Ethnolinguistik: Die Vielzüngigen und Eintönigen
Während es in manchen Weltgegenden "Nächstes Dorf, nächste Sprache" heißt, herrscht in Europa traurige Öde im Sprachenatlas: Nur ein paar Idiome bevölkern hier die Karte. Warum das so ist, erklären Forscher mit einem verblüffend einfachen Faktor.
Es ist eine einfache Frage, die Ethnologen und Linguisten gleichermaßen umtreibt: Wie kommt es eigentlich, dass auf einer Insel wie Neuguinea rund 1000 Sprachen gesprochen werden, während auf einer vergleichbar großen Fläche in Europa bestenfalls ein Dutzend zu hören sind?
Und es ist nicht nur die Schwankungsbreite an sich, die bemerkenswert ist: Ein unübersehbares Verteilungsmuster herrscht rund um den Globus vor. Je näher man dem Äquator kommt, desto größer wird die Vielfalt der Sprachen. Alles nur Zufall, Produkt historischer Fügung? Keineswegs, sagen Sprachwissenschaftler. Selbst wenn man ausschließlich die Situation vor der Kolonialzeit berücksichtigt – den Einfluss der westlichen Zivilisation also außen vor lässt –, bleibt das globale Verteilungsmuster erhalten. Die Linguistin Johanna Nichols von der University of California in Berkeley brachte Anfang der 1990er Jahre eine umfassende Analyse des Phänomens heraus.
Die Sprachendichte auf einem gegebenen Gebiet sei von einer Hand voll Faktoren abhängig, lautete ihr Schluss. Küstenregionen bieten beispielsweise genügend Ressourcen, um auch kleine Gruppen mit ihrem eigenen Idiom am Leben zu erhalten, während es im trockeneren Landesinneren von Vorteil ist, sich zusammenzutun. So schrumpfen Sprachgemeinschaften im einen Fall, während sie im zweiten wachsen. In höheren Lagen oder auf Inseln führt dagegen geografische Isolation zur Koexistenz vieler Kleingruppen. Weil sich die Umweltbedingungen systematisch mit dem Breitengrad ändern, steckt in dieser Analyse auch einen Grund für das rätselhafte Phänomen der Sprachenvielfalt am Äquator.
Kultur statt Ökologie
Bei Nichols lief also alles auf eine Erklärung über die Wirtschaftsform hinaus: Wo die Umwelt günstig für das Überleben als Kleingruppe ist, ist die Sprachendichte hoch. Wer mühsam dem Acker sein Brot abringt und womöglich Güter erhandeln muss, gehört mit höherer Wahrscheinlichkeit einer großen Sprachgemeinschaft an.
In der Biologie gibt es einen ganz ähnlichen Zusammenhang: Der Artenreichtum sinkt wie die Sprachenvielfalt mit dem Breitengrad. In beiden Fällen könnten daher Umweltfaktoren die Hauptrolle spielen, sofern man, wie Nichols, die Situation vor einigen hundert Jahren betrachtet. Schaut man sich allerdings die Situation an, wie wir sie heutzutage vorfinden, gewinnt ein Faktor an Einfluss, den jetzt Thomas Currie und Ruth Mace vom University College London in einer groß angelegten Untersuchung identifizierten.
Die Ethnologen nahmen einen Sprachenatlas und ergänzten ihn um Informationen über die Dauer der Erntezeit, die ökologische Produktivität und weitere ökologisch-wirtschaftliche Faktoren. Dann erfassten sie außerdem, wie hierarchisch eine Gesellschaft organisiert ist: Kleine Stammesgesellschaften bekamen eine Null, überregionale Systeme mit einem Häuptling an der Spitze eine Zwei und schließlich große Staaten eine Vier.
Je höher diese "politische Komplexität" in einer Region, desto weniger Sprachen wurden dort gesprochen. Etwas über die Hälfte der beobachteten Variabilität lasse sich mittels dieses Faktors erklären, so die Forscher – damit sage er die Sprachendichte weit besser voraus als es die ökologisch-wirtschaftlichen Umstände vor Ort könnten. Insgesamt 602 Sprachgemeinschaften aus Europa und Asien, für die alle nötigen Informationen aufzutreiben waren, flossen in ihre Untersuchung ein.
