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Integrative Biologie: Die Welt der Ome

Wo es einst nur das Genom gab, existieren heute tausende "-ome". "Nature" begab sich auf der Suche nach den wichtigsten Begriffen und ihren Inhalten: vom Phänom bis zum Integrom.
DNA-Strang auf Molekülebene

Auf den "Omiks" wird gerade viel herumgehackt. Die "New York Times" und das "Wall Street Journal" beispielsweise machten sich im letzten Jahr des Öfteren über die ständig wachsende Zahl wissenschaftlicher Begriffe lustig, die auf "-om" enden – tatsächlich existieren davon inzwischen Tausende. Ein Forscher hat mittlerweile sogar einen "Badomics"-Generator ins Internet gestellt, der die Endung wahllos an Begriffe aus der Biologie hängt und damit erschreckend plausible Titel für wissenschaftliche Papers schafft. Um nur ein Beispiel zu nennen: "Sequenzierung des Bacteriostaticoms gewährt Einblicke in Evolution und Umwelt". Der Mikrobiologe Jonathan Eisen von der University of California in Davis vergibt in seinem Blog regelmäßig Preise für überflüssige neue Begriffe aus der Forschung. Neuster Gewinner ist die "Circadiomik" (CircadiOmics) für die am zirkadianen Rhythmus beteiligten Gene.

Dabei fing alles ganz klein an: Als Hans Winkler 1920 in der Botanik den Begriff "Genom" für ein Chromosomenset schuf, konnte er nicht ahnen, welche Welle er 1920 lostreten würde. Auch damals gab es schon andere "Ome", wie das Biom (Sammlung von lebenden Dingen) und das Rhizom (Wurzelsystem). Viele der Begriffe gehen auf die griechische Endung "-om" zurück, die so viel bedeutet wie "ähnlich sein". Durch die Verherrlichung des Genoms in milliardenschweren Initiativen wie dem Humangenomprojekt wurde mittlerweile jedoch ein Trend in Bewegung gesetzt, meint die Linguistin und Medizininformatikerin Alexa McCray von der Harvard Medical School in Boston in Massachusetts. "Mit dieser Endung wird man Teil einer brandneuen, spannenden Wissenschaft."

DNA-Strang | Das Genom ist unter Biologen mittlerweile fast schon ein alter Hut. Denn sie entwickeln immer neue "-ome", die etwa alle Reaktionen von Molekülen im Körper, die Gesamtheit der Neurone und andere Netzwerke im Blick haben.

Die Forscher erkannten auch das Marketingpotenzial dieser inspirierenden Nachsilbe, meint Eisen. "Sie betrachten es als eigenes Forschungsfeld, das eine eigene Finanzierungsquelle braucht." So manche Omik-Projekte, wie die "Museomik" (Sequenzierungsprojekt archivierter Proben) oder die nicht ganz ernst gemeinte "Ciliomik" (Analyse der gekringelten, haarähnlichen Anhänge mancher Zellen) ernten bereits Skepsis und Verwunderung. Aber Wissenschaftler bestehen darauf, dass einige der "Omiks" schon Sinn machen. "Die Mehrzahl wird nichts bringen, einige aber schon. Das wird sich ausgleichen," meint Eugen Kolker, Chef des Datenbüros des Seattle Children's Hospital in Washington und Gründungseditor der Zeitschrift "Omics": "Wir sollten neue Begriffe nicht nur belächeln."

Einen Bereich mit der Endung "-om" zu versehen, fördert im Idealfall also gute Ideen, umreißt wissenschaftliche Fragestellungen und regt analytische Ansätze an. "Ich glaube, '-om' ist eine sehr wichtige Endung. Sie ist so etwas wie der Aufruf der Genomik", findet daher Mark Gerstein, der als Bioinformatiker an der Yale University in New Haven in Connecticut arbeitet. "Es ist die Idee vom großen Ganzen, von dem, was uns inspiriert." Deshalb stellt "Nature" hier fünf viel versprechende "Ome" vor, die neue Sichtweisen in der Wissenschaft vertreten.

