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Teilchenphysik: "Kein genehmigtes Resultat"

Gibt es Hinweise auf eine "neue Physik" jenseits des Standardmodells? In den letzten Tagen und Wochen beflügelten Beschleunigerdaten sowohl vom Tevatron in den USA als auch vom CERN in Genf die Fantasie von Medien und Öffentlichkeit. Rolf-Dieter Heuer, Generaldirektor des europäischen Teilchenforschungszentrums CERN, erteilt den jüngsten Gerüchten eine klare Abfuhr: Die aktuelle Diskussion rühre nicht von belastbaren Daten her, sondern beruht auf systemimmanenten Schwächen der Großforschung.
Kalorimeter
spektrumdirekt: Herr Professor Heuer, in jüngster Zeit häufen sich die Meldungen, dass Forschergruppen sowohl am Fermilab-Teilchenbeschleuniger Tevatron in den Vereinigten Staaten als auch bei Ihnen am Large Hadron Collider LHC durch das ATLAS-Team bei Genf neue Effekte gemessen hätten – seien es nun Hinweise auf das Higgs-Teilchen, welches den anderen Elementarteilchen ihre Massen verleihen soll, oder gar auf eine ganz neue Physik jenseits des Standardmodells. Was ist genau passiert?

Rolf-Dieter Heuer | Der deutsche Physiker Rolf-Dieter Heuer leitet seit 2009 als Generaldirektor das CERN, wo mit dem Large Hadron Collider der größte Teilchenbeschleuniger der Welt in Betrieb ist.
Rolf-Dieter Heuer: Das Resultat vom Tevatron stammt von einem der beiden dort ansässigen Experimente. Es ist aber meiner Ansicht nach statistisch noch nicht signifikant genug. Zudem hat das zweite Tevatron-Experiment dieses Resultat bisher nicht bestätigt. Ich kann natürlich nicht für das Fermilab sprechen, nehme aber an, dass ihre zurückhaltende Pressearbeit damit zu begründen ist.

Die Meldung über einen eventuellen Hinweis auf eine neue Physik am LHC beruht auf einer CERN-internen Mitteilung einer Arbeitsgruppe innerhalb einer Kollaboration, die völlig ungeprüft öffentlich gemacht wurde. Es ist kein von der Kollaboration insgesamt genehmigtes oder veröffentlichtes Resultat. Daher sieht das CERN-Management auch keinen Grund zur Kommentierung. Wann immer es ein neues, belastbares Resultat zu einer wie auch immer gearteten "neuen Physik" am LHC geben wird, kündigen wir es entsprechend an und kommentieren es.

Meist sind an der konkreten Auswertung einzelner Aspekte aus der Fülle der Kollisionsdaten ausschließlich einige wenige Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler beteiligt. Wie autonom sind die Forscherinnen und Forscher in der Verkündung ihrer Ergebnisse?

Analysen innerhalb der großen Experimente werden von kleinen Arbeitsgruppen durchgeführt, bei wichtigen Themen auch von mehreren, voneinander unabhängigen Teams. Diese Arbeitsgruppen arbeiten autonom, müssen ihre Analysen und Resultate aber allen am Experiment beteiligten Wissenschaftlern zur Überprüfung zugänglich machen. An dieser Prüfung und Diskussion beteiligen sich dann die Mitglieder und das Management der jeweiligen Kollaboration. Erst nach sorgfältiger Prüfung und bei ausreichender statistischer Signifikanz wird ein Resultat veröffentlicht. Dafür existieren in jeder Kollaboration genaue Regeln. Das CERN-Management wird jedoch frühzeitig informiert und einbezogen, sobald sich Hinweise auf eine wie auch immer geartete "neue Physik" ergeben.

Sie waren also von der internen Mitteilung der ATLAS-Gruppe unterrichtet?

Ja.

Wie gehen die Forschergruppen mit dem Dilemma um, möglichst früh ihre Entdeckungen preiszugeben, um beispielsweise das Recht für sich reklamieren zu können, wirklich die Ersten zu sein, die diese Effekte gemessen und verstanden haben – ohne vorschnell über Effekte zu fantasieren, die sich im Nachhinein als Laune des Zufalls erweisen?

Genau dafür sind die oben genannten Regeln gedacht – und genau hierfür hat das CERN-Management gemeinsam mit den Verantwortlichen der Experimente eine Prozedur erstellt. Wir sind aber nicht völlig gefeit gegen schwarze Schafe, die sich über Regeln hinwegsetzen und in der Öffentlichkeit übereilt über Effekte "fantasieren", wie Sie so schön formulieren.

Eine Kollaboration – sei es von ATLAS, CMS oder Alice – besteht aus einigen tausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die über die ganze Welt verstreut arbeiten. Wenn Ergebnisse von Messungen erst intern besprochen werden sollen, wie lässt sich dann verhindern, dass solche Nachrichten vorschnell an die Öffentlichkeit durchsickern? Da ist doch jeglicher Versuch von Geheimhaltung bereits von vornherein zum Scheitern verurteilt.

In der Tat ist dies sehr schwierig. Das zeigt sich ja am Beispiel von vor Ostern. Ich halte allerdings das Wort "Geheimhaltung" in diesem Zusammenhang für irreführend. Es geht hier um wissenschaftliche Richtigkeit und Genauigkeit. Ergebnisse müssen erst von den Experten eines Experiments umfassend geprüft werden. Dafür braucht es Zeit, aber keine öffentliche Diskussion.

Das hört sich an, als wären sie über die jetzt aufgetretene Informationslücke verärgert?

Nicht nur ich...

