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Leser-Essay: "Was ist Selbsterkenntnis?"

Feder


Die Neugier der Affen

Von Hans-Dieter Hellmann

Feder
Einst waren weite Teile der Erde von dichten Wäldern bedeckt. In diesen Wäldern, hoch oben im Geäst der Bäume, lebten die Affen. In den Wipfeln fanden sie alles, was sie zum Leben brauchten. Dort wuchsen saftige Früchte, die Blätter boten Schutz vor Regen und der brennenden Sonne, und im Gewirr der Äste ließen sich prächtige Lager bauen. Unten, so hieß es, lauerten Gefahren. Am Boden würden sie alle verderben. So schwangen sich die Affen von Baum zu Baum, von Ast zu Ast und hüteten sich, zu weit hinabzusteigen.

Doch die jüngeren unter ihnen zog es immer wieder hinunter, besonders an Waldlichtungen, wenn die Sonne geheimnisvolle Bilder aus Licht und Schatten auf die Erde warf. Eines Tages, als alle Früchte der umliegenden Bäume geerntet und verspeist waren, musste die Horde wieder einmal weiterziehen. Die Jungtiere schwangen sich vorneweg, denn sie waren hungrig. Am Abend fanden sie wieder Bäume voller süßer Früchte. Sie standen am Rand einer großen Lichtung, auf der im letzten Tageslicht etwas Unbekanntes glitzerte. Die Neugier brannte in den jungen Affen, doch es war bereits zu spät, um das Geheimnis der Lichtung zu erkunden.

Am nächsten Morgen, die Alten schliefen noch, kletterten die Jungen hinunter. Einer von ihnen wagte sich weit hinab. Ein morscher Ast brach unter ihm, und er stürzte nahe dem geheimnisvollen Glitzern zu Boden. Vor Schreck blieb er wie gelähmt liegen. Die anderen flüchteten hastig zurück auf die Bäume. Nach einer Weile erkannte der, der auf den Boden gestürzt war, dass ihm keine Gefahr drohte. Die Ungeheuer, vor denen die Alten gewarnt hatten, waren nirgends zu sehen.

Langsam näherte er sich dem Glitzern. Als er seinen Kopf darüberbeugte, tauchte darin ein Kopf auf. Der Affe zuckte zurück, und auch das Gesicht verschwand. Bald siegte die Neugier. Er beugte sich wieder über das Glitzern, und wieder erschien ein Gesicht. Er schob eine Hand vor, um nach dem Fremden zu tasten. Da hob auch der andere eine Hand, so vorsichtig und langsam wie er selbst. Als sich beide berührten, verschwamm die fremde Gestalt. Da endlich begriff der Affe, was ihn genarrt hatte. Nichts als eine Wasserfläche war es, in der er sich spiegelte.

Wasser kannte er vom Regen, der durch die Blätter tropfte. Doch nie zuvor hatte er einen Teich, nicht einmal eine Pfütze aus der Nähe gesehen. Zum ersten Mal begriff er, was eine glatte Wasserfläche vermochte. Sie zeigte ihm, wer er war. Die anderen hatten den jungen Affen aus sicherer Entfernung beobachtet. Sie riefen ihn, aber er reagierte nicht. Da stiegen sie hinab und schlichen zum Teich. Alle staunten und konnten sich an ihren Spiegelbildern nicht sattsehen.

Dann erwachten die Alten oben im Geäst. Wohin war der Nachwuchs verschwunden? Sie stiegen vorsichtig hinunter und entdeckten die Kinder auf dem Waldboden. Ein mutiges Weibchen sprang vom Baum zu ihnen herab. Nach und nach folgten die anderen. Nur die ältesten Affen, darunter der mächtige Herr der Horde, blieben in den Bäumen.

Der Alte, dessen Wille bisher immer Gesetz gewesen war, fluchte und zeterte – ohne Erfolg. Schließlich sprang auch er mit wütendem Geschrei herunter und stürzte sich auf das sonderbare Etwas, das ihm seine Herrschaft streitig machte. Als er sich darüberbeugte, starrte ihn ein Monster an: warzig, narbenbedeckt, mit bleckenden Zähnen und blutunterlaufenen Augen. Zornig brüllte er auf, zerschlug die Fratze und ging auf seine Horde los. Diesem Teufel sollten sie nicht gehören! Er biss und schlug um sich und trieb nach und nach alle Affen wieder auf die Bäume.

Der Tag verging, die Nacht kam und dann der nächste Morgen. Mit den ersten Sonnenstrahlen stiegen viele Affen wieder hinab, darunter auch manche ältere. Als der einst mächtige Herr der Horde sie verfolgte, bleckten die Abtrünnigen ihr Gebiss. So teilte sich die Affenhorde. Die einen blieben zurück im Schutz der Bäume, die anderen zogen aus und eroberten die Welt.

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