Kosmologie: Streit um die Dunkle Materie
Die Beweislast scheint erdrückend: Rund 80 Prozent der Materie im Kosmos liegen offenbar in Form so genannter Dunkler Materie vor. Einer Materieform also, die außer über die Schwerkraft kaum mit der "normalen" Materie – dem Stoff, aus dem Sterne, Planeten und Lebewesen bestehen – in Wechselwirkung tritt und die deshalb nicht direkt sichtbar ist. Sie ist also dunkel und besteht der Theorie nach aus bislang unentdeckten Elementarteilchen.
Für die Existenz der Dunklen Materie sprechen immerhin einige Hinweise – die Rotationskurven von Galaxien etwa: Sie drehen sich in ihren äußeren Bereichen viel zu schnell, um allein von der Schwerkraft der sichtbaren, leuchtenden Materie zusammengehalten zu werden. Ebenso die schnelle Bewegung von Galaxien in Galaxienhaufen – auch hier reicht die Schwerkraft der leuchtenden Materie nicht aus, um Stabilität zu gewährleisten. Weitere Beweise liefert der Gravitationslinseneffekt – also die Ablenkung von Lichtstrahlen durch die Gravitation – an Galaxienhaufen und die Untersuchung von Temperaturschwankungen in der kosmischen Hintergrundstrahlung.
Und doch bleiben Zweifel – denn alle diese Belege sind letztlich indirekter Natur. Ein konkreter Nachweis der Dunklen Materie ist bislang nicht gelungen. Könnte es also sein, dass es sie gar nicht gibt und wir die Beobachtungsbefunde falsch interpretieren? Dass sich die Beobachtungen auch mit anderen Ansätzen erklären lassen, etwa einer Modifizierung der Gravitationstheorie?
"Sie ist einfach nicht da"
Erst unlängst haben zwei Forschungsarbeiten für Aufsehen gesorgt, die vergeblich nach Dunkler Materie in der Milchstraße gesucht haben. So fand ein Team chilenischer Forscher bei einer genauen Untersuchung der Bewegung von Sternen in der Umgebung des Sonnensystems keinen Hinweis darauf, dass es dort Dunkle Materie gibt. "Die Menge an Masse, die wir aus unseren Beobachtungen ableiten, entspricht sehr genau dem, was wir in der Region um die Sonne sehen: Sterne, Staub und Gas", erläutert Teamleiter Christian Moni-Bidin von der Universidad de Concepción in Chile. "Das lässt keinerlei Raum für zusätzliche Materie wie die Dunkle Materie, die wir erwartet haben. Unsere Berechnungen zeigen, dass sie sich in den Messungen deutlich bemerkbar machen müsste. Aber sie ist einfach nicht da."
Moni-Bidin und sein Team haben mit dem 2,2-Meter-Teleskop der Europäischen Südsternwarte in Chile die Bewegung von über 400 Sternen in Entfernungen von bis zu 13 000 Lichtjahren mit hoher Genauigkeit gemessen. Die Bewegungen werden durch die Anziehungskraft aller Massen in der Umgebung beeinflusst – also auch durch die Dunkle Materie. Doch ein solcher Einfluss ließ sich in den Daten nicht nachweisen: In einem Volumen von der Größe der Erde müssten laut dem Standardmodell 0,4 bis 1,0 Kilogramm Dunkle Materie vorhanden sein; die Messungen von Moni-Bidin und seinem Team lieferten jedoch einen Wert von null (immerhin mit einer Schwankungsbreite von plus bis minus 0,07 Kilogramm).
Doch schon kurz nach der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse gerieten Moni-Bidin und seine Kollegen in die Kritik. "Das Ergebnis ist falsch", konstatierten Jo Bovy und Scott Tremaine vom Institute for Advanced Studies in Princeton. Die chilenischen Forscher hätten falsche Annahmen über die Verteilung der Sterngeschwindigkeiten zu Grunde gelegt. Korrigiere man diese Annahmen, so ergebe sich eine Massendichte, die mit dem Standardmodell unserer Milchstraße und damit einem hohen Anteil an Dunkler Materie in guter Übereinstimmung ist. Moni-Bidin reagiert zurückhaltend auf die Kritik: "Bislang wurde die Arbeit von Bovy und Tremaine nicht begutachtet. Erst wenn das geschehen ist, werde ich eine Antwort darauf publizieren."
Unterdessen stießen Forscher der Universität Bonn auf ein anderes Problem: Die Verteilung von Zwerggalaxien, Kugelsternhaufen und Sternströmen um unsere Milchstraße steht nach Ansicht von Marcel Pawlowski, Jan Pflamm-Altenburg und Pavel Kroupa im Widerspruch zur Annahme, Dunkle Materie sei der Hauptbestandteil der Materie im Kosmos. Die drei Astronomen hatten alle verfügbaren Aufnahmen des Himmels ausgewertet – von frühen fotografischen Platten bis hin zu den modernen, von einem Roboterteleskop aufgenommenen Bildern des Sloan Digital Sky Survey.