Welche Rolle spielen die Medien bei diesen Fragen? Viele Meldungen schwappen erst aus den USA zu uns herüber, nachdem sie dort von Zeitungen, Online-Redaktionen oder Blogs aufgegriffen worden sind, bevor europäische Medien davon erfahren und es wagen, diese Themen aufzugreifen. Sind die Medien in den Vereinigten Staaten besser informiert – oder nur mutiger bei der Wahl der Themen?

Diese Frage geht ja eher an Sie ... Ich denke aber nicht, dass die amerikanischen Medien besser informiert sind. In diesem Fall war es allerdings ein in den USA angesiedelter Blog, dem die Interna zugespielt wurden. Vom CERN-Management erhalten alle Medien wichtige Informationen zur selben Zeit, und die sind dann auch verlässlich. Ihre Formulierung "mutiger" in Bezug auf die amerikanischen Medien würde ich deswegen durch "spekulativer" ersetzen.

Vielfach überspitzen die Medien – bisweilen aber auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – die Suche nach neuen Effekten und fabulieren über "Gottesteilchen" oder künstliche "Schwarze Löcher", die die Erde verschlingen könnten. Sie wollen damit Aufmerksamkeit erregen. Das weckt bei manchem Laien Ängste und lenkt zudem von anderen wichtigen Erkenntnissen ab, die sich die Forscherinnen und Forscher ebenso von den Experimenten erwarten – von der Supersymmetrie beispielsweise. Was halten Sie vom Hype um die "Gottesteilchen" und "Schwarzen Löcher"? Freuen Sie sich über die Aufmerksamkeit, die die Elementarteilchenphysik derzeit genießt – oder fokussieren sich die Arbeitsgruppen deswegen zu sehr auf das Finden spektakulärer Ergebnisse und vernachlässigen andere Fragestellungen?

Ich halte nicht sehr viel von diesen Überspitzungen, habe aber gelernt, damit umzugehen. Ich freue mich über das Interesse der Medien und der Öffentlichkeit an unserer Forschung und hoffe, dass dadurch insgesamt wieder mehr Interesse an der Wissenschaft und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft geweckt wird. Die Arbeitsgruppen vernachlässigen deswegen jedoch keineswegs andere Fragestellungen. Das zeigt schon die hohe Vielfalt der Themen der zahlreichen Publikationen, die aus den Daten des Jahres 2010 bereits hervorgegangen sind.

Herr Heuer, wir danken Ihnen für das Gespräch.

In seinem regelmäßigen Rundschreiben an die CERN-Mitarbeiter und -Gastwissenschaftler ging Rolf-Dieter Heuer ebenfalls auf die nun aufgekommenen Spekulationen am CERN ein. Diese Mitteilung hat er der Redaktion freundlicherweise zur Veröffentlichung überlassen.

Records, results and rumours

As I write this early in the morning of 28 April 2011, the LHC has been colliding stable beams for over eight hours, and the instantaneous luminosity is still higher than the record starting luminosity we announced under a week ago. It’s a sign of how well this magnificent machine is running. That last week’s milestone achievement already seems like ancient history. In a week that’s also seen a lot of media interest in a leaked ATLAS note, it’s important for us to stay focused on what really matters for particle physics: delivering plenty of good quality data to the experiments so they can produce reliable peer-reviewed results.

When the LHC shift crew for the night of 22-23 April set a new record luminosity for a hadron collider it was done with 480 bunches of protons in each beam. We knew at the time there was better to come, since the aim this year is to increase to over 1000 bunches per beam. What I didn’t expect, however, is that we’d get to 624 bunches so quickly, or that the first fill with 624 bunches would be so long lived. It’s a fantastic achievement by all everyone involved in the LHC and its experiments, and it means that we’re well on our way to achieving the goal we set ourselves at the beginning of this year: accumulating sufficient data through 2011 and 2012 to fully explore the physics landscape at 3.5 TeV per beam.

Meanwhile, on the other side of the Atlantic, the Tevatron is enjoying an Indian summer, running fantastically and producing some intriguing results. As 2011 advances, we can expect many more papers to come from CDF and D0, as well as from the LHC experiments, and I’m very much looking forward to the summer conferences where there’s a real chance that we’ll be looking at new physics from Fermilab as well as from CERN.

It sometimes seems that the entire world is waiting with bated breath for new physics: people care about our science and this is a great place for our field to be. It explains, perhaps, why the media paid so much attention to the recent publication of a three-sigma effect by Fermilab’s CDF collaboration and last week’s leaked internal note from CERN.

You will all almost undoubtedly have heard the term ATLAS COM note by now. Whether or not the one leaked last week contains anything significant we don’t yet know, and that’s why neither ATLAS nor CERN have made any public announcement. However, I’d like to assure you that when there are real results from the LHC, you’ll hear about them in a timely and accurate way through official channels.

CERN’s approach to communication is one of full transparency and openness, but the experiments still need to be able to conduct their internal peer review processes in peace and quiet. This is a fundamental principle of our field, and the leak is something I take very seriously indeed. I hope that lessons have been learned from this incident so that our culture of openness can continue.

The leaked ATLAS note is one of over 400 such documents to have circulated in the collaboration so far this year. At the time of the leak, its contents had not been subjected to the slightest scrutiny, and many unglamorous interpretations are likely. Whatever the truth, it serves nobody’s interests to leak such documents.

As 2011 unfolds we can look forward to new physics with confidence. But that’s a story for tomorrow. For today, I’d like to congratulate everyone involved with the fantastic performance of the LHC and its experiments. These are achievements that everyone involved can be justly proud of, and I’m sure it won’t be long before we have real new physics to celebrate.

Rolf Heuer

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