Jetstream: Das Wetter schlägt Wellen
Der extreme Hitzesommer in Europa 2003, die katastrophale Dürre mit heftigen Waldbränden in Russland 2010 und gleichzeitig die großräumigen Überflutungen in Pakistan, dazu einige lange, kalte Winter in Europa und Nordamerika in den letzten Jahren – sie alle hatten einen gemeinsamen Nenner: Über Wochen hinweg herrschte die gleiche Wetterlage und brachte Hitze, klirrende Kälte oder Dauerregen, die viele Menschenleben kosteten und große Schäden anrichteten. Ausgelöst hatte die Kapriolen ein Klimafaktor, den viele Menschen wohl eher aus der Luftfahrt kennen. Doch der von West nach Ost blasende Jetstream der Nordhalbkugel beschleunigt nicht nur Transatlantikflüge von New York nach Frankfurt, sondern beeinflusst auch das Wetter in den mittleren Breiten erheblich.
Normalerweise jagen die Winde der Jetstreams in sieben bis zwölf Kilometer Höhe mit Geschwindigkeiten von mehreren hundert Kilometern pro Stunde hinweg. Sie entstehen durch den starken Temperaturgegensatz zwischen den Tropen und den Polargebieten. Um diesen Kontrast zwischen den leichten, warmen Luftmassen des Südens und den schweren, kalten der hohen Breiten auszugleichen, entstehen Winde, die die Erdrotation auf der Nordhalbkugel zunehmend nach Osten ablenkt. Ungefähr zwischen 50 und 70 Grad nördlicher Breite – das entspricht etwa der Region zwischen Frankfurt und Nordkap – konzentrieren sie sich dann in einem relativ engen Band, das den Planeten umrundet und das Wetter in großen Teilen Nordamerikas, Europas und Nordasiens bestimmt. "Das gilt vor allem für den Winter, wenn die Temperaturabweichungen zwischen Nord und Süd besonders ausgeprägt sind", erklärt Hans Schipper, der Leiter des Süddeutschen Klimabüros am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
Die auch Strahlstrom genannten Winde strömen aber nicht geradlinig von Ost nach West, sondern bilden Wellen aus, die teilweise weit nach Nord oder Süd ausbuchten können: Je nachdem von welcher "Kurve" man gerade betroffen ist, kann eisige Luft vom Nordpol bis nach Nordafrika durchschlagen und Schnee in Algier bringen. Oder aber es fließt heiße Saharaluft bis nach Sibirien ein, wie es im August 2010 der Fall war. Dass es dabei wenige hundert oder tausend Kilometer weiter zu ganz anders gelagertem Extremwetter kommen kann, verwundert nicht: Gleichzeitig mit der russischen Hitzewelle floss kühle, feuchte Luft in einem südwärts ausgerichteten so genannten Trog kalte und feuchte Luft bis nach Südasien, wo sie auf den gleichzeitig herrschenden Monsun stieß – wochenlanger Dauerregen am Rand des Himalajas und Karakorums ließ schließlich zahlreiche Flüsse über die Ufer treten und setzte weite Teile Pakistans unter Wasser. Weniger dramatisch, aber ebenfalls überdurchschnittlich viel regnete es damals auch in Mitteleuropa, wo der Deutsche Wetterdienst von "nahezu monsunartigen Wassermassen" sprach.
Geht dem Jetstream die Puste aus?
Meist entstehen diese Beulen, wenn der Jetstream über die großen Gebirge der Nordhalbkugel rauscht: Die Rocky Mountains und der Himalaja drücken die Luftmassen zusammen, zerreißen sie oder sorgen dafür, dass sie sich dehnen. Der Höhenwind kommt ins Schlingern, die daraus hervorgehenden so genannten Rossby-Wellen bewegen sich dann langsamer als normal über den Himmel, weshalb die jeweils damit verbundene Witterung länger anhält. Doch damit nicht genug, denn in bestimmten Fällen – etwa wenn sich zusätzlich das Temperaturgefälle zwischen Tropen und Arktis verringert – können sich blockierte Wetterlagen ausbilden: Sie weichen teils über Wochen kaum von der Stelle. "Viele Arten von Extremwetter werden durch diese stabilen Bedingungen verursacht – Dürren, Hitzewellen, frostige Winter, Überflutungen nach tagelangem Regen", beschreibt die Atmosphärenforscherin Jennifer Francis von der Rutgers University in New Brunswick die Folgen.
"Viele Arten von Extremwetter werden durch diese stabilen Bedingungen verursacht"
Jennifer Francis
Diese Wetterphänomene gehören zum normalen Verhalten des Jetstreams. Verglichen mit früheren Jahrzehnten scheint er sich jedoch zu verändern. "Die von West nach Ost wehenden Winde haben sich verlangsamt", so Francis. Das zeigen zum Beispiel Daten von Cristina Archer von University of Delaware in Newark und Ken Caldeira von der Stanford University zu den Windgeschwindigkeiten des Jetstreams, die zwischen 1979 und 2001 abgenommen haben [1]. Auch eine Studie von Francis selbst belegt diesen Effekt: Sie hatte beobachtet, dass sich die durchschnittliche Windgeschwindigkeit des Jetstreams seit 1990 um mehr als zehn Prozent reduziert hat [2]. Gleichzeitig habe sich die Amplitude der Rossby-Wellen vergrößert, der Jetstream ufert also stärker nach Norden beziehungsweise Süden aus. "Das gilt besonders ausgeprägt für den Herbst und Winter, macht sich aber auch im Sommer öfter bemerkbar", schreiben die Forscherin und ihr Team. Auch eine Untersuchung von James Overland von der US-amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administration deutet an, dass der Jetstream in der jüngeren Vergangenheit häufiger ausschlägt als in den Vergleichszeiträumen zuvor [3]. Und Hans Schipper fügt noch an: "Zwischen 1981 und 2001 hat sich der Jetstream um mindestens 40 Kilometer nach Norden verlagert."
Als Ursache für diese Veränderung haben viele Wissenschaftler vor allem einen Trend ausgemacht: die überdurchschnittlich starke Aufheizung der Arktis durch den Klimawandel. Während die globale Mitteltemperatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts um 0,85 Grad Celsius gestiegen ist, betrug die Erwärmung in der Arktis im gleichen Zeitraum etwa das Doppelte – manche Regionen wie Teile Alaskas oder im westlichen Kanada heizten sich sogar um drei bis vier Grad Celsius auf. Das hat Folgen, so Francis: "Der Temperaturunterschied zwischen Tropen und Arktis treibt die Höhenwinde an. Verkleinert sich dieser Abstand, so schwächt dies den Jetstream ab, und er beginnt stärker zu mäandrieren."
Arktische Einflüsse
Wie beim schmelzenden Meereis, das ursprünglich die Sonneneinstrahlung reflektiert und damit kühlend wirkt, nun aber dem dunkleren, Wärmeenergie speichernden offenen Ozean Platz macht, entstehen dabei Rückkopplungseffekte. Befindet sich ein nordwärts gerichtete Mäander im Bereich der Arktis, fließt über längere Zeiträume warme Luft ein, die das Abtauen vorantreibt und den Temperaturunterschied verringert – was letztlich den Strahlstrom weiter schwächt. Wie das im Extremfall aussehen kann, bezeugt das Jahr 2012, wie Edward Hanna von der University of Sheffield und seine Kollegen beobachtet haben [4]: "Über Grönland wölbte sich ein Dom aus warmen Südwinden auf, der das Eisschild großflächig zum Schmelzen brachte." Zeitweilig waren im Juli mehr als 90 Prozent der grönländischen Eisfläche vom Tauwetter betroffen – weit mehr als vorherige Rekordwerte aus dem Jahr 2010, bei dem nur die Hälfte des Gebiets betroffen war, und mehr als jemals zuvor, seit vor 50 Jahren mit den Messungen begonnen wurde.
Wie stark der Jetstream und das arktische Eis zusammenhängen, belege auch der zeitliche Ablauf der gestörten Zirkulation, betont Francis in ihrer Studie: Besonders ausgeprägt treten die Anomalien im Herbst und Winter auf. Sie beginnen also kurz nachdem der Temperaturgegensatz zwischen Tropen und Polregion am geringsten war und setzen sich dann in der – eigentlich – kalten Jahreszeit fort, bis sich die Bedingungen im hohen Norden durch den Eiszuwachs wieder einigermaßen normalisiert haben. Deshalb stellten die Wissenschaftler in ihrem Studienzeitraum kaum abweichende Zirkulationsmuster im Frühling fest, das noch von Eis und Minusgraden geprägt ist. Erst im Lauf des Sommers mehren sich die Ausbuchtungen wieder. Andere Einflussfaktoren schließt Francis hingegen aus: "Es gibt keine Belege dafür, dass eine veränderte Sonnenaktivität zu diesem Muster beiträgt." Diese These vertritt etwa Mike Lockwood von der University of Reading, der einen statistischen Zusammenhang zwischen schwacher Sonnenaktivität und blockierten Wetterlagen bemerkt hat [5]. Laut ihm und seinen Kollegen verursacht die schwache Sonne, dass sich die Stratosphäre abkühlt, was die darunter befindliche Troposphäre mit dem Jetstream negativ beeinflusst: Die milden Winde vom Atlantik schlafen quasi ein und ermöglichen arktische Kaltluftvorstöße etwa nach Mitteleuropa.
Dieser Streit ist noch nicht entschieden. Wie sehr der schwankende Jetstream jedoch mittlerweile unser Wetter bestimmt, zeigt eine zunehmende Zahl an Studien. Erst vor Kurzem zogen Forscher um James Screen von der University of Exeter und sein Team eine Linie von den verregneten Sommern im nordwestlichen Europa zwischen 2007 und 2012 und dem geschwächten Strahlstrom [6]: "Normalerweise verläuft der Jetstream im Sommer zwischen Schottland und Island, weshalb Schlechtwettergebiete häufiger nördlich von Großbritannien durchziehen. Dellt er sich hingegen nach Süden ein, bringt er heftigen Dauerregen."
Die weiteren Aussichten
Auch die letzten kalten Winter scheinen in engem Zusammenhang mit den arktischen Veränderungen und dem flatterigen Jetstream zu stehen. Das legt zumindest eine Arbeit von Qiuhong Tang von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking zusammen mit Jennifer Francis und weiteren Forschern nahe [7]: Der Meereismangel sorge demnach dafür, dass mehr Feuchtigkeit aus dem Nordpolarmeer verdunstet, die sich wiederum als Schnee auf dem umliegenden Festland niederschlägt. Dieser isoliert den Boden von der Atmosphäre und verhindert so die Wärmeabstrahlung, weshalb die Kontinente schneller auskühlen. Dadurch verschärft sich an Land das Temperaturgefälle zwischen Nord und Süd, während es über dem Meer noch geringer ausfällt. Das Resultat ist in diesem Fall ebenso ein gestörtes Jetstream-Muster, in dem sich blockierende Hochs über den mittleren Breiten ausbilden und halten können – und mit ihnen die eisige Luft der letzten Jahre.
"Ich würde darauf wetten, dass sich der Jetstream weiter verlagert"
Ken Caldeira
Und Francis vermutet sogar, dass der stark mäandrierende Jetstream Wirbelstürme wie "Sandy" – der Hurrikan traf letztes Jahr den US-amerikanischen Nordosten schwer – begünstigen und auf ungewöhnliche Bahnen leiten kann: "Als Sandy durch heranzog, buchtete der Jetstream über dem Atlantik weit nach Norden aus. Über Neufundland bildete sich deshalb ein starkes Hoch aus, das den Hurrikan auf seinen ungewöhnlichen Weg nach Westen an die US-Ostküste lenkte." Wieder vermutet die Klimaforscherin, dass der arktische Meereisschwund seine Finger im Spiel hatte: "Der rekordverdächtige Verlust im letzten Jahr führte dazu, dass die Arktis noch im Oktober ungewöhnlich warm war. Das trug sehr wahrscheinlich dazu bei, dass der Jetstream ausdauernd stark nach Norden auswich." Auch Christina Archer geht davon aus, dass die generelle Verlagerung des Jetstreams nach Norden den Weg der Wirbelstürme verändern wird: "Jetstream-Winde unterbinden oder behindern normalerweise die Geburt von Hurrikanen. Wenn sich der Strahlstrom also von den Subtropen entfernt, in denen die Stürme entstehen, so werden diese vielleicht häufiger und stärker."
Momentan deutet nichts an, dass sich dieses Muster mittelfristig wieder ändern könnte, denn das arktische Meereis bedeckte 2013 erneut nur eine stark unterdurchschnittliche Fläche. Und die Region erwärmt sich weiterhin ungebremst, wie eine Auswertung von Satellitendaten durch Kevin Cowtan von der University of York und Robert Way von der University of Ottawa belegt [8] – ungeachtet einer möglichen Erwärmungspause auf dem Rest des Planeten. "Wir erwarten, dass sich die Arktis weiter und schneller aufheizt, so dass sie den Jetstream noch deutlicher beeinflusst. Damit zusammenhängende extreme Wetterereignisse sollten also häufiger werden. Vieles spricht dafür, dass dies bereits stattfindet", meint Francis.
Auch Ken Caldeira ist überzeugt davon, dass sich die beobachteten Trends beim Jetstream fortsetzen: "Diese Entwicklung passt in das Bild des Klimawandels – wie die Vergrößerung der Tropen, die sich abkühlende Stratosphäre und die polwärtige Verlagerung von Sturmbahnen." Schon 2008 meinte er deshalb: "Ich würde darauf wetten, dass sich der Jetstream weiter verlagert." Es sieht so aus, als behielte er Recht.
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