Vom Dialekt zur Weltsprache
Besser organisierte Gemeinschaften neigen demnach dazu, die Sprachen in ihrem Einflussbereich zu vereinheitlichen – ein Prozess, der sich in Europa vermutlich schon relativ früh in Form der indoeuropäischen Einwanderung bemerkbar gemacht hat. Currie und Mace glauben, dass Gemeinschaften, die Zusammenarbeit vielleicht nie notwendig hatten, in Schwierigkeiten geraten, wenn es gegen gut aufgestellten Invasoren geht. Das römische Imperium, das die Sprache einer mittelitalienischen Ortschaft über den halben Weltkreis verbreitete, liefert eines der überzeugendsten Beispiele für diese Theorie.
Unklar bleibt bei ihrer Untersuchung allerdings, ob nicht der Organisationsgrad einer Gesellschaft eher dann wächst, wenn sie expandiert – und nicht umgekehrt, wie Currie und Mace behaupten. Dann wären die Ergebnisse nur bedingt brauchbar. Denn dass große Volksgruppen auch eine große Sprachgemeinschaft bilden, ist nicht überraschend.
Auch wollen die beiden Ethnologen nicht ausschließen, dass Gruppengröße und Organisationsform letzten Endes zu einem Gutteil wieder an die altbekannten ökologisch-wirtschaftlichen Faktoren gekoppelt sind. Wäre das nicht der Fall, könnten sie das Breitengrad-Phänomen nicht erklären. Tatsächlich aber waren die Gesellschaften in Äquatornähe einfacher gestrickt als in höheren Breitenkreisen – ein klares Indiz für einen Zusammenhang mit der Umwelt.
Aber wenn es schon gesellschaftliche Faktoren sein sollen – warum nicht einmal ganz woanders suchen? Spielt nicht im 21. Jahrhundert Medienkonsum und Telekommunikation die viel wichtigere Rolle? Sie lassen nämlich eine Standardsprache entstehen, die regionale Idiome ins Abseits drängt. Und so gesehen, würde es sich für die Forscher vielleicht lohnen, demnächst die Anzahl der Fernseher zu erfassen.
Und es ist nicht nur die Schwankungsbreite an sich, die bemerkenswert ist: Ein unübersehbares Verteilungsmuster herrscht rund um den Globus vor. Je näher man dem Äquator kommt, desto größer wird die Vielfalt der Sprachen. Alles nur Zufall, Produkt historischer Fügung? Keineswegs, sagen Sprachwissenschaftler. Selbst wenn man ausschließlich die Situation vor der Kolonialzeit berücksichtigt – den Einfluss der westlichen Zivilisation also außen vor lässt –, bleibt das globale Verteilungsmuster erhalten. Die Linguistin Johanna Nichols von der University of California in Berkeley brachte Anfang der 1990er Jahre eine umfassende Analyse des Phänomens heraus.
Die Sprachendichte auf einem gegebenen Gebiet sei von einer Hand voll Faktoren abhängig, lautete ihr Schluss. Küstenregionen bieten beispielsweise genügend Ressourcen, um auch kleine Gruppen mit ihrem eigenen Idiom am Leben zu erhalten, während es im trockeneren Landesinneren von Vorteil ist, sich zusammenzutun. So schrumpfen Sprachgemeinschaften im einen Fall, während sie im zweiten wachsen. In höheren Lagen oder auf Inseln führt dagegen geografische Isolation zur Koexistenz vieler Kleingruppen. Weil sich die Umweltbedingungen systematisch mit dem Breitengrad ändern, steckt in dieser Analyse auch einen Grund für das rätselhafte Phänomen der Sprachenvielfalt am Äquator.
Kultur statt Ökologie
Bei Nichols lief also alles auf eine Erklärung über die Wirtschaftsform hinaus: Wo die Umwelt günstig für das Überleben als Kleingruppe ist, ist die Sprachendichte hoch. Wer mühsam dem Acker sein Brot abringt und womöglich Güter erhandeln muss, gehört mit höherer Wahrscheinlichkeit einer großen Sprachgemeinschaft an.
In der Biologie gibt es einen ganz ähnlichen Zusammenhang: Der Artenreichtum sinkt wie die Sprachenvielfalt mit dem Breitengrad. In beiden Fällen könnten daher Umweltfaktoren die Hauptrolle spielen, sofern man, wie Nichols, die Situation vor einigen hundert Jahren betrachtet. Schaut man sich allerdings die Situation an, wie wir sie heutzutage vorfinden, gewinnt ein Faktor an Einfluss, den jetzt Thomas Currie und Ruth Mace vom University College London in einer groß angelegten Untersuchung identifizierten.
Die Ethnologen nahmen einen Sprachenatlas und ergänzten ihn um Informationen über die Dauer der Erntezeit, die ökologische Produktivität und weitere ökologisch-wirtschaftliche Faktoren. Dann erfassten sie außerdem, wie hierarchisch eine Gesellschaft organisiert ist: Kleine Stammesgesellschaften bekamen eine Null, überregionale Systeme mit einem Häuptling an der Spitze eine Zwei und schließlich große Staaten eine Vier.
Je höher diese "politische Komplexität" in einer Region, desto weniger Sprachen wurden dort gesprochen. Etwas über die Hälfte der beobachteten Variabilität lasse sich mittels dieses Faktors erklären, so die Forscher – damit sage er die Sprachendichte weit besser voraus als es die ökologisch-wirtschaftlichen Umstände vor Ort könnten. Insgesamt 602 Sprachgemeinschaften aus Europa und Asien, für die alle nötigen Informationen aufzutreiben waren, flossen in ihre Untersuchung ein.
Vom Dialekt zur Weltsprache
Besser organisierte Gemeinschaften neigen demnach dazu, die Sprachen in ihrem Einflussbereich zu vereinheitlichen – ein Prozess, der sich in Europa vermutlich schon relativ früh in Form der indoeuropäischen Einwanderung bemerkbar gemacht hat. Currie und Mace glauben, dass Gemeinschaften, die Zusammenarbeit vielleicht nie notwendig hatten, in Schwierigkeiten geraten, wenn es gegen gut aufgestellten Invasoren geht. Das römische Imperium, das die Sprache einer mittelitalienischen Ortschaft über den halben Weltkreis verbreitete, liefert eines der überzeugendsten Beispiele für diese Theorie.
Unklar bleibt bei ihrer Untersuchung allerdings, ob nicht der Organisationsgrad einer Gesellschaft eher dann wächst, wenn sie expandiert – und nicht umgekehrt, wie Currie und Mace behaupten. Dann wären die Ergebnisse nur bedingt brauchbar. Denn dass große Volksgruppen auch eine große Sprachgemeinschaft bilden, ist nicht überraschend.
Auch wollen die beiden Ethnologen nicht ausschließen, dass Gruppengröße und Organisationsform letzten Endes zu einem Gutteil wieder an die altbekannten ökologisch-wirtschaftlichen Faktoren gekoppelt sind. Wäre das nicht der Fall, könnten sie das Breitengrad-Phänomen nicht erklären. Tatsächlich aber waren die Gesellschaften in Äquatornähe einfacher gestrickt als in höheren Breitenkreisen – ein klares Indiz für einen Zusammenhang mit der Umwelt.
Aber wenn es schon gesellschaftliche Faktoren sein sollen – warum nicht einmal ganz woanders suchen? Spielt nicht im 21. Jahrhundert Medienkonsum und Telekommunikation die viel wichtigere Rolle? Sie lassen nämlich eine Standardsprache entstehen, die regionale Idiome ins Abseits drängt. Und so gesehen, würde es sich für die Forscher vielleicht lohnen, demnächst die Anzahl der Fernseher zu erfassen.
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