Konnektom: Der Schaltplan der Denkmaschine
Weltweit arbeiten Forscher am komplexesten Schaltplan der Menschheitsgeschichte: einer Karte sämtlicher Verknüpfungen im Gehirn. Aber die Schwierigkeiten sind immens.
100 Milliarden Nervenzellen, jede mit deutlich über 1000 Synapsen – mehrere hundert Billionen Verknüpfungen kommen so insgesamt im menschlichen Gehirn zusammen. Angesichts dieser Kennzahlen wird es immer wieder als das "komplexeste Objekt im bekannten Universum" bezeichnet – es dürfte sich um keine allzu grobe Übertreibung handeln.
Doch wie nahe die Werte der Wahrheit kommen, ist genau genommen ungewiss: All diese Zahlen sind nur grobe Schätzungen, aus Ausschnitten hochgerechnet und auf das gesamte Gehirn übertragen, denn genau nachgezählt hat noch niemand. Dieser Mammutaufgabe haben sich erst jetzt die Konnektom-Forscher verschrieben. Ihr Ziel: eine Karte zu erstellen, die die Gesamtheit der neuronalen Verbindungen in einem Gehirn enthält.
Die Wörter "Konnektom" oder "Konnektomik" – in Analogie zu Begriffen wie "Genom" (die Gesamtheit der Gene) oder "Proteom" (die Gesamtheit der Proteine eines Organismus) gebildet – zeigen, vor wie kurzer Zeit sich die Disziplin erst etabliert hat: Die Wissenschaftler Olaf Sporn der Indiana University und Patric Hagmann der Uniklinik in Lausanne prägten den Ausdruck im Jahr 2005.
Wer mit wem?
Der Bedarf an einem solchen Schaltplan ist groß. Seit Jahrzehnten häufen Neurowissenschaftler Wissen über einzelne Neurone und ihre Verteilung an. Doch an Informationen über das so wichtige Zusammenspiel via Synapsen und Verbindungen herrscht allenthalben Mangel.
In der Tat haben Hirnforscher, die sich mit der Frage beschäftigen, wie das Gehirn auf unterster Ebene Berechnungen anstellt, nahezu das Maximum aus den vorhandenen Informationen herausgeholt. Ohne die Kenntnis der kleinräumigen Verknüpfungsmuster – seien es die im Hirn einer Maus, eines Insekts oder des Menschen – sind jedem weiteren Fortschritt enge Grenzen gesetzt. Doch die Schwierigkeiten, die mit der Anfertigung und Aufbereitung eines solchen allumfassenden Schaltplans verbunden sind, können nur mühselig und dank immer leistungsfähigerer Computer überwunden werden.
Erst bei einer einzigen Spezies meldeten Forscher bislang Vollzug: dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Das 9000 Synapsen starke Konnektom seiner 302 Neurone haben Forscher bereits in einer 1986 veröffentlichten Studie vorgelegt [1]. Dabei griffen sie zu einer zeitraubenden Methode, die mangels Alternativen in ganz ähnlicher Form noch heute zum Einsatz kommt.
Mammutprojekt um einen Wurm
Das Team um Sydney Brenner, damals am Medical Research Council im englischen Cambridge, zerschnitt den Wurm in zigtausend hauchfeine Schichten und fotografierte diese mit einem Elektronenmikroskop – dieses Tomografie-Verfahren wird auch als serial section electron tomography bezeichnet. Anschließend verfolgten die Forscher per Hand den Verlauf der Neurone und deren Querverbindungen, den Axonen und Dendriten, durch die Schichten. So gewannen sie ein dreidimensionales Bild des Verknüpfungsmusters.
Das Mammutprojekt nahm damals 14 Jahre in Anspruch, und das obwohl der Fadenwurm vergleichsweise simpel gestrickt ist. Will man das Verfahren auf das Hirn beispielsweise einer Maus skalieren, sprengt allein die Zahl der Würfelsegmente, die in Schichten zerlegt werden müssten, die Kapazitäten jeder einzelnen Forschergruppe. Ein Ausweg ist die Automatisierung. Wie einst bei der Entzifferung der DNA könnten auch Konnektomforscher von Robotern profitieren, die das Zerlegen und Abfotografieren in Eigenregie bewältigen.
Mit einer entsprechenden Maschine, der ATLUM ( Automatic Tape‐Collecting Lathe Ultramicrotome), arbeitet beispielsweise die Arbeitsgruppe des Harvard-Forschers Jeffrey Lichtman.
Daneben entwickeln verschiedene Labors verwandte Verfahren, wie beispielsweise das knife-edge scanning microscope, bei dem bereits während des Schnittvorgangs durch die Diamantklinge hindurch zeilenweise Aufnahmen gemacht werden. Diese werden erst zu zwei- und schließlich dreidimensionalen Bildern zusammengesetzt. Methoden, die das Präparat unangetastet lassen, etwa die ansonsten so verbreitete Computertomografie, liegen hingegen mit ihrem Auflösungsvermögen weit unterhalb dessen, was für eine Analyse des Verknüpfungsmusters notwendig wäre.
Speicherbedarf jenseits von Gut und Böse
Doch die Aufnahmen zu machen, ist die eine Sache; sie zu speichern, eine andere: Brenner und Kollegen brachten ihre C. elegans-Studie in den 1980er Jahren noch auf 340 Seiten eines Fachjournals unter. Das vollständige Mauskonnektom, rechnet Jeffrey Lichtman hingegen vor, würde hundertmal mehr Daten umfassen, als derzeit auf den Servern von Google gespeichert sind. Wie diese gewaltige Datenflut beherrscht werden soll, steht derzeit noch in den Sternen. Mehr als geduldig vertrauen, dass zukünftige Computertechnik, wenn es einmal soweit ist, genügend Speicherplatz zu einem vertretbaren Preis zur Verfügung stellt, können die Neuroforscher nicht tun.
Ausgeklügelte Bilderkennungsalgorithmen, die auch die verschiedenen Neuronen- und Synapsentypen identifizieren können, sind bereits in der Entwicklung. Neuartige genetische Färbemethoden, wie die Brainbow-Technik, können sie dabei unterstützen: Dabei werden eine Handvoll genetisch kodierter Fluoreszenzmarker ins Genom eines Versuchstier injiziert. Bei der Ausdifferenzierung der Zellen erhält jeder Typ seine eigene Mischung der Basisfarben, die sich dadurch in den Präparaten als individueller Farbton niederschlägt.
Bislang gibt es noch kein Projekt, das in Analogie zum Humangenomprojekt die Bemühungen einzelner Gruppen, das Konnektom auf Mikroebene zu erfassen, bündeln würde – auch wenn das Ausmaß und die Bedeutung der Aufgabe eigentlich danach verlangen würde.
Humankonnektomprojekt, erster Anlauf
Was derzeit unter dem Namen "Human Connectome Project" firmiert, ist ein Forschungsverbund von verschiedenen US-amerikanischen Universitäten und medizinischen Einrichtungen. Ihr Ziel ist allerdings eine Karte in größerem Maßstab: Nicht das Verzweigungsmuster innerhalb von Neuronenverbänden, sondern das ganzer Hirnareale untereinander steht bei ihnen im Vordergrund.
Daneben arbeiten Neurowissenschaftler an Karten auf mittlerer Ebene: Viele Hirnareale lassen sich in Einheiten gleicher oder ähnlicher Funktion einteilen, deren innere Verschaltung man für einige Zwecke außen vor lassen kann. Konnektom ist deshalb nicht immer gleich Konnektom – sondern auch immer eine Frage der zugrunde gelegten Skala.
Funktionale Konnektomik
Überhaupt ist zweifelhaft, ob der eine große, allumfassende Schaltplan jemals wirklich gebraucht werden wird – zumal in jeder Sekunde massenhaft Verbindungen entstehen und vergehen. Er wäre erst gefordert, wollte man das gesamte Gehirn einer bestimmten Einzelperson im Computer simulieren, schreiben beispielsweise Anders Sandberg und Nick Bostrom vom Future of Humanity Institute, einem Institut zur Technologiefolgenabschätzung in Oxford. In ihrer "Brain Emulation Roadmap" stellen sie sich die Frage, ob, wie und wann das geschehen könnte [3].
Doch davon abgesehen hoffen Wissenschaftler, dass das System "Gehirn" auf sich wiederholenden Muster beruht, die im anwachsenden Datenmaterial erkannt und interpretiert werden können. Gefragt ist also nicht allein die reine Anatomie einer toten Gewebeprobe, sondern deren Funktion im lebenden Gehirn.
Die lässt sich am besten erkennen, wenn bereits während der anatomischen Untersuchung Informationen über das Verhalten eines Zellverbands gesammelt werden. Im noch recht jungen Gebiet dieser "funktionalen Konnektomik" hat es in letzter Zeit eine Reihe von methodologischen Durchbrüchen gegeben, die das Vorhaben in Zukunft erheblich erleichtern könnten.
Alte Technik, neu kombiniert
Wissenschaftler um Troy Margrie vom National Institute for Medical Research in London horchten einzelne Zellen der Großhirnrinde lebender Mäuse ganz herkömmlich mit Elektroden ab, injizierten dann aber ein maßgeschneidertes Tollwutvirus, das die Zelle selbst sowie alle mit ihr verknüpften Neurone einfärbte. Dadurch konnten sie erkennen, von welchen Stellen die belauschte Zelle ihre Signale empfangen hatte.
Die Neurone eines Hunderte von Zellen umfassenden Volumens auf einmal beobachteten jetzt dagegen Teams des Heidelberger Max-Planck-Instituts für medizinische Forschung und der Harvard Medical School in Boston. Die Gruppe um MPI-Forscher Kevin Briggman nahm Neurone der Retina ins Visier, die um Clay Reid Zellen des primären visuellen Kortexareals [4, 5]. Beide färbten die Zellen mit Markersubstanzen an, die in Anwesenheit von Kalzium leuchten und so anzeigen, wann ein Neuron feuert. Mit Zwei-Photonen-Mikroskopie, die ihnen ein dreidimensionales Bild lieferte, erfassten sie anschließend, welche Zellen auf visuelle Stimuli reagierten und gewannen damit eine Vorstellung der Bild der Aufgabenverteilung im untersuchten Volumen.
So groß sind die weißen Flecken auf der Landkarte des Gehirns, dass Studien wie die von Briggman und Reid auf der Stelle zu einem dramatischen Wissenszuwachs führen. Briggmans Arbeit habe die zentralen Beweisstücke geliefert, um eine seit 50 Jahren geführte Debatte über die Organisation der Retina zu beenden, kommentiert der MIT-Neurowissenschaftler Seung. Und: Der Schlachtruf der Konnektomforscher "Nichts legt die Funktion eines Neurons klarer fest als seine Verknüpfung zu anderen Neuronen" werde ab sofort noch deutlich häufiger zu vernehmen sein.
Mehr zum Thema Konnektomik finden Sie auf unserer Sonderseite: spektrumdirekt.de/konnektom.
Doch wie nahe die Werte der Wahrheit kommen, ist genau genommen ungewiss: All diese Zahlen sind nur grobe Schätzungen, aus Ausschnitten hochgerechnet und auf das gesamte Gehirn übertragen, denn genau nachgezählt hat noch niemand. Dieser Mammutaufgabe haben sich erst jetzt die Konnektom-Forscher verschrieben. Ihr Ziel: eine Karte zu erstellen, die die Gesamtheit der neuronalen Verbindungen in einem Gehirn enthält.
Die Wörter "Konnektom" oder "Konnektomik" – in Analogie zu Begriffen wie "Genom" (die Gesamtheit der Gene) oder "Proteom" (die Gesamtheit der Proteine eines Organismus) gebildet – zeigen, vor wie kurzer Zeit sich die Disziplin erst etabliert hat: Die Wissenschaftler Olaf Sporn der Indiana University und Patric Hagmann der Uniklinik in Lausanne prägten den Ausdruck im Jahr 2005.
Wer mit wem?
Der Bedarf an einem solchen Schaltplan ist groß. Seit Jahrzehnten häufen Neurowissenschaftler Wissen über einzelne Neurone und ihre Verteilung an. Doch an Informationen über das so wichtige Zusammenspiel via Synapsen und Verbindungen herrscht allenthalben Mangel.
So betreibt die Arbeitsgruppe "Blue Brain Project" um Henry Markram von der Polytechnischen Hochschule Lausanne immensen Aufwand, um mit einem Supercomputer Ausschnitte aus der Großhirnrinde zu simulieren. Bis zu zehntausend Nervenzellen werden im Rechner nachgebildet. Das Verknüpfungsmuster allerdings, das die Dynamik des Netzwerks entscheidend prägt, erfassten die Wissenschaftler nicht anhand eines konkreten biologischen Vorbilds, sondern modellierten sie gezwungenermaßen nach plausiblen statistischen Regeln. Solche Zugeständnisse an die beschränkte Datenlage ziehen die Aussagekraft der gesamten Simulation in Zweifel.
In der Tat haben Hirnforscher, die sich mit der Frage beschäftigen, wie das Gehirn auf unterster Ebene Berechnungen anstellt, nahezu das Maximum aus den vorhandenen Informationen herausgeholt. Ohne die Kenntnis der kleinräumigen Verknüpfungsmuster – seien es die im Hirn einer Maus, eines Insekts oder des Menschen – sind jedem weiteren Fortschritt enge Grenzen gesetzt. Doch die Schwierigkeiten, die mit der Anfertigung und Aufbereitung eines solchen allumfassenden Schaltplans verbunden sind, können nur mühselig und dank immer leistungsfähigerer Computer überwunden werden.
Erst bei einer einzigen Spezies meldeten Forscher bislang Vollzug: dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Das 9000 Synapsen starke Konnektom seiner 302 Neurone haben Forscher bereits in einer 1986 veröffentlichten Studie vorgelegt [1]. Dabei griffen sie zu einer zeitraubenden Methode, die mangels Alternativen in ganz ähnlicher Form noch heute zum Einsatz kommt.
Mammutprojekt um einen Wurm
Das Team um Sydney Brenner, damals am Medical Research Council im englischen Cambridge, zerschnitt den Wurm in zigtausend hauchfeine Schichten und fotografierte diese mit einem Elektronenmikroskop – dieses Tomografie-Verfahren wird auch als serial section electron tomography bezeichnet. Anschließend verfolgten die Forscher per Hand den Verlauf der Neurone und deren Querverbindungen, den Axonen und Dendriten, durch die Schichten. So gewannen sie ein dreidimensionales Bild des Verknüpfungsmusters.
Das Mammutprojekt nahm damals 14 Jahre in Anspruch, und das obwohl der Fadenwurm vergleichsweise simpel gestrickt ist. Will man das Verfahren auf das Hirn beispielsweise einer Maus skalieren, sprengt allein die Zahl der Würfelsegmente, die in Schichten zerlegt werden müssten, die Kapazitäten jeder einzelnen Forschergruppe. Ein Ausweg ist die Automatisierung. Wie einst bei der Entzifferung der DNA könnten auch Konnektomforscher von Robotern profitieren, die das Zerlegen und Abfotografieren in Eigenregie bewältigen.
Mit einer entsprechenden Maschine, der ATLUM ( Automatic Tape‐Collecting Lathe Ultramicrotome), arbeitet beispielsweise die Arbeitsgruppe des Harvard-Forschers Jeffrey Lichtman.
Die 50 Nanometer dicken Schnitte transferiert ihr Gerät eigenständig auf einen "Filmstreifen", der dann zum Elektronenmikroskop transportiert werden kann. Brenner und Kollegen dagegen platzierten die Schnitte damals noch eigenhändig mit einer Wimper auf dem Probenträger.
Daneben entwickeln verschiedene Labors verwandte Verfahren, wie beispielsweise das knife-edge scanning microscope, bei dem bereits während des Schnittvorgangs durch die Diamantklinge hindurch zeilenweise Aufnahmen gemacht werden. Diese werden erst zu zwei- und schließlich dreidimensionalen Bildern zusammengesetzt. Methoden, die das Präparat unangetastet lassen, etwa die ansonsten so verbreitete Computertomografie, liegen hingegen mit ihrem Auflösungsvermögen weit unterhalb dessen, was für eine Analyse des Verknüpfungsmusters notwendig wäre.
Speicherbedarf jenseits von Gut und Böse
Doch die Aufnahmen zu machen, ist die eine Sache; sie zu speichern, eine andere: Brenner und Kollegen brachten ihre C. elegans-Studie in den 1980er Jahren noch auf 340 Seiten eines Fachjournals unter. Das vollständige Mauskonnektom, rechnet Jeffrey Lichtman hingegen vor, würde hundertmal mehr Daten umfassen, als derzeit auf den Servern von Google gespeichert sind. Wie diese gewaltige Datenflut beherrscht werden soll, steht derzeit noch in den Sternen. Mehr als geduldig vertrauen, dass zukünftige Computertechnik, wenn es einmal soweit ist, genügend Speicherplatz zu einem vertretbaren Preis zur Verfügung stellt, können die Neuroforscher nicht tun.
Ohne Computertechnik vollends verloren wären Konnektomforscher infolgedessen auch bei der Auswertung der Bilder. Die Arbeitsgruppe von Brenner konnte diese Aufgabe gerade noch eben händisch erledigen. Bei komplexeren Organismen ist das jedoch aussichtslos. Ausschließlich künstliche Intelligenz könne im geforderten Umfang die Nervenverzweigungen nachverfolgen, meint beispielsweise H. Sebastian Seung vom MIT in Boston [2].
Ausgeklügelte Bilderkennungsalgorithmen, die auch die verschiedenen Neuronen- und Synapsentypen identifizieren können, sind bereits in der Entwicklung. Neuartige genetische Färbemethoden, wie die Brainbow-Technik, können sie dabei unterstützen: Dabei werden eine Handvoll genetisch kodierter Fluoreszenzmarker ins Genom eines Versuchstier injiziert. Bei der Ausdifferenzierung der Zellen erhält jeder Typ seine eigene Mischung der Basisfarben, die sich dadurch in den Präparaten als individueller Farbton niederschlägt.
Bislang gibt es noch kein Projekt, das in Analogie zum Humangenomprojekt die Bemühungen einzelner Gruppen, das Konnektom auf Mikroebene zu erfassen, bündeln würde – auch wenn das Ausmaß und die Bedeutung der Aufgabe eigentlich danach verlangen würde.
Humankonnektomprojekt, erster Anlauf
Was derzeit unter dem Namen "Human Connectome Project" firmiert, ist ein Forschungsverbund von verschiedenen US-amerikanischen Universitäten und medizinischen Einrichtungen. Ihr Ziel ist allerdings eine Karte in größerem Maßstab: Nicht das Verzweigungsmuster innerhalb von Neuronenverbänden, sondern das ganzer Hirnareale untereinander steht bei ihnen im Vordergrund.
Solche Daten gewinnen sie unter anderem mit Hilfe von Diffusions-Tensor-Bildgebungsverfahren, einer abgewandelten Magnetresonanztomografie, bei der die Bewegung von Wassermolekülen in den Nervensträngen erfasst wird. Die dabei entstehenden Karten können helfen, das Zusammenspiel im Hirn als Ganzes zu verstehen. Auch bestimmte Krankheiten könnten sich anhand von Auffälligkeiten in der grobskaligen Verknüpfungsstruktur erkennen lassen, so zumindest die Hoffnung vieler Forscher.
