Die Grameen Bank
Diesen Artikel publizierte Muhammed Junus, der Friedensnobelpreisträger 2006, bereits im November 1999 in Scientific American.
Viele Jahre erduldete Amena Begum ein Leben in tiefster Armut und voller körperlicher Mißhandlungen. Ihre Familie gehörte zu den ärmsten in Bangladesch – eine von tausenden, die praktisch nichts besitzen, als illegale Siedler auf einem trostlosen Stückchen Land überleben und ihren Lebensunterhalt als Tagelöhner verdienen.
Anfang 1993 überredete Amena ihren Ehemann, in das Dorf Kholshi, 112 Kilometer westlich von Dhaka, zu ziehen. Sie hoffte, die Nachbarschaft eines nahen Verwandten könnte die Zahl und die Härte der Schläge ihres Ehemannes vermindern. Doch die Mißhandlungen hörten nicht auf – bis sie zur Grameen Bank stieß. Oloka Gosh, eine Nachbarin, erzählte Amena, dass Grameen eine neue Gruppe in Kholshi gründete, und ermutigte sie sich anzuschließen. Amena bezweifelte, dass irgendjemand sie in einer Gruppe haben wollte. Doch Oloka überzeugte sie mit ermutigenden Worten. "Wir sind alle arm – zumindest waren wir es, als wir Mitglieder wurden. Ich werde mich für dich einsetzen, denn ich weiß, du wirst als Geschäftsfrau Erfolg haben."
Im April 1993 schloß sich Amenas Gruppe einem Zentrum der Grameen-Bank an. Mit ihrem ersten Darlehen von 60 US-Dollar startete sie ihr eigenes Geschäft, eine Aufzucht von Hühnern und Enten. Als sie ihr erstes Darlehen fast zurückgezahlt hatte und einen Antrag auf ein zweites Darlehen von 110 Dollar vorbereitete, gab ihr ihre Freundin Oloka einen weisen Rat: "Erzähl deinem Ehemann, dass Grameen keine Kreditnehmer als Mitglieder zuläßt und für sie weitere Darlehen bewilligt, wenn sie von ihren Ehepartnern geschlagen werden." Von diesem Tag an ließen die Mißhandlungen Amenas durch ihren Ehemann spürbar nach. Ihr Geschäft baut sie auch heute noch weiter aus. Es bietet ihr ein Einkommen, mit dem sie die Grundbedürfnisse ihrer Familie befriedigen kann.
„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“
Wird es auch in 50 Jahren noch Armut geben? Meine Erfahrungen zeigen, dass dies nicht der Fall sein muß.
Nachdem ich meine Promotion an der Vanderbilt-Universität abgeschlossen hatte, kehrte ich 1972 nach Bangladesch zurück, um an der Universität von Chittagong Wirtschaftswissenschaften zu lehren. Ich war von den Möglichkeiten meines gerade unabhängig gewordenen Heimatlandes fasziniert. Doch 1974 traf uns eine fürchterliche Hungersnot. Angesichts von Tod und Hunger außerhalb meines Hörsaals begann ich, all die Wirtschaftstheorien, die ich unterrichtete, in Frage zu stellen. Ich fühlte, dass zwischen dem täglichen Leben der armen und hungrigen Menschen und der abstrakten Welt der Wirtschaftstheorie eine große Kluft bestand.
Daher wollte ich die tatsächliche wirtschaftliche Situation der Armen kennenlernen. Die Universität Chittagong liegt in einem ländlichen Gebiet, und so war es für mich ein Leichtes, die Haushalte der Armen in dem nahegelegenen Dorf Jobra zu besuchen. Im Laufe zahlreicher Besuche lernte ich alles über das Leben meiner um ihr Überleben kämpfenden Nachbarn und vieles über die Wirtschaft, das niemals in den Universitäten und Schulen gelehrt wird. Es war niederschmetternd zu sehen, wie die Einwohner von Jobra darunter litten, dass sie über keinerlei Arbeitskapital verfügten. Oft genug brauchten sie weniger als einen Dollar pro Person, doch bekamen sie diese Mittel nur unter extrem unfairen Bedingungen geliehen. In den meisten Fällen waren die Menschen gezwungen, ihre Waren zu Preisen an Geldverleiher zu verkaufen, die von diesen festgesetzt wurden.
Die tagtägliche Tragödie veranlaßte mich zum Handeln. Mit Hilfe meiner graduierten Studenten erstellte ich eine Liste jener, die Kleinbeträge an Geld benötigten. Auf unserer Liste standen 42 Personen. Der von ihnen benötigte Gesamtbetrag belief sich auf 27 Dollar.
Ich war schockiert. In unseren Hörsälen diskutierten wir leichthin über Millionen von Dollar, aber der Bedarf an winzigen Kapitalbeträgen von 42 hart arbeitenden, leistungsfähigen Menschen in der Nachbarschaft entging uns völlig. Den Menschen auf meiner Liste lieh ich den Betrag von 27 Dollar aus meiner eigenen Tasche.
Doch es gab viele andere, denen der Zugang zu Krediten helfen konnte. Ich beschloß, die Bank der Universität anzusprechen und sie zu überreden, Kredite an die Armen in der Umgebung zu vergeben. Der Zweigstellenleiter teilte mir jedoch mit, die Bank könne an die Bedürftigen keine Kredite vergeben: die Dörfler, so sein Argument, seien nicht kreditwürdig.
Ich konnte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen. Meine Zusammenkünfte mit höherrangigen Vertretern der Bank brachten ähnliche Ergebnisse. Schließlich bot ich mich als Bürgen an, um die Kredite zu bekommen.
1976 erhielt ich ein Darlehen von der örtlichen Bank und verteilte das Geld unter den Ärmsten von Jobra. Ohne Ausnahme zahlten die Dorfbewohner ihre Kredite zurück. Doch obwohl ich der Bank davon erzählte, weigerte sie sich weiterhin, die Darlehen den Bedürftigen direkt zu gewähren. Also führte ich mein Experiment in einem anderen Dorf durch und war erneut erfolgreich. Ich dehnte meine Aktivitäten immer weiter aus, von zwei auf fünf, 20, 50, 100 Dörfer, um die Bankiers endlich davon zu überzeugen, dass es kein Verlustgeschäft sei, Darlehen an die Armen zu vergeben. Doch obwohl in allen neu hinzugekommenen Dörfern die Kredite zurückgezahlt wurden, änderten die Bankiers ihre Ansichten über Menschen ohne Sicherheiten nicht.
Da ich die Banken nicht ändern konnte, beschloß ich, eine eigene Bank für die verarmten Menschen zu gründen. Nach großen Anstrengungen und zahlreichen Verhandlungen mit der Regierung gelang es mir, 1983 die Grameen Bank ("Dorfbank" auf Bