Majorana-Fermionen: Exotische Teilchen im Nanodraht
Als der britische Physiker Paul Dirac 1928 eine Gleichung aufstellte, die sowohl die Eigenschaften als auch das Verhalten bestimmter Elementarteilchen quantenmechanisch und relativistisch korrekt darstellt, erlebte er eine Überraschung: Die "Dirac-Gleichung" enthielt nicht nur die erwarteten Lösungen mit positiver Masse, sondern auch dazu symmetrische Lösungen mit negativer Masse.
Die Lösungen mit positiver Masse entsprechen erwartungsgemäß den von ihm untersuchten Fermionen, Teilchen mit halbzahligem Spin wie beispielsweise das Elektron. Was aber bedeuten die negativen Lösungen? Dirac deutete sie als Antiteilchen – Teilchen mit umgekehrter elektrischer Ladung, aber gleicher Masse. Als Spiegelbild des Elektrons sagte die Dirac-Gleichung also die Existenz eines positiv geladenen Teilchens voraus, des Positrons. Dessen Existenz wurde tatsächlich bereits fünf Jahre später nachgewiesen.
Teilchen und Antiteilchen sind nicht nur physikalische Spiegelbilder, sie sind auch unversöhnliche Kontrahenten. Treffen nämlich ein Teilchen und sein Antiteilchen aufeinander – also beispielsweise ein Elektron und ein Positron – dann vernichten sie sich gegenseitig. Die Masse der beiden Partikel wird bei einer solchen Paarvernichtung nach Einsteins bekannter Gleichung E = mc2 vollständig in Energie in Form von Photonen umgewandelt.
Problemfall Neutrino
Zu einem Problem für die Beschreibung mit der Dirac-Gleichung wurde das Neutrino, das Forscher 1930 indirekt über den radioaktiven Betazerfall nachwiesen. Neutrinos tragen wie Elektronen einen halbzahligen Spin, sind aber elektrisch neutral – wie sollen sie sich also von ihren Antiteilchen, die von der Dirac-Gleichung vorhergesagt werden, unterscheiden? 1937 zeigte der italienische Physiker Ettore Majorana eine Lösung für dieses Dilemma auf. Eine von ihm eingeführte kleine Änderung der Dirac-Gleichung führte dazu, dass elektrisch neutrale Fermionen ihr eigenes Antiteilchen sein können. Solche Partikel, die von ihrem Antiteilchen nicht unterscheidbar sind, bezeichnet man daher als Majorana-Fermionen.
Ob Neutrinos tatsächlich Majorana-Fermionen sind, ist allerdings bis heute unklar. Im Standardmodell der Teilchenphysik gehorchen alle Fermionen der Dirac-Gleichung, auch die Neutrinos. Doch gerade bei diesen Teilchen hat das Standardmodell eine Schwachstelle: Es sagt voraus, dass Neutrinos masselos sind. Zahlreiche Experimente belegen indes, dass Neutrinos eine – wenn auch im Vergleich zu anderen Fermionen kleine – Masse besitzen.
Experimentell lässt sich nur äußerst schwer überprüfen, ob Neutrinos Dirac- oder Majorana-Fermionen sind. Ein Unterschied könnte sich etwa beim doppelten Betazerfall zeigen. Beim gewöhnlichen Betazerfall zerfällt in einem Atomkern ein Neutron unter Aussendung eines Elektrons in ein Proton. Dabei entsteht zusätzlich ein Neutrino. Beim doppelten Betazerfall wandeln sich hingegen zwei Neutronen gleichzeitig in Protonen um – entsprechend entstehen zwei Elektronen und zwei Neutrinos. Wenn nun aber das Neutrino ein Majorana-Fermion ist, also sein eigenes Antiteilchen, dann können sich diese beiden Neutrinos gegenseitig vernichten. Physikerteams in aller Welt sind mit speziellen unterirdischen Detektoren – NEMO in Frankreich, CUORE und GERDA in Italien, sowie MAJORANA in den USA – auf der Suche nach solchen neutrinolosen, doppelten Betazerfällen. Bislang ohne Erfolg.
Teilchen, die keine sind
In jüngster Zeit bekommen die Elementarteilchenphysiker bei ihrer Suche nach Majorana-Fermionen Konkurrenz durch Festkörperphysiker. Zwar besteht gewöhnliche Materie auf elementarer Ebene vollständig aus Teilchen, die nicht ihre eigenen Antiteilchen sind. Doch innerhalb der Materie können Anregungszustände aus mehreren Teilchen existieren, die sich von außen betrachtet wie eigenständige Partikel verhalten. Quasiteilchen nennen die Physiker solche Zustände. Bekannte Beispiele für Quasiteilchen sind Phononen, akustische Anregungszustände in Kristallen, Plasmonen, Ladungsanregungen des Elektronengases in Metallen, und Exzitonen, Anregungszustände, die mit der dielektrischen Polarisation eines Festkörpers verknüpft sind.
Seit mehreren Jahren suchen Wissenschaftler bereits in Supraleitern oder eindimensionalen Nanodrähten nach Anregungszuständen von Elektronen, die sich als Majorana-Fermionen beschreiben lassen. Nun haben Leo Kouwenhoven von der Universität Delft und seine Mitarbeiter diese beiden Ansätze miteinander verknüpft. Die Forscher schlossen dazu einen Halbleiternanodraht aus Indiumantimonid (InSb) an einem Ende an einen Supraleiter, am anderen Ende an einen normalen Leiter. Mit Hilfe eines elektrischen Kontakts erzeugten sie in diesem eindimensionalen Draht eine Tunnelbarriere, die den supraleitenden vom normal leitenden Bereich abtrennt.
Bei Messungen des Tunnelstroms an dieser Barriere unter verschiedenen Bedingungen – das Team hat unter anderem den Einfluss eines Magnetfelds auf den Effekt untersucht – offenbarten sich Anregungszustände im Supraleiter, die sich von allen bislang bekannten Anregungen unterscheiden. Die neuen Anregungen lassen sich, so Kouwenhoven und seine Kollegen, als elektrisch neutrale Teilchen mit einer Energie von exakt null beschreiben – was genau der Vorhersage für Majorana-Fermionen entspricht.
Neutraler Paartanz
Auf den ersten Blick mag es seltsam anmuten, dass elektrisch negativ geladene Elektronen elektrisch neutrale Majorana-Teilchen hervorbringen können. "Das ist nur dadurch möglich, dass die Elektronen Paare mit so genannten Löchern bilden", erläutert Kouwenhoven. Löcher sind Stellen im Supraleiter, an denen ein Elektron fehlt, weil dort gewissermaßen eine Ladung "geborgt" worden ist. Solche Löcher können ebenso wie die eigentlichen Ladungsträger, also die Elektronen, durch einen Leiter wandern. Dabei springen Elektronen von einem Molekül zum nächsten und reichen so das Loch weiter. "Es sind Kombinationen aus Elektron und Loch, die als das Quasiteilchen in Erscheinung treten, das sein eigenes Antiteilchen ist", so Kouwenhoven weiter.
Die Majorana-Fermionen haben noch eine weitere Eigenschaft, durch die sie für den Bau von Quantencomputern interessant werden. Gewöhnliche Teilchen ein und desselben Typs lassen sich nicht voneinander unterscheiden. Tauschen also zwei Elektronen ihre Plätze, so ist der neue physikalische Zustand mit dem alten vollkommen identisch. Majorana-Teilchen verhalten sich anders: Da sie ihre eigenen Antiteilchen sind, tragen sie eine Art Gedächtnis für einen Platztausch, der sich in ihrer quantenmechanischen Wellenfunktion bemerkbar macht. Diese Eigenschaft lässt sich – zumindest theoretisch – nutzen, um logische Operationen durchzuführen, indem man Majorana-Teilchen ihre Plätze tauschen lässt. Ob sich diese Idee auch in eine technische Anwendung übersetzen lässt, muss sich allerdings erst noch zeigen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Theorie und Praxis bei ihrem Aufeinandertreffen selbst vernichten.
Hinweis: In einer früheren Version des Artikels haben wir bedauerlicherweise beim Beta-Zerfall Protonen und Neutronen durcheinandergeworfen. Wir bitten dies zu entschuldigen und bedanken uns bei allen Lesern, die uns einen entsprechenden Hinweis gegeben haben. D. Red.
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