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Nobelpreise 2006: Verkannter Verstummer

Den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin des Jahres 2006 teilen sich Andrew Fire und Craig Mello. Die beiden US-Amerikaner werden für ihre Entdeckung der RNA-Interferenz gewürdigt - einem unerwarteten und in vieler Hinsicht nützlichen Kniff der Zelle, ihre genetische Aktivität zu kontrollieren.
Nobelpreis-Komitee
Immer wenn Ausnahmen sich selbst als Regel entpuppen, wird es richtig spannend – und diesmal bescherte eine lang links liegen gelassene Dogma-Umgehungsstraße ihren Entdeckern einen Nobelpreis. Andrew Fire und Craig Mello hatten sich an Würmern einer vernachlässigten Merkwürdigkeit von Pflanzen angenommen und ihren überragenden Nutzen für Wesen von Wurm bis Mensch nach und nach enthüllt.

Die Absonderlichkeit im Stoffwechsel pflanzlicher Zellen war vor 1990 schon seit längerem als gene- oder RNA-silencing bekannt. Sie galt allerdings als nicht viel mehr denn eine von vielen speziellen Möglichkeiten, mit denen Gene im Zweifel eben auch noch reguliert werden können.

Andrew Fire und Craig Mello | Die diesjährigen Medizin-Nobelpreisträger: Andrew Fire (links) und Craig Mello (rechts) werden für ihre Entdeckung der RNA-Interferenz geehrt. Mit dieser Methode lassen sich Gene gezielt stilllegen, ohne ins Erbgut eingreifen zu müssen.
Welche Erbgut-Bauanleitung wann zum Bau eines Eiweißes führt – so die damals verbreitete Einschätzung –, entscheidet die Zelle im Normalfall fast immer schnörkellos effizient: Der gerade gefragte DNA-Abschnitt, eine lange Folge der vier bekannten Basenbausteine, wird zeitnah abgelesen und in eine flüchtige komplementäre Transportmatrize übersetzt ("Transkription"). Diese – eine einzelsträngige Boten- oder mRNA, mit der dem DNA-Abschnitt entgegengesetzten, homologen Basenabfolge – wandert zu den wartenden Proteinfabiken, wo sie abgelesen wird und ihrer Bauinformation folgend Proteine entstehen. Die wertvolle Boten-RNA erst mühsam zu produzieren, ohne sie dann später auch zu verwenden, klang vielen Forschern damals eher als Energieverschwendung. Aber zugegeben – genau das passierte nach damaligem Stand der Dinge offenbar gelegentlich beim gene silencing.

Hierbei bringen Pflanzen ihre mRNA noch ganz kurz vorm Ablesen durch ein homologes RNA-Stückchen mit einer entgegengesetzten Basenfolge zum Verstummen. Eine solche einzelsträngige "antisense-RNA" – sie kann von der Zelle selbst stammen oder von außen eingeschleust werden – paart sich dann wohl mit der passenden Boten-RNA zu einem funktionslosen Doppelstrang, den die Zellenzyme bald abbauen, spekulierte die Forschergemeinde. Ähnliches war auch schon bei Bakterien bekannt und bei Pilzen beobachtet worden. Und nach und nach wurde vor knapp einem Jahrzehnt deutlich, dass der kuriose Mechanismus der "posttransriptionalen" Genregulation wohl verbreiteter ist als zunächst gedacht.

Da betrat die erste der jetzt preisgekrönten Arbeiten von Fire und Mello die Bühne der Öffentlichkeit. Die beiden Wissenschaftler – heute an der Universität Stanford in Kalifornien und dem Howard Hughes Medical Institute – hatten im gene silencing mehr als eine genregulatorische Kuriosität gesehen und den Mechanismus an ihrem Labortierchen, dem Modell-Fadenwurm Caenorhabditis elegans, genauer untersucht. Ihre erste Schlussfolgerung: Die bis dahin noch gängige simple Erklärung, nach der eine Basenpaarung zwischen homologen RNA-Einzelsträngen (ssRNA) zu einem funktionslosen RNA-Doppelstrang (dsRNA) führt, konnte nicht ganz stimmen.

Nobelpreiswürdiges Experiment zur RNA-Interferenz | Das äußere Erscheinungsbild (der "Phänotyp") des Fadenwurms C. elegans ändert sich mit der Aktivität eines Gens, das ein Muskelstrang-Protein kodiert. Zur Überraschung der Forschergemeinde wird nur mit von außen zugeführter doppelsträngiger, nicht aber einzelsträngiger RNA die Boten-RNA dieses Myofilamet-Gen völlig abgefangen und blockiert. Das Resultat ist ein typischer gewundener Phänotyp des Wurms.
Die Forscher zeigten 1998, dass weniger einzelsträngige, sondern vielmehr doppelsträngige RNA-Schnipsel sequenzgleiche Boten-RNA in den Wurmzellen spezifisch blockiert [1]. Diese Blockade – sie tauften sie nun RNA-Interferenz (RNAi) – konnte mit nur wenigen RNA-Molekülen erreicht werden, die sich irgendwie vervielfältigen und von Zelle zu Zelle verbreiten. Noch im selben Jahr lieferte Fire weiter Belege dafür, dass die Ziel-mRNA bei der RNAi tatsächlich abgebaut wird [2]. Bald stürzten sich andere Forschergruppen auf das Thema, fanden ganz ähnliche Mechanismen in Taufliegen, einzelligen Parasiten, Pflanzen, Plattwürmern, Nesseltieren und Fischen – und nur vier Jahre später würdigte das Wissenschaftsmagazin Science die RNA-Interferenz als "wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres 2002".