Daneben arbeiten Neurowissenschaftler an Karten auf mittlerer Ebene: Viele Hirnareale lassen sich in Einheiten gleicher oder ähnlicher Funktion einteilen, deren innere Verschaltung man für einige Zwecke außen vor lassen kann. Konnektom ist deshalb nicht immer gleich Konnektom – sondern auch immer eine Frage der zugrunde gelegten Skala.
Funktionale Konnektomik
Überhaupt ist zweifelhaft, ob der eine große, allumfassende Schaltplan jemals wirklich gebraucht werden wird – zumal in jeder Sekunde massenhaft Verbindungen entstehen und vergehen. Er wäre erst gefordert, wollte man das gesamte Gehirn einer bestimmten Einzelperson im Computer simulieren, schreiben beispielsweise Anders Sandberg und Nick Bostrom vom Future of Humanity Institute, einem Institut zur Technologiefolgenabschätzung in Oxford. In ihrer "Brain Emulation Roadmap" stellen sie sich die Frage, ob, wie und wann das geschehen könnte [3].
Doch davon abgesehen hoffen Wissenschaftler, dass das System "Gehirn" auf sich wiederholenden Muster beruht, die im anwachsenden Datenmaterial erkannt und interpretiert werden können. Gefragt ist also nicht allein die reine Anatomie einer toten Gewebeprobe, sondern deren Funktion im lebenden Gehirn.
Die lässt sich am besten erkennen, wenn bereits während der anatomischen Untersuchung Informationen über das Verhalten eines Zellverbands gesammelt werden. Im noch recht jungen Gebiet dieser "funktionalen Konnektomik" hat es in letzter Zeit eine Reihe von methodologischen Durchbrüchen gegeben, die das Vorhaben in Zukunft erheblich erleichtern könnten.
Alte Technik, neu kombiniert
Wissenschaftler um Troy Margrie vom National Institute for Medical Research in London horchten einzelne Zellen der Großhirnrinde lebender Mäuse ganz herkömmlich mit Elektroden ab, injizierten dann aber ein maßgeschneidertes Tollwutvirus, das die Zelle selbst sowie alle mit ihr verknüpften Neurone einfärbte. Dadurch konnten sie erkennen, von welchen Stellen die belauschte Zelle ihre Signale empfangen hatte.
Die Neurone eines Hunderte von Zellen umfassenden Volumens auf einmal beobachteten jetzt dagegen Teams des Heidelberger Max-Planck-Instituts für medizinische Forschung und der Harvard Medical School in Boston. Die Gruppe um MPI-Forscher Kevin Briggman nahm Neurone der Retina ins Visier, die um Clay Reid Zellen des primären visuellen Kortexareals [4, 5]. Beide färbten die Zellen mit Markersubstanzen an, die in Anwesenheit von Kalzium leuchten und so anzeigen, wann ein Neuron feuert. Mit Zwei-Photonen-Mikroskopie, die ihnen ein dreidimensionales Bild lieferte, erfassten sie anschließend, welche Zellen auf visuelle Stimuli reagierten und gewannen damit eine Vorstellung der Bild der Aufgabenverteilung im untersuchten Volumen.
Auch hier stand anschließend wieder das Zerschneiden und Abfotografieren des Untersuchungsareals an. Per Elektronenmikroskopie ermittelten sie die feinen Verästelungen des Nervennetzwerks und glichen sie mit der zuvor bestimmten Funktion der Neuronentypen ab.
So groß sind die weißen Flecken auf der Landkarte des Gehirns, dass Studien wie die von Briggman und Reid auf der Stelle zu einem dramatischen Wissenszuwachs führen. Briggmans Arbeit habe die zentralen Beweisstücke geliefert, um eine seit 50 Jahren geführte Debatte über die Organisation der Retina zu beenden, kommentiert der MIT-Neurowissenschaftler Seung. Und: Der Schlachtruf der Konnektomforscher "Nichts legt die Funktion eines Neurons klarer fest als seine Verknüpfung zu anderen Neuronen" werde ab sofort noch deutlich häufiger zu vernehmen sein.
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