"Wir waren erstaunt darüber, dass die räumlichen Verteilungen dieser unterschiedlichen Arten von Objekten in sehr guter Übereinstimmung miteinander sind", so Kroupa. Zwerggalaxien, Kugelsternhaufen und Sternströme zeigen eine starke Konzentration auf eine Ebene, die senkrecht auf der Scheibenebene der spiralförmigen Milchstraße steht – und diese "polare" Struktur reicht mit einer Ausdehnung von einer Million Lichtjahren weit über die 100 000 Lichtjahre durchmessende galaktische Scheibe hinaus. Von besonderer Bedeutung sei, so betonen die Astrophysiker, dass sich auch die Sternströme in dieser Ebene befinden: "Das zeigt, dass diese Objekte sich nicht zufällig gerade jetzt dort ansammeln, sondern dass sie sich darin bewegen", so Pawlowski, "die Struktur ist also stabil."
Versagt das Standardmodell?
Das kosmologische Standardmodell mit einem dominierenden Anteil an Dunkler Materie sagt jedoch voraus, dass große Galaxien wie die Milchstraße gleichmäßig von einer großen Zahl von Zwergsystemen umgeben sind. "Es ist völlig unmöglich, dass diese kleinen Galaxien alle in einer Ebene enden", sagt Kroupa. Und sein Kollege Pflamm-Altenburg ergänzt: "Die Satellitengalaxien und Sternhaufen müssen zeitgleich bei einem einzigen Ereignis entstanden sein, beim Zusammenstoß zweier Galaxien." Wenn das aber der Fall ist, dann besitzt die Milchstraße keinerlei Begleiter, wie sie das Standardmodell vorhersagt. Pawlowski, Pflamm-Altenburg und Kroupa sehen darin "ein katastrophales Versagen des Standardmodells der Kosmologie". Die Beobachtungen stünden im klaren Widerspruch zu einer dominierenden Rolle Dunkler Materie im Universum.
"Trotzdem rotiert die Milchstraße natürlich schneller, als es sich allein mit der sichtbaren Materie erklären lässt", hebt Moni-Bidin das Dilemma hervor. "Wenn die Dunkle Materie also nicht da ist, wo wir sie erwarten, dann muss es eine andere Lösung für dieses Problem der fehlenden Materie geben." Eine mögliche Lösung ist die "modifizierte newtonsche Dynamik", kurz MOND, die seit den 1980er Jahren von dem israelischen Physiker Mordehai Milgrom propagiert wird. Doch dieser und andere Ansätze stehen vor Problemen, seit die Massen von Galaxienhaufen auch mit Hilfe des Gravitationslinseneffekts untersucht werden können. Insbesondere Mairi Sakellariadou vom King's College in London hat in einer Reihe von Arbeiten gezeigt, dass alternative Gravitationstheorien allein die Beobachtungen der Lichtablenkung an Galaxienhaufen nicht erklären können, sondern auch hier eine zusätzliche dunkle Materiekomponente eingeführt werden müsste.
Letztlich kann die Entscheidung, ob es Dunkle Materie gibt oder nicht, wohl nur durch einen direkten Nachweis fallen: durch die Messung der Elementarteilchen, aus denen die Dunkle Materie besteht. Mit großen Detektoren, tief unter Hunderten von Metern Felsgestein untergebracht, suchen Physiker überall auf der Welt nach diesen Teilchen. Wenn die Erde sich durch ein "Meer" aus Dunkler Materie bewegt, so die Überlegung der Forscher, müssten die in den Detektoren registrierten Teilchen eine jahreszeitliche Variation zeigen. Im Juni, wenn Erde und Sonne sich relativ zur Galaxis in die gleiche Richtung bewegen, müssten mehr Partikel der Dunklen Materie eintreffen als im Dezember, wenn die Erde sich zur Sonne relativ in entgegengesetzter Richtung bewegen. So könnten die Physiker die Teilchen der Dunklen Materie von anderen, störenden Teilchen unterscheiden, die über das Jahr hinweg gleichmäßig eintreffen.
Doch die bisherigen Ergebnisse sind verwirrend: Einige Detektoren sehen tatsächlich jahreszeitliche Variationen, andere nicht. Und die Experimente, die ein positives Signal gefunden haben, stimmen nicht darin überein, welche Masse die gefunden Teilchen besitzen. In allen Fällen sind die Massen allerdings erheblich kleiner als auf Grund theoretischer Überlegungen erwartet. Und es gibt noch ein weiteres Problem: Die Teilchen der Dunklen Materie sollten gelegentlich zusammenstoßen, sich dabei gegenseitig vernichten und hochenergetische Gammastrahlung aussenden. Mehrere Forscherteams haben bereits mit Spezialteleskopen in Galaxienhaufen und Galaxien nach dieser charakteristischen Strahlung gesucht – und nichts gefunden.
Die Dunkle Materie bleibt also vorerst rätselhaft. Denn verzerrte Galaxienbilder weisen einerseits zweifelsfrei ihre Existenz nach. Ansonsten herrscht aber Fehlanzeige: Sowohl im Weltall als auch auf der Erde entzieht sich die mysteriöse Substanz bislang den Nachstellungen der Forscher.
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