RNA-Interferenz: Arbeitsteilung verschiedener Enzyme | Der Prozess der RNA-Interferenz und die beteiligten biochemischen Mechanismen: Zunächst zerhäckselt die Endonuclease dicer doppelsträngige RNA in kleinere Stücke (siRNA). Der sequenzhomologe antisense-Abschnitt dieser kurzen RNA-Schnipsel wird dann vom RISC-Komplex aufgenommen und mit dem Ziel-Boten-RNA-Strang verpaart. Daraufhin schneidet RISC die mRNA, sie wird anschließend abgebaut.
Da war auch bereits mehr über die mysteriöse RNAi-Wirkungsweise herausgefunden worden: Beteiligt sind zwei Enzymsysteme mit martialischen Namen: der Zerhäcksler und der Schlitzer, dicer und slicer. Wieder waren auch Mello und Fire an der Aufklärungsarbeit beteiligt. Sie erkannten, dass längere dsRNA-Blockade-Moleküle stets zunächst in kleinere Schnipsel aus gut 20 Nukleotid-Bausteinen zerlegt werden [3]. Hierbei wird die weit verbreitete dicer-Ribonuklease tätig, die kleineren Bruchstücke werden dann von einem Komplex aus Zellenzymen namens RISC (RNA-induced silencing complex) verarbeitet, der sequenzhomologe RNA-Schnipsel verpaart und mit seiner slicer-Unterabteilung, einer Endonuklease, zerlegt.

Was den vormals für eine pflanzliche Absonderlichkeit gehaltenen Mechanismus zu einem nobelpreiswürdigen, praxisrelevanten Forschungsgegenstand macht, ist die immer noch wachsende Masse an RNA-Sorten, die mittlerweile als mögliches Ziel von dicer, slicer und Co in Mensch, Maus und Pantoffeltierchen entdeckt worden ist. Gleich mehrere Aufgabenbereiche scheint die RNA-Interferenz in allen Feld-, Wald- und Wiesenzellen konkurrenzlos zu übernehmen – und weitere hoffen Mediziner und Gentechniker ihr in Zukunft noch nutzbringend aufzuhalsen.

Zellen von Pflanzen, Würmern und Insekten immunisieren sich per RNAi beispielsweise gegen das doppelsträngige Erbgut von Viren und verhindern so die feindliche Übernahme. Neben viraler RNA bremst der RNA-Häcksler aber auch gegen eine zu intensive Aktivität so genannter mobiler genetischer Elemente, aus denen bis zu fünfzig Prozent unseres Genoms bestehen könnte. Auch das Springen dieser autonomen DNA-Abschnitte läuft wahrscheinlich über eine dsRNA-Zwischenstufe, die per RNAi wohl häufig abgebaut wird – fehlte dieser Mechanismus, so nähmen unerwünschte Ausfälle wichtiger Gene, in die Transposons per Zufall hineingehüpft sind, wortwörtlich sprunghaft zu.

Neben solchen erbgutsanitären Aufgaben bleibt natürlich die schon lange vermutete genregulatorische Aufgabe der RNAi – nur ist sie ganz sicher viel bedeutender als noch vor einigen Jahren gedacht. Mittlerweile haben Forschungen enthüllt, dass vielleicht um die dreißig Prozent aller Gene posttranskriptional reguliert werden. Dabei spielen so genannte micro-RNA eine Rolle, von denen auch schon etwa 500 in Säugetierzellen nachgewiesen wurden. Diese miRNA werden wie Boten-RNA im Zellkern als größere Vorläufermoleküle produziert und wie bei der RNAi zurechtgestutzt – die hierbei entstehenden Schnipsel interagieren dann wieder mit Genen und schalten sie so aus und an.

Genau dies soll auch in naher Zukunft zu praktischem Nutzen des Nobelpreiswissens führen, hoffen Mediziner. Sie arbeiten seit längerem daran, bestimmte unerwünschte Gene auszuschalten, indem maßgeschneiderte dsRNA von außen zugeführt werden. Im Labor funktioniert dies bei lebenden Würmern und Säugetier-Zellinien recht gut.

Bis zur tatsächlichen Entwicklung von Medikamenten gegen menschliche Krankheiten ist es aber noch ein steiniger Weg, wie beispielsweise die Ergebnisse zweier Studien der vergangenen Monate mahnten. Im Mai etwa konnten Wissenschaftler um Mark Kay zwar Hepatitis-C-Viren in Mäusen per RNAi-Mechanismen bekämpfen, fast die Hälfte einiger Versuchsratten starb aber an den Folgen eines ähnlichen Experimentes. Und vor zwei Wochen erst warnte auch Philip Beachy nach Versuchen, bei denen eingeschleuste dsRNA sich in Taufliegen als erstaunlich unselektiv erwiesen hatte. Vorsicht ist also trotz allen Potenzials der RNA-Interferenz angebracht. Sowohl Kay als auch Beachy dürften dennoch heute wohlverdient mit Champagner anstoßen – der eine ist Labornachbar des Laureaten Fire in der Universität Stanford, der andere Kollege von Mello am Howard Hughes Medical Institute.
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