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Wie kann etwas erforscht werden, wenn das Forschungsobjekt selbst als grundlegendes Instrumentarium zur Erkenntnisgewinnung eingesetzt werden muss? Im Folgenden der Versuch eines persönlichen Gedankenspiels zum Stand der Hirnforschung, angeregt durch den Artikel "Das Manifest" in Gehirn&Geist 6/2004.
Von Corina Winzer
Die Ergebnisse der bisherigen Erforschung des Mysteriums "Gehirn" sind durchaus faszinierend - so können uns Hirnforscher kartographisch genau veranschaulichen, dass primär der Gyrus temporalis superior und das Planum polare neuronal erregt werden, wenn wir uns Melodien zu Gemüte führen. Auch weshalb ein erstes Bier eine enthemmte und von Glücksgefühlen geprägte Stimmung auslösen kann - dies aufgrund der Einflussnahme der Droge auf das Belohnungssystem und einer entsprechenden Ausschüttung der Botenstoffe Dopamin und Serotonin - ist bekannt; bei massvoll fortgesetztem Konsum des allseits beliebten Nervengiftes kann dies angenehm anregend wirken, bei einer zu hohen Intoxikation hingegen wird das GABA-System, sowie jegliche weitere Gehirnaktivität, gehemmt. Gleicherweise wurde etwa die anatomische Plastizität dokumentiert: Die Neurowissenschaftler Dr. Bogdan Draganski hat mit Kollegen (2004) nachgewiesen, dass die Dichte der grauen Substanz nach einem dreimonatigem Training Ball-Jonglierens, zugenommen hat. Indes haben wir nie ausgelernt, im Gegenteil: Einst Gelerntes geht zwar nicht vergessen, es bedarf aber der richtigen Strategie, in der Vergangenheit abgelegte Informationen wiederzufinden und etwas adäquaten Trainings - ganz nach der von Prof. Lutz Jäncke propagierten Devise: "Use it or lose it".
Womöglich finden psychische Prozesse im Gehirn statt, Ängste haben beispielsweise einen Bezug zur Aktivierung der Amygdala, wobei unbewusste Prozesse den bewussten vorangehen: Visuelle Informationen aktivieren das affektive Gedächtnissystem (z. B. "Achtung Schlange!") über Projektionen der Amygdala zum anterioren Gyrus cinguli und zum ventromedialen präfrontalen Cortex, wobei diese Gedächtnissysteme das autonome Nervensystem (Herzschlag, Blutdruck) modulieren und das Verhalten über Projektionen zum präfrontalen Cortex beeinflussen: "fight or flight"?
Doch wie genau das Gehirn Informationen abspeichert, logische Schlüsse zieht, Vorstellungen erzeugt oder Entscheidungen fällt, ist nicht restlos erwiesen. Um diese Prozesse zu verstehen, müsste erschlossen werden, was sich auf der geheimnisvollen, so genannten mittleren Ebene des Gehirnbereichs, vollzieht: Wie bringen neuronale Netze und Zellverbände Angst, Denken oder einen genialen Einfall hervor? Wohl wurden spezifische Verhaltensweisen von Versuchstieren mit biochemischen und elektrischen Prozessen in Beziehung gesetzt, doch Korrelationen erlauben keine konkreten Rückschlüsse zwischen hirnphysiologischen Vorgängen und Verhaltensweisen. An dieser Stelle sind darüber hinaus Zweifel angebracht, ob denn Ergebnisse und Interpretationen von Tierversuchen bzw. dessen Rückschlüsse auf den Menschen überhaupt zulässig sind, zumal die beiden Spezies sich nur schon in punkto Sprachbegabung gänzlich voneinander unterscheiden.
Führen wir uns die von Frank Rösler aufgetischten Zahlen nochmals zu Gemüte: Das menschliche Gehirn besitzt etwa 1012 Neuronen, wobei jedes über synaptische Verbindungen mit mindestens 106 anderen Neuronen interagiert; die Gesamtzahl der beteiligten Synapsen liegt folglich in der Größenordnung von 1018. Möchte nun ein Forscher einen spezifischen Gehirnzustand prophezeien, dann müsste er die gleichzeitige Aktivität von unvorstellbar vielen Neuronen registrieren und all deren Interaktionsregeln kennen, mit denen sie von einem gewissen Neuronenzustand in den Vorauszusehenden gelangen; wobei unter anderem außerdem auch der Zustand aller Synapsen, welche ihrerseits den Einfluss der Neuronen aufeinander vermitteln, bekannt sein müsste. Soweit interessant - das Gehirn funktioniert vielleicht bis zu einem gewissen Grad deterministisch, aber wie sollen Interaktion von Abermillionen Neuronen und Synapsen je nach spezifischer Funktionsweise vor dem Hintergrund einer individuellen Lerngeschichte und spezifischer genetischer Anlage je vorausgesagt werden können? Eine eminente Komplexität, die nicht vollständig fass- und beschreibbar ist.
Freilich ist indes das Ganze mehr als die Summe seiner Teile: In Anlehnung an die Erkenntnisse der Gestaltpsychologen sowie der Systemtheorie von Niklaus Luhmann, gehe ich davon aus, dass auch der Mensch eine Art Entität verkörpert und mittels autonomer Teilsysteme funktioniert, deren Auswirkungen dank der Wechselwirkungen zwischen den Teilsystemen weitaus größer sind, als es die Kraft eines einzelnen Teilsystems zulassen würde. Ein Beispiel: der so genannte "Blinde Fleck" der Wahrnehmung liegt an der Austrittstelle des Sehnervs; dort wäre gewissermassen ein schwarzes Loch, welches allerdings durch das visuelle System mit Umgebungsfarbe aufgefüllt wird. Wahrnehmen tut ohnehin ein jeder spezifisch - selektiv, bruchstückhaft, verzerrt; und manche Lücken füllen wir zuweilen mit irrender Phantasie.
Zu guter Letzt stelle ich mir die Frage: Ist denn Forschung unter Zuhilfenahme des Untersuchungsgegenstandes als Grundvoraussetzung des Instrumentariums möglich? Wie kann man einen Teil seiner selbst erforschen, welchen man zum Zweck der Erkenntnisgewinnung und vermeintlicher Ergebnisinterpretation als primäres, ja einziges Forschungsinstrument zwingend benötigt, während die genaue Funktionsweise eben dieses Werkzeuges weitgehend unbekannt ist? Das Mysterium Gehirn bleibt womöglich noch lange eine nicht vollends erklärbare "Black Box".
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"Black Box"
03.11.2008, Corina Winzer, ZürichWie kann etwas erforscht werden, wenn das Forschungsobjekt selbst als grundlegendes Instrumentarium zur Erkenntnisgewinnung eingesetzt werden muss? Im Folgenden der Versuch eines persönlichen Gedankenspiels zum Stand der Hirnforschung, angeregt durch den Artikel "Das Manifest" in Gehirn&Geist 6/2004.
Von Corina Winzer
Die Ergebnisse der bisherigen Erforschung des Mysteriums "Gehirn" sind durchaus faszinierend - so können uns Hirnforscher kartographisch genau veranschaulichen, dass primär der Gyrus temporalis superior und das Planum polare neuronal erregt werden, wenn wir uns Melodien zu Gemüte führen. Auch weshalb ein erstes Bier eine enthemmte und von Glücksgefühlen geprägte Stimmung auslösen kann - dies aufgrund der Einflussnahme der Droge auf das Belohnungssystem und einer entsprechenden Ausschüttung der Botenstoffe Dopamin und Serotonin - ist bekannt; bei massvoll fortgesetztem Konsum des allseits beliebten Nervengiftes kann dies angenehm anregend wirken, bei einer zu hohen Intoxikation hingegen wird das GABA-System, sowie jegliche weitere Gehirnaktivität, gehemmt. Gleicherweise wurde etwa die anatomische Plastizität dokumentiert: Die Neurowissenschaftler Dr. Bogdan Draganski hat mit Kollegen (2004) nachgewiesen, dass die Dichte der grauen Substanz nach einem dreimonatigem Training Ball-Jonglierens, zugenommen hat. Indes haben wir nie ausgelernt, im Gegenteil: Einst Gelerntes geht zwar nicht vergessen, es bedarf aber der richtigen Strategie, in der Vergangenheit abgelegte Informationen wiederzufinden und etwas adäquaten Trainings - ganz nach der von Prof. Lutz Jäncke propagierten Devise: "Use it or lose it".
Womöglich finden psychische Prozesse im Gehirn statt, Ängste haben beispielsweise einen Bezug zur Aktivierung der Amygdala, wobei unbewusste Prozesse den bewussten vorangehen: Visuelle Informationen aktivieren das affektive Gedächtnissystem (z. B. "Achtung Schlange!") über Projektionen der Amygdala zum anterioren Gyrus cinguli und zum ventromedialen präfrontalen Cortex, wobei diese Gedächtnissysteme das autonome Nervensystem (Herzschlag, Blutdruck) modulieren und das Verhalten über Projektionen zum präfrontalen Cortex beeinflussen: "fight or flight"?
Doch wie genau das Gehirn Informationen abspeichert, logische Schlüsse zieht, Vorstellungen erzeugt oder Entscheidungen fällt, ist nicht restlos erwiesen. Um diese Prozesse zu verstehen, müsste erschlossen werden, was sich auf der geheimnisvollen, so genannten mittleren Ebene des Gehirnbereichs, vollzieht: Wie bringen neuronale Netze und Zellverbände Angst, Denken oder einen genialen Einfall hervor? Wohl wurden spezifische Verhaltensweisen von Versuchstieren mit biochemischen und elektrischen Prozessen in Beziehung gesetzt, doch Korrelationen erlauben keine konkreten Rückschlüsse zwischen hirnphysiologischen Vorgängen und Verhaltensweisen. An dieser Stelle sind darüber hinaus Zweifel angebracht, ob denn Ergebnisse und Interpretationen von Tierversuchen bzw. dessen Rückschlüsse auf den Menschen überhaupt zulässig sind, zumal die beiden Spezies sich nur schon in punkto Sprachbegabung gänzlich voneinander unterscheiden.
Führen wir uns die von Frank Rösler aufgetischten Zahlen nochmals zu Gemüte: Das menschliche Gehirn besitzt etwa 1012 Neuronen, wobei jedes über synaptische Verbindungen mit mindestens 106 anderen Neuronen interagiert; die Gesamtzahl der beteiligten Synapsen liegt folglich in der Größenordnung von 1018. Möchte nun ein Forscher einen spezifischen Gehirnzustand prophezeien, dann müsste er die gleichzeitige Aktivität von unvorstellbar vielen Neuronen registrieren und all deren Interaktionsregeln kennen, mit denen sie von einem gewissen Neuronenzustand in den Vorauszusehenden gelangen; wobei unter anderem außerdem auch der Zustand aller Synapsen, welche ihrerseits den Einfluss der Neuronen aufeinander vermitteln, bekannt sein müsste. Soweit interessant - das Gehirn funktioniert vielleicht bis zu einem gewissen Grad deterministisch, aber wie sollen Interaktion von Abermillionen Neuronen und Synapsen je nach spezifischer Funktionsweise vor dem Hintergrund einer individuellen Lerngeschichte und spezifischer genetischer Anlage je vorausgesagt werden können? Eine eminente Komplexität, die nicht vollständig fass- und beschreibbar ist.
Freilich ist indes das Ganze mehr als die Summe seiner Teile: In Anlehnung an die Erkenntnisse der Gestaltpsychologen sowie der Systemtheorie von Niklaus Luhmann, gehe ich davon aus, dass auch der Mensch eine Art Entität verkörpert und mittels autonomer Teilsysteme funktioniert, deren Auswirkungen dank der Wechselwirkungen zwischen den Teilsystemen weitaus größer sind, als es die Kraft eines einzelnen Teilsystems zulassen würde. Ein Beispiel: der so genannte "Blinde Fleck" der Wahrnehmung liegt an der Austrittstelle des Sehnervs; dort wäre gewissermassen ein schwarzes Loch, welches allerdings durch das visuelle System mit Umgebungsfarbe aufgefüllt wird. Wahrnehmen tut ohnehin ein jeder spezifisch - selektiv, bruchstückhaft, verzerrt; und manche Lücken füllen wir zuweilen mit irrender Phantasie.
Zu guter Letzt stelle ich mir die Frage: Ist denn Forschung unter Zuhilfenahme des Untersuchungsgegenstandes als Grundvoraussetzung des Instrumentariums möglich? Wie kann man einen Teil seiner selbst erforschen, welchen man zum Zweck der Erkenntnisgewinnung und vermeintlicher Ergebnisinterpretation als primäres, ja einziges Forschungsinstrument zwingend benötigt, während die genaue Funktionsweise eben dieses Werkzeuges weitgehend unbekannt ist? Das Mysterium Gehirn bleibt womöglich noch lange eine nicht vollends erklärbare "Black Box".