Heidelberg Laureate Forum: Pomp and Circumstances, oder: Ist Mathematik gesundheitsschädlich?
Das "1st Heidelberg Laureate Forum" startet mit großen Erwartungen – und großer Spannung. Für diese Veranstaltung gibt es zwar ein Vorbild, die Lindauer Nobelpreisträgertagung; aber wenn sich 40 hochrangige Preisträger mit 200 Nachwuchswissenschaftlern zu möglichst zwanglosem Gedankenaustausch treffen, kommt es entscheidend nicht nur auf das Ambiente, sondern auf die Persönlichkeiten der Beteiligten an.
Ersteres ist über allen Zweifel erhaben. Die romantische Altstadt von Heidelberg präsentiert sich im schönsten Spätsommerwetter, zahlreiche kräftig gebaute Herren mit schwarzem Anzug und Knopf im Ohr steuern die schwarzen Limousinen und passen auf, dass uns kein Leids geschieht, mehrere Kameraleute setzen Vortragende wie Fragende ins rechte Bild, bezaubernde Assistentinnen weisen uns den rechten Weg.
Und die Laureaten selbst? Das sind sämtlich Wissenschaftler von Weltruhm; nicht wenige von ihnen tragen von den "qualifizierenden" Auszeichnungen Fields-Medaille, Nevanlinna-Preis, Abelpreis und Turing Award gleich mehrere auf einmal. Aber eine Aura der Ehrfurcht verbreiten sie eigentlich nicht – mögen sie offensichtlich auch gar nicht. Höhepunkt der Eröffnungsveranstaltung am vergangenen Sonntag ist der feierliche Einzug der Preisträger, zu den Klängen von Edward Elgars "Pomp and Circumstances", sehr pompös und wahrscheinlich noch etwas getragener als eigentlich vorgesehen, denn einige der alten Herren gehen am Stock. Als einige Ansprachen später Vinton Cerf an der Reihe ist, in seiner Eigenschaft als Präsident der Association for Computing Machinery (ACM), die jedes Jahr den "Turing Award" verleiht, verkündet er, lieber als Pomp und Circumstances seien ihm die Darbietungen der vier Saxofonistinnen. Die treten prompt wieder auf, und man sieht etliche alte Damen und Herren zum Jazzrhythmus mit den Knien wippen.
Übrigens: Vinton Cerf ist selbst Turing-Preisträger. Gemeinsam mit Robert E. Kahn erhielt er 2004 die Auszeichnung für die Erfindung des Internets, genauer: seines Fundaments, des Protokolls TCP/IP. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, unter den Leuten herumzulaufen, die für einen wesentlichen Teil des modernen Lebens, die Computerei, die Grundlagen bereitgestellt haben. Ronald Rivest und Adi Shamir sind da, die gemeinsam mit Leonard Adleman die asymmetrischen Verschlüsselungssysteme ("RSA-Chiffre") erfunden haben, auf denen die gesicherte Datenübertragung basiert (Spektrum der Wissenschaft 10/1979, S. 92); Stephen Cook, der die theoretischen Grundlagen für den Begriff der NP-Vollständigkeit legte; Richard Karp, der mit seiner Theorie der rechnerischen Komplexität die Grundlage dafür lieferte; Ivan Sutherland, der Vater der Computergrafik, und etliche mehr. Nur Doug Engelbart, dem die Welt die Computermaus, das Prinzip der grafischen Benutzeroberfläche und einiges mehr verdankt, hat es nicht mehr geschafft; er starb am 2. Juli dieses Jahres. Die Versammlung widmet ihm eine Schweigeminute.
Unter den anwesenden Laureaten findet sich eine einzige Frau – kein Fall für die Gleichstellungsbeauftragte, sondern schlichter Ausdruck der Tatsache, dass die Wissenschaft im Allgemeinen und Mathematik/Informatik im Besonderen in der Vergangenheit krass männerdominiert waren. Unter den Jungforschern sieht das Verhältnis schon deutlich ausgewogener aus. Dass aber die Informatiker (genauer: die Vertreter der "computer science", was etwas mehr umfasst, als die Deutschen unter "Informatik" verstehen) eine satte Dreiviertelmehrheit stellen, hatte sich Klaus Tschira, der Initiator und Stifter der ganzen Veranstaltung, eigentlich nicht so vorgestellt. Schlimmer noch: Von den wenigen Mathematikern mussten zwei wegen Krankheit kurzfristig absagen.
Ist Mathematik etwa der Gesundheit nicht zuträglich? Diese Hypothese kann rasch widerlegt werden. Die so gerne in Filmen transportierte Vorstellung, geniale Mathematiker seien sowieso alle verrückt, will einem genialen Mathematiker ohnehin wenig einleuchten. Außerdem nehmen die Mathematiker in Umfragen zur Lebenszufriedenheit regelmäßig einen der vordersten Plätze ein. Schwer vorstellbar, dass ihnen ihre Tätigkeit so viel Spaß machen würde, wenn sie gesundheitsschädlich wäre.
Man kann sogar die entgegengesetzte Hypothese verfechten: Regelmäßige Beschäftigung des Gehirns, zum Beispiel durch Mathematik, hält dessen Besitzer so frisch und munter, dass dieser nicht nur regelmäßig ein hohes Alter erreicht, sondern auch noch diese anstrengende Woche auf sich nimmt. Der 84-jährige Michael Atiyah, Fields-Medaillen-Gewinner von 1966 und Abelpreisträger von 2004, gibt temperamentvoll wie eh und je seine Ideen zur Philosophie der Mathematik zum besten. Und schon recht, Mathematik ist die älteste aller Wissenschaften und Informatik eine der jüngsten – aber so jung nicht mehr, dass ihre Vertreter nicht richtig alt sein könnten. Charles William Bachman (Turing-Award von 1973 für seine herausragenden Beiträge zur Datenbanktechnologie) hat noch zwei Lebensjahre mehr aufzuweisen als Atiyah.
Leser dieser Zeitschrift haben das Vergnügen, in der Liste der illustren Gäste über die schon Genannten hinaus allerlei Bekannte, darunter auch Artikelautoren, wiederzufinden: Gerd Faltings, den einzigen deutschen Gewinner einer Fields-Medaille (siehe auch Spektrum der Wissenschaft 9/1983, S. 16, und 5/1987, S. 16), John Hopcroft (Spektrum der Wissenschaft 7/1984, S. 34–49), Curtis McMullen, Endre Szemerédi, Ivan Sutherland, Avi Wigderson und Efim Zelmanov.
Zum Konzert am Abend des Eröffnungssonntags haben sich die Veranstalter etwas Besonderes ausgedacht: Nachdem zwei Schauspieler – leider nur auf Deutsch – bekannte Positionen in der Debatte "Ist eine Maschine zu echter Kreativität fähig?" vorgetragen haben, gibt es eine musikalische Variante des Turing-Tests: Welche der beiden im Folgenden life vorgetragenen Klavierkonzert-Sätze ist von Mozart, und welcher vom Computer? Ich bin beeindruckt. Das ist nicht die übliche Markow-Ketten-Auswürfelmusik. Der Programmierer hat seinem Pseudo-Komponisten nicht nur die klassische Sonatenhauptsatzform beigebracht, sondern ihm irgendwie auch vermittelt, wann Mozart seine typischen Tonart- und Stimmungswechsel zu setzen pflegt und wann nicht. Noch rate ich richtig, trotz unfair gestellter Frage: Beide Sätze sind vom Computer. Aber wenn die Programme noch etwas besser werden, dürften ihre Produkte ohne weiteres als Werke eines unbekannten Frühklassikers durchgehen.
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