Geometrie: Eine ganze Schule baut ein Sierpinski-Tetraeder
Eigentlich sind Fraktale aus der Mode gekommen. Aber auch wenn man diese schönen bunten Apfelmännchen nicht mehr sehen kann und die Schüler sie nicht mehr programmieren mögen – das Thema hat alles, was einen guten Stoff für die Schule neben dem Standardunterricht ausmacht: Überraschungseffekte (was ist eine nicht-ganzzahlige Dimension?), Realitätsbezug (jeder Blumenkohl ist ein Fraktal, und der Romanesco erst!), jede Menge Anwendungen für die härteren Konzepte aus der Schulmathematik (Logarithmus, Grenzwerte, stabile und instabile Fixpunkte, …) und philosophische Implikationen (Chaos, Determinismus, Willensfreiheit …). Mehr dazu findet sich bei Wissenschaft in die Schulen.
Keine abwegige Idee also, dass eine ganze Schule, das Albert-Schweitzer-Gymnasium in Gundelfingen bei Freiburg, ihren "Tag der Mathematik" am 22. Mai dieses Jahres unter das Thema "Fraktale" stellt (nicht nur, aber auch). Und ich lande einen Erfolg nicht nur mit dem unmodernen Thema, sondern mit einer geradezu antiquierten Technik: Papierbasteln!
Für die Großen halte ich einen Einführungsvortrag; hinterher entdecken die Lehrer, dass man das meiste davon mit Schulmitteln – nicht ohne Mühe, aber immerhin – nachvollziehen kann. Die nicht ganz so Großen (Klasse 5 bis 10) basteln derweil ein Fraktal. Kein echtes natürlich: Unendlich viele unendlich kleine Dinge sind schlecht zu basteln. Aber 210=1024 ist schon eine ganz ordentliche Näherung an unendlich.
Man nehme ein reguläres Tetraeder (eine dreiseitige Pyramide, die von vier gleichseitigen Dreiecken begrenzt wird) und ersetze es durch vier auf die halbe Länge verkleinerte Kopien seiner selbst, und zwar so, dass in jeder Ecke des großen Tetraeders ein kleines sitzt und die kleinen gerade Ecke an Ecke aneinanderstoßen. Diese Prozedur wiederhole man mit jedem der vier kleinen Tetraeder, das macht 16 ganz kleine, auf die kann man dieselbe Vorschrift wieder anwenden, und so weiter. Im Grenzwert bleibt von dem ursprünglichen Tetraeder nur ein Fraktal übrig, das Sierpinski-Tetraeder, das über die merkwürdigsten Eigenschaften verfügt: Volumen null, Kantenlänge unendlich, Oberfläche gleich der des Ursprungstetraeders.
Für das Basteln hören wir bei der fünften Iterationsstufe auf. Dazu basteln wir die 1024 Tetraeder, plus doppelt so viele "Schuhe". Da die einzelnen kleinen Tetraeder nur Ecke an Ecke aneinanderstoßen, würden sie nicht zusammenhalten, wenn man nicht je zwei zusammengehörige Ecken in einen Schuh stecken würde, ein Papierding mit zwei Öffnungen und ein paar kleinen, unauffällig schwarz gefärbten Stabilisierungsflächen. Ich habe die Schuhe so eingefärbt wie die Tetraeder selbst – jede der vier Flächen in einer anderen Farbe –, aber dunkler. So kommt man aus der Ferne auf die Idee, ein kleines Tetraeder seien sogar vier!
Der Aufbau des großen Werks findet "bottom-up" statt: Die Kinder kleben aus je vier Tetraedern einen "Vierer" zusammen. Vier Vierer ergeben einen Sechzehner, und so weiter.
Die ersten Teilprodukte bieten einen etwas rustikalen Anblick. So einfach ist das gar nicht, die Schuhe so anzukleben, dass hinterher eine schöne gerade Linie dabei zu Stande kommt.
Der erste Bastelbogen, den ich für das Sierpinski-Tetraeder entworfen habe, ist viel raffinierter. Er fasst Tetraeder- und Schuhflächen, soweit sie in ein und derselben Ebene liegen, möglichst zu einer einheitlichen Fläche auf dem Bastelbogen zusammen. Dann ergeben sich die schönen geraden Kanten fast von selbst. Aber beim Zusammenbau muss man getreulich der komplizierten Bauanleitung folgen und versteht erst ganz zum Schluss, was da eigentlich passiert. Das schätzen die Fünftklässler (und ihre Betreuer) nicht so besonders.
Die Endmontage machen dann doch lieber die Erwachsenen. Erst wenn man die großen Halbzeuge anhebt und in die letzten Schuhe schiebt, merkt man, dass vorher dieser oder jener Schuh doch aus Versehen nicht geklebt wurde. Hektisches Klebstoffträufeln, gespanntes Stillhalten, bis das dünnflüssige Zeug einigermaßen abgebunden hat, Weiterprobieren …
Noch am selben Nachmittag steht das Gesamtkunstwerk. Tags darauf ist es durchgetrocknet und hält der allgemeinen Bewunderung stand.
Mein besonderer Respekt gilt der Gruppe der Mathematiklehrer an dieser Schule. Die haben es geschafft, alle Stundenpläne dem großen Ziel unterzuordnen, waren als Betreuer präsent und haben reibungslos zusammengearbeitet. Das ist ungewöhnlich.
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