: Die Erzeugung künstlichen Lebens
Eine verbreitete Vorstellung davon, wie die synthetische Biologie funktioniert, ist etwa diese: Wissenschaftler geben einige anorganische Verbindungen in ein Glas, in dem es, während sie umrühren, alsbald zu blubbern beginnt. Von den entstandenen komplexen Molekülen ist es dann nur noch ein kleiner Schritt bis hin zu den ersten Mikroben und damit zum Beginn des Lebens.
Soweit ist es zum Glück noch nicht. Und tatsächlich sind die Forscher aus der Disziplin der synthetischen Biologie bislang gar nicht so sehr daran interessiert, unbelebte Materie zu beleben. Denn sie sind noch weit davon entfernt, die grundlegenden Vorgänge zu verstehen, die es "toten" Verbindungen erlauben, sich in lebende, sich selbst vermehrende Zellen zu verwandeln. Es bleibt schwierig, das berühmte Miller-Urey-Experiment aus dem Jahr 1952, bei dem aus einer Art Ursuppe Aminosäuren entstanden, überzeugend zu reproduzieren (Der Ursprung irdischen Lebens, SdW 3/2010).
"Man muss nun nicht mehr direkt von den Eltern abstammen"
Heute verfolgt die synthetische Biologie vielmehr das Ziel, bereits bestehende Organismen zu verändern. Dabei ersetzen die Forscher nicht nur einzelne Gene, sondern modifizieren gleich ganze Genabschnitte oder sogar das komplette Genom. So bringen sie die Organismen dazu, Chemikalien wie Treibstoffe oder gar medizinisch wirksame Substanzen zu produzieren. "Sie konstruieren die Befehlssätze für das Leben von Grund auf neu und fügen sie einem bereits lebenden Organismus hinzu", erklärt Drew Endy, Molekularbiologe an der kalifornischen Stanford University. "Dessen eigene Befehlssätze werden dabei ersetzt." Anders gesagt: "Dies ist ein alternativer Weg, um Lebensformen auf der Erde hervorzubringen. Dass man direkt von seinen Eltern abstammt, ist nun nicht mehr notwendig."
Einige Forscher halten es für wenig sinnvoll, Zellen künstlich zu fabrizieren, wenn es die Originale schon gibt. "Will man etwas herstellen, das einer existierenden Zelle möglichst stark ähnelt, kann man auch gleich die Zelle selbst nehmen", sagt George M. Church, Genetiker und Technologieentwickler an der Harvard Medical School in Boston. Schließlich ist die Manipulation von Genomen längst möglich und mittlerweile weit verbreitet, selbst Schullehrer leiten ihre höheren Jahrgänge schon zu entsprechenden Experimenten an.
Tatsächlich geht es in der synthetischen Biologie vor allem darum, die Prinzipien der Ingenieurskunst auf die Biologie zu übertragen. Man stelle sich eine Welt vor, in der die Bambuspflanze so umprogrammiert wurde, dass sie von vornherein die Form eines Stuhls annimmt; man stelle sich Solarzellen vor, die von selbst heranwachsen – so wie dies die Blätter von Pflanzen längst tun; Bäume, deren Stämme Dieselkraftstoff absondern; Mikroorganismen oder ganze biologische Systeme, die Umweltverschmutzungen beseitigen oder Einfluss auf den Klimawandel nehmen. Ganze "Armeen lebender Ärzte" sind denkbar: umprogrammierte Bakterien, die direkt in den menschlichen Organismus eingreifen und dort Krankheiten bekämpfen.
Große Versprechen bergen große Risiken
"Im Prinzip lässt sich alles, was wir produzieren, auch mit Hilfe der Biologie herstellen", behauptet Church. In kleinem Maßstab geschieht dies bereits. In Waschmitteln beispielsweise werden Enzyme von Mikroben eingesetzt, die normalerweise in sehr warmer Umgebung leben. Die Enzyme konnten Forscher nun so verändern, dass sie auch in kaltem Wasser ihre Funktion erfüllen und so helfen, Energie zu sparen. Die synthetische Biologie "wird binnen hundert Jahren auf fundamentale Weise unsere sämtlichen Herstellungsprozesse verändern", prophezeit David Rejeski, Leiter des Wissenschafts-, Technologie- und Innovationsprogramms am Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, D.C. "Mit Hilfe der Biologie können wir Materialien jetzt maßschneidern. Der kommende Wandel wird der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert in nichts nachstehen."
Große Versprechen bergen indes hohe Risiken. Dazu zählt insbesondere, dass veränderte Organismen aus den Laboren entkommen könnten. Zwar dürften die meisten dieser Kreaturen nicht in der Lage sein, in freier Wildbahn zu überleben. Aber künftig, wenn die Verfahren der Biotechnologen immer ausgefeilter werden, müssen wohl Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Strikte Kontrollen wären erforderlich, so die Forscher, aber auch eine Selbstzerstörungssequenz im neuen genetischen Code komme in Frage. Da sie Organismen genetisch mittlerweile komplett zu verändern vermögen, lassen sie sich vollständig von natürlichen Systemen isolieren. "Wir können sie so fertigen, dass sie schnell zugrunde gehen", sagt Envy.
Nichtsdestotrotz versuchen einige Forscher tatsächlich, das Leben neu zu erschaffen. Carole Lartigue, Hamilton Smith und ihre Kollegen am J. Craig Venter Institute, das Standorte in Kalifornien und Maryland unterhält, haben ein Bakteriengenom von Grund auf neu zusammengesetzt Erstes künstliches Lebewesen?, SdW 8/2010). In anderen Labors haben Forscher synthetische Organellen erzeugt, also Zellbestandteile mit bestimmten Funktionen, und sogar ein komplett neuartiges Organell entwickelt, ein so genanntes Synthosom. Dieses soll Enzyme produzieren, die dann ebenfalls wieder für die synthetische Biologie eingesetzt werden. Leben vom Reißbrett ist keine Utopie mehr.
Solche Fortschritte bedeuten nicht unbedingt, dass Wissenschaftler eines Tages verstehen werden, wie das Leben einst entstanden ist. Gleichwohl könnten sie Ängste erwecken, dass sich Menschen immer mehr als Götter aufspielen. Sie könnten aber auch unser Verständnis für die anderen Lebensformen vertiefen, mit denen wir uns die Erde teilen. "Der Nutzen könnte darin bestehen, dass unsere Zivilisation in eine Partnerschaft mit dem Leben auf molekularem Niveau eintritt und dann die Materialien, die Energie und die Rohstoffe, die sie benötigt, auf nachhaltige Weise erzeugen könnte", sagt Endy. "Es entstünde ein ausbalanciertes Verhältnis zu dem übrigen Leben auf unserem Planeten – und das wäre etwas ganz Anderes als die Art und Weise, in der wir heute die Natur behandeln."
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