \((p_1 = 2, p_2 = 3, p_3 = 5, p_4 = 7, ...)\) und entdeckt »einfache« Beziehungen für gewisse unendliche Produkte:

\[ \prod_{k=1}^\infty \frac{p_k^2 + 1}{p_k^2 – 1} =\frac{5}{3} \cdot \frac{10}{8} \cdot\frac{26}{24} \cdot ... =\frac{5}{2} \]

und:

\[ \prod_{k=1}^\infty \left( 1+ \frac{1}{p_k^2} \right) =\left( 1+ \frac{1}{4}\right) \cdot \left( 1+ \frac{1}{9}\right) \cdot\left( 1+ \frac{1}{25}\right) \cdot ... =\frac{15}{\pi^2} \]

Ramanujans Entdeckungen im Bereich der Zahlentheorie zeigen, dass er einen »Blick« für Eigenschaften von Zahlen hat, die für andere verborgen sind. Zwei Episoden mögen dies verdeutlichen: Hardy besucht Ramanujan im Krankenhaus und berichtet dabei beiläufig, dass das von ihm benutzte Taxi die Nummer 1729 hatte – eine Zahl ohne besondere Eigenschaften, wie er (Hardy) vermutet. Ramanujan entgegnet: 1729 ist eine sehr interessante Zahl: 1729 ist die kleinste natürliche Zahl, die sich auf zwei Arten als Summe von Kubikzahlen darstellen lässt: \(1729 = 12^3 + 1^3 = 10^3 + 9^3\). Ein andermal soll Ramanujan folgende Knobelaufgabe ohne zu zögern gelöst haben: Die durchnummerierten Häuser eines Straßendorfes stehen alle auf einer Seite. Jemand wohnt in einem Haus mit einer Hausnummer, für welche die Summe der Hausnummern vor und hinter diesem Haus gleich ist. Wie viele Häuser hat das Dorf? Welche Hausnummer ist dies? (Ramanujan löst das Problem mithilfe eines Kettenbruchs…)

Der in den Tropen aufgewachsene Ramanujan kann das Klima im kalten, regnerischen England kaum ertragen; in den Wintermonaten erkrankt er regelmäßig und ist kaum in der Lage, wissenschaftlich zu arbeiten; auch hat er große Schwierigkeiten, sich gemäß den strengen religiösen Vorschriften angemessen vegetarisch zu ernähren. Während der Kriegszeit ist eine Rückkehr in die Heimat nicht möglich; in seiner Verzweiflung versucht er sich in London vor eine U-Bahn zu werfen. 1917 erkrankt Ramanujan lebensbedrohlich; fatalistisch sieht er dies als das für ihn bestimmte Schicksal an. Erst als ihm besondere Ehrungen zuteil werden, wächst sein Lebenswille wieder, und er beginnt erneut wissenschaftlich zu arbeiten: 1918 wird er zum Mitglied der Cambridge Philosophical Society sowie des Trinity College ernannt, wenige Wochen danach zum Mitglied der Royal Society of London.

Als der Krieg zu Ende ist, reist Ramanujan wieder in seine Heimat zurück, stirbt jedoch bereits ein halbes Jahr später vermutlich an Tuberkulose, möglicherweise spielt auch eine Ruhrepidemie eine Rolle, die in dieser Zeit in Madras grassiert.

Ramanujans Aufzeichnungen galten lange Zeit als verschollen; erst 1976 wurden sie wieder entdeckt; sie enthielten circa 600 Formeln ohne Beweis; für einige von ihnen ist bis heute noch kein Beweis gefunden worden.

Srinivasa Ramanujan (1887 – 1920)

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