Das Inzidentalom

Schon einige Jahre bevor es möglich wurde, mittels schneller Sequenzierung ganze Genome zu entschlüsseln, schuf Isaac Kohane von der Harvard University den Begriff des Inzidentaloms – was eigentlich als Warnung gemeint war. Der damalige Student der medizinischen Informatik am Boston Children's Hospital sagte bereits 2006 voraus [1], dass allein die Menge an genetischer Information eines Tages in der Medizin zur wahren Herausforderung würde.

Etabliert

  • GENOM: Genetisches Material eines Organismus
  • TRANSKRIPTOM: Alle exprimierten RNAs eines Genoms
  • PROTEOM: Alle Proteine eines Systems
  • METABOLOM: Alle kleinen Moleküle eines Systems
  • Der Begriff geht auf das "Inzidentalom" aus dem Jargon der Radiologie zurück, womit ein asymptomatischer Tumor bezeichnet wird, der zufällig bei einer Untersuchung entdeckt wird. Entsprechend bezeichnet das Inzidentalom bei der Genomanalyse genau die genetische Information, die keiner gesucht hat. So kann die Suche nach der genetischen Ursache eines Hörverlusts bei einem Kind auch Hinweise auf zukünftige Herzprobleme oder ein erhöhtes Krebsrisiko geben. Aber: Wem soll was erzählt werden und wann? In einer Zeit, in der von immer mehr Menschen das Genom sequenziert wird, stellt sich die Frage, wie viel dem Einzelnen über seine eigene DNA erzählt werden soll. Laut dem US National Human Genome Research Institute in Bethesda in Maryland ist dies "eine der kniffligsten ethischen Fragen der Genomforschung".

    Eine Studie im letzten Jahr zeigt das Ausmaß des Dilemmas [2]. 16 Genetiker wurden zu Mutationen bei 99 weit verbreiteten genetischen Veränderungen befragt, die bei umfangreicher Sequenzierung auch ohne Auftrag der Ärzte zu Tage kommen könnten. Bei etwa 21 Befunden, darunter gut bekannte Varianten, die mit verschiedenen Krebsarten und einer Herzerkrankung in Zusammenhang stehen können, rieten alle Spezialisten dazu, erwachsene Patienten darüber zu informieren. Bei Chorea Huntington, einer unheilbaren, schwer wiegenden Erkrankung des Gehirns, würden dies aber nur 10 der 16 Spezialisten tun. Relativ uneinig waren sie sich zudem bei Mutationen mit unklarer Bedeutung. Außerdem waren sie unterschiedlicher Meinung, was Eltern erfahren sollten, wenn bei deren Kindern eine Sequenzvariante gefunden wurde.

    Das Problematischste am Inzidentalom ist aber ein anderer Punkt: Keiner weiß, was die meisten Sequenzvarianten – mehr als drei Millionen in jedem menschlichen Genom – für die Gesundheit des Einzelnen bedeuten. Die Genetikerin Wendy Chung von der Columbia University in New York will herausfinden, wie Studienteilnehmer und Patienten leichter entscheiden können, welche Ergebnisse sie wirklich erfahren möchten. Sie untersucht zudem, wie bereitgestellte Informationen Verhalten und die psychosoziale Verfassung beeinflussen. "Wenn die Leute sagen sollen, was sie über ihre DNA-Sequenz wissen möchten, entscheiden sie sich in der Regel anfangs entweder für 'alles' oder für 'nichts'", meint Chung. "Bei nachdenklichen Leuten gibt es aber Abstufungen." Weil die Popularität von Sequenzanalysen in der Klinik allerdings zunimmt, werden Definition und Umfang des Inzidentaloms immer unklarer. Der Bioethiker Holly Tabor vom Seattle Children's Hospital ist der Meinung, Genetiker sollten schwierige Ergebnisse voraussehen. "Die Behauptung, eine Genomstudie würde zufällige Ergebnisse erbringen, stimmt so nicht. Man weiß ja von vornherein, dass welche auftreten."

    Das Phänom

    Das Genom des Menschen lässt sich inzwischen einfach sequenzieren. Was aber jeweils fehlt, sind die Phänome: die eingehende, genaue Beschreibung der körperlichen Merkmale und Verhaltensweisen der einzelnen Personen. Den Wissenschaftlern geht es meist darum, wie weit das Phänom von einer Krankheit bestimmt wird – seien es Gesichtsfehlbildungen, Deformationen der Extremitäten oder eine diagnostizierte Depression. Dabei wollen sie die Beschreibungen in einer computerfähigen Form haben, um Zusammenhänge von Phänotyp und Genotyp besser darstellen zu können. "Ich kenne keinen anderen Ausdruck, der das besser beschreibt", meint Peter Robinson vom Uniklinikum Charité in Berlin. Er ist Bioinformatiker und sucht Lösungen, wie man die Physis von Menschen standardisiert beschreiben könnte.

    Neu

  • VARIOM: Alle genetischen Varianten einer Population
  • EPIGENOM: Alle Kontrollelemente der Genexpression, die nicht in der DNA kodiert sind
  • INTERAKTOM: Alle molekularen Interaktionen eines Systems
  • FLUXOM: Dynamik kleiner Moleküle über die Zeit
  • Phänom-Projekte gibt es bereits für Mäuse, Ratten, Hefe, Zebrafische und die Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana). In systematischen Projekten schalten die Wissenschaftler Gene nacheinander aus und untersuchen die entstandenen Organismen gründlich mit einer Vielzahl von Analysen. Dabei wollen sie herausfinden, wie die Gene den Körper, den Stoffwechsel und das Verhalten beeinflussen. Solche umfassenden Daten kann es für humane Gene nicht geben, aber ein paar klinische Forscher wollen durch sorgfältiges Sammeln von Patientendaten Teile davon zusammentragen.

    Sogar bei Erbkrankheiten, die nur durch ein einziges mutiertes Gen ausgelöst werden, lassen sich die Erkrankung und tatsächlich ein Gen nicht so einfach in Zusammenhang bringen. Von mehr als 6000 seltenen Erbkrankheiten konnten bisher weniger als die Hälfte auf eine genetische Ursache zurückgeführt werden. Eine der schwierigsten Aufgaben ist es dabei, ausreichend Patienten zu finden, weil die Erkrankungen in weniger als einer Person von einer Million auftreten. "Wir könnten wahrscheinlich die meisten monogenetischen Erbkrankheiten mit bisher unbekannter Ursache aufklären, wenn wir ausreichend gut typisierte Fälle hätten", sagt Michael Bamshad, ein Genetiker von der University of Washington in Seattle.

    Aber wie sollte man diese Fälle sammeln? Viele Forscher und Betroffene haben schon lange ihr eigenes Informationssystem und Vokabular, mit dem sie die kleinen phänotypischen Details verschiedener Erkrankungen beschreiben. Diese Quellen müsste man irgendwie zusammenführen. Wenn der eine Arzt "Magenschmerzen" angibt und der andere "Gastroenteritis", würden Patienten mit gleicher Symptomatik nicht unbedingt derselben Gruppe zugeordnet, erklärt der Genetiker Richard Cotton von der University of Melbourne in Australien.

    Im November letzten Jahres traf sich Cotton mit anderen Fachleuten bei der Konferenz "Getting ready for the Human Phenome Project" in San Francisco. Als Hauptziel der Konferenz wollten sie den Austausch von phänotypischen Daten erleichtern. Das auf seltene Erkrankungen spezialisierte Konsortium "Orphanet" will Klinikärzte und Wissenschaftler dazu bringen, sich auf 1000 bis 2000 Standardausdrücke zu einigen. Dazu gehören Beschreibungen wie "kurze Statur", was auch als "verringerte Körpergröße", "Größe unter 3. Perzentile" und "kleine Statur" bezeichnet werden kann. "Wenn wir uns auf bestimmte Ausdrücke einigen – welche auch immer –, können wir alle über dasselbe reden", meint Ada Hamosh. Sie ist klinische Genetikerin an der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore in Maryland. Andere Forscher versuchen die oft sehr spezifischen Informationen in elektronischen Patientenakten zu entschlüsseln, sie mittels Computeralgorithmen zu entwirren und allgemeine Phänotypen zu klassifizieren. "Die Daten sind schlecht und dürftig, aber die Magie – die Wissenschaft – macht daraus Gold", meint Kohane.

    Das Interaktom

    Das zentrale Dogma der Biologie besteht aus mehreren Teilen: DNA kodiert für RNA, und RNA kodiert wiederum für Protein. Damit hat man schon drei "Ome", nämlich das Genom, das Transkriptom und das Proteom. Aber Leben gibt es nur, weil diese Teile zusammenspielen. Ein Neuron gibt Signale ab und eine Zelle teilt sich oder stirbt, weil Moleküle zusammenarbeiten. Das Interaktom beschreibt all diese molekularen Zusammenhänge. Auf Grund der Komplexität ist es so etwas wie der König der "Ome". Man bedenke nur, dass Eins-zu-eins-Interaktionen von etwa 20 000 Proteinen etwa 200 Millionen Möglichkeiten bieten. Das schreckt Forscher wie Marc Vidal nicht ab. Der 50-jährige Systembiologe vom Dana-Farber Cancer Institute in Boston hofft, bis zu seinem Ruhestand einen ersten groben Entwurf aller genetisch kodierten Interaktionen zu haben. Im Moment wäre er schon mit einem kleinen Teil zufrieden, einer Art Katalog aller Proteine, die in Paaren zusammenfinden. "Das versuchen wir seit 20 Jahren, und wir haben es fast geschafft", freut er sich.

    Beabsichtigt

  • PHÄNOM: Vollständige physiognomische Beschreibung, die im Idealfall mit dem Genotyp in Beziehung steht
  • REGULOM: Alle regulatorischen Elemente einer Zelle
  • INTEGROM: Kombination verschiedener Omik-Datensätze
  • OMNISCIOM: Gesamtheit des Wissens über eine Zelle, einen Organismus oder ein System
  • Mit "fast geschafft" meint er 10 bis 15 Prozent aller Protein-Interaktionen im Menschen, die sein und einige andere Labore gefunden haben. Dabei nutzten sie genetisch veränderte Zellen, die ein Signal abgeben, sobald sich ein Proteinpaar trifft. Auch andere Wissenschaftler haben dasselbe Ziel. Sie isolieren Proteine aus zerkleinerten Zellen und untersuchen, welche anderen Proteine sie dabei mitfischen. Mit den Ergebnissen durchforsten sie dann die Literatur und erarbeiten computerbasierte Vorhersagen auf Grund von Proteinstruktur und Verhalten verwandter Moleküle. Dabei hilft ihnen der Umstand, dass mehr als ein Jahrzehnt nach der ersten groß angelegten Interaktom-Studie [3] langsam klar wird, welche der beobachteten Interaktionen echte Verbindungen sind und welche nur Artefakte. Um dies zu unterscheiden, müssen sie dieselben Interaktionen mit verschiedenen Methoden untersuchen [4]. Dazu braucht es keine vollständigen Listen, so dass die Biologen das Interaktom bereits in seinem jetzigen Zustand nutzen.

    Haiyuan Yu arbeitet als Systembiologe an der Cornell University in Ithaca in New York und testete etwa 18 Millionen mögliche Proteinpaare. Dabei hat er etablierte Datenbanken nach Interaktionen durchkämmt und letztendlich 20 614 Interaktionen zwischen 7401 humanen Proteinen identifiziert. Bei etwa einem Fünftel davon gibt es Anhaltspunkte dafür, welcher Proteinteil den Kontakt herstellt [5]. Wie Yu und seine Kollegen zeigen konnten, befinden sich krank machende Mutationen häufiger an diesen Kontaktpunkten als an anderen Stellen der Proteine. Das Wiskott-Aldrich-Syndrom beispielsweise ist eine Erkrankung des Bluts, die durch Mutationen im Protein WASP ausgelöst wird – aber nur durch Mutationen im Interaktionsbereich mit einem zweiten Protein namens VASP. Muster, die von der Genetik her keinen Sinn ergeben, können durch Protein-Interaktionen erklärbar werden, sagt Yu.

    Laut Vidal lassen sich immer kompliziertere Informationen im Interaktom darstellen. Als Erstes werden sich basale Netzwerke zeigen wie Listen von Proteinen und deren Bindungspartnern. Im Idealfall können diese dann bestimmten Zelltypen zugeschrieben werden. Als Nächstes wird es deskriptive Daten geben, wie beispielsweise die Dauer und die nötigen Voraussetzungen der Interaktion sowie die Proteinabschnitte, die den Kontakt herstellen. Der Wissenschaftler sieht schon den Tag vor sich, an dem bei der Diagnosestellung in der Klinik nicht nur das Genom des Patienten eine Rolle spielt, sondern auch die Auswirkungen all seiner Sequenzvarianten auf das Interaktom, ganz zu schweigen vom Einfluss des Interaktoms auf das Phänom. Genome sind im Allgemeinen statisch, meint der Systembiologe Trey Ideker von der University of California in San Diego. "Die Gensequenz wird durch Medikamente, Gewebe oder anderes nicht verändert – das Interaktom aber schon."

    Das Toxom

    Thomas Hartung interessiert sich dafür, wie kleine Moleküle dem Körper schaden können. Dazu hat er das "Human Toxome Project" ins Leben gerufen, das über fünf Jahre mit sechs Millionen US-Dollar von der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde und der US-Behörde zum Schutz der Umwelt und der Gesundheit sowie der FDA (Food and Drug Administration) gefördert wird. Die Endung "-om" passe zu seinem Ziel, findet Hartung. Er will das gesamte Set zellulärer Prozesse beschreiben, die im Rahmen von Toxizität eine Rolle spielen. "Das Toxom ist dem Humangenomprojekt sehr ähnlich, weil wir damit Referenzwerte schaffen", sagt der Toxikologe von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore.

    Toxizitätstests im Tierexperiment kosten Millionen für jede Substanz, die in eine Studie am Menschen gebracht werden soll. Außerdem zeigen sie nicht, wie giftig sie im Menschen wirken können. Mehr als jedes sechste Medikament wird daher auf Grund von Sicherheitsproblemen während der Patientenstudie wieder zurückgezogen. Nach Meinung von Hartung könnte das Toxom zur Entwicklung unkomplizierter zellbasierter Testsysteme beitragen, wodurch Tierexperimente ersetzt oder sogar übertroffen werden könnten. Das Wissen um toxizitätsassoziierte zelluläre Prozesse einzelner Substanzen könnte auch dabei helfen, viel versprechende neue Medikamente oder Industriemoleküle in weniger schädliche Varianten umzuwandeln.

    Zuerst will Hartung seine Zellen mit toxischen Chemikalien behandeln und ihr Metabolom (das Set aller kleinen Moleküle der Zelle) und Transkriptom bestimmen. Er möchte die detaillierten Wege in humanen Zellen aufschlüsseln, die Hormonsignale blockieren, Leberzellen vergiften, den Herzrhythmus durcheinanderbringen oder die Gesundheit der Menschen auf andere Weise gefährden. Seiner Meinung nach gibt es vielleicht ein paar hundert Wege, was vom Aufwand her in Toxizitätstests machbar sein sollte. Das Projekt steht noch am Anfang. Zuerst soll einmal gezeigt werden, dass dieselben Versuche in unterschiedlichen Labors zu gleichen Ergebnissen kommen. Schlussendlich könnten die zellulären Wege aber in zellbasierten Proben als Indikator für Toxizität dienen. David Jacobson-Kram bewertet bei der FDA in Silver Spring (Maryland) Toxizitätstests für verschiedene Substanzen. Seiner Meinung nach "würden wir dann wissen, welche Substanzen und welche Signalwege etwas Schlimmes auslösen und was die Nebenwirkungen wären". Er warnt vor Molekülen, die in Zellkultur harmlos erscheinen. Diese könnten im Körper ganz anders wirken, wenn beispielsweise die Leber das Molekül in ein Toxin umsetzt. Deshalb könne das Toxomprojekt seiner Meinung nach Zeit, Geld und Tierleben schonen.

    Das Integrom

    Der Schlüssel zu den größten Geheimnissen der Biologie liegt weniger darin, immer neue "Ome" zu erfinden, meint Kolker, sondern eher in der Verknüpfung der vorhandenen. "Ein Ansatz allein genügt nicht" – das Integrom packt alle Informationen der einzelnen "Ome" in einen Topf. Zusammen mit weiteren relevanten Daten werden sie dann einer einheitlichen Analyse unterworfen. "Das wird immer wichtiger", kommentiert Kolker und vergleicht es mit "Google Maps". Einzelne Listen von Tankstellen, Restaurants und Straßennamen sind lange nicht so nützlich wie eine Karte, die zeigt, dass eine bestimmte Tankstelle in derselben Straße liegt wie ein bestimmtes Restaurant. Viele herkömmliche Omik-Studien enden mit Listen, seien es Gene, Proteine oder RNA-Transkripte. Dabei bleiben die Netzwerke außer Acht, und es bleibt unerkannt, wie beispielsweise Veränderungen in ganz verschiedenen Genen in ein und demselben Weg zusammenlaufen.

    Trey Ideker wiederum konnte zeigen, wie ganz unterschiedliche Omik-Daten mittels Computer zusammen analysierbar sind [6]. Mit seiner Software hat er vier Datensammlungen nach Mustern gescannt und dann anhand der Ergebnisse unabhängig voneinander gezeigt, was die relevanten Gene tun. Damit wurden nicht nur Teile der vorhandenen Genomdaten rekapituliert, wie beispielsweise die Identifizierung von Komponenten der zellulären Maschinerie zum Abbau verbrauchter Proteine. Zusätzlich wurden die Lücken im System gefüllt, indem vergleichbare Organisationsmuster für Gene mit unbekannter Funktion entdeckt wurden. "Wir haben die Transkriptom- und Interaktom-Daten durchsucht und die gesamte hierarchische Struktur der Zellkomponenten daraus abgeleitet. Diese Technologie begeistert mich mehr als alles andere seit vielen Jahren", schwelgt Ideker in Begeisterung. "Diese Algorithmen werden den Menschen nicht ersetzten. Aber sie können Muster herausfinden, die der Mensch und klassische Analyseprogramme übersehen, weil sie Zusammenhänge nur aus veröffentlichten Papern ziehen. Zellen sprechen nicht Englisch, sondern Daten."

    Der Genetiker Michael Snyder von der Stanford University veröffentlichte letztes Jahr sein persönliches Integrom [7]. Er selbst bezeichnete es als "integratives persönliches Omik-Profil", andere nannten es "Narzissom". Dabei kombinierte er Daten seines Genoms, seines Transkriptoms, seines Proteoms und seines Metaboloms. Sein genomisches Profil enthielt eine Risikovariante für Diabetes – die Erkrankung wurde in der Zeit seiner Analysen auch tatsächlich bei ihm diagnostiziert. Dazu hatte er zwei Virusinfektionen zu überstehen, die sich in einer gesteigerten Aktivität von Entzündungsgenen widerspiegelte. Seine Analysen brachten auch zelluläre Veränderungen zu Tage, die zuvor nicht mit Diabetes oder Infektion in Zusammenhang gebracht wurden, erzählt Snyder. "Wenn man nur das Transkriptom oder Proteom allein verfolgt, zeigt sich nur ein Teil des Bilds."

    Auch laut Gerstein werden uns integrierte Datensätze voranbringen. "Aufgabe der Zukunft wird es sein, die Daten so in Netzwerken zusammenzuführen, dass wir individuelle Genome verstehen lernen", meint er. Den Ausdruck "Integrom" mag er aber nicht. "Was ist ein Integrom? Alle Einzelnetze zusammengenommen? Das glaube ich nicht. 'Integrieren' ist ein Verb – die meisten anderen 'Ome' aber sind Sammlungen von Nomen", fügt er hinzu. McCray hat eine Faustregel für sinnvolle "Om-Wörter": ein bedeutendes Wort, das angenehm klingt und für ein gebildetes Publikum leicht verständlich ist. Aber wahrscheinlich werden viele Wissenschaftler diese Regeln nicht beachten. Die wachsende Zahl an Ausdrücken spiegelt den Weg in der Wissenschaft wider, meint McCray. Die Sprache verändert sich normalerweise langsam. Die schnelle Ausbreitung der "Ome" und "Omiks" "rekapituliert allein in einem Jahrzehnt, was normalerweise in einem halben Jahrhundert geschieht. Sie steht für das große Interesse und die enorme Förderung des Forschungsfelds."

    • Quellen
    [1] J. Am. Med. Assoc. 296, S. 212–215, 2006
    [2] Genet. Med. 14, S. 405–410, 2012
    [3] Nature 403, S. 623–627, 2000
    [4] Nature Meth. 6, S. 83–90, 2009
    [5] Nature Biotechnol. 30, S. 159–164, 2012
    [6] Nature Biotechnol. 31, S. 138–145, 2013
    [7].Cell 148, S. 1293–1307, 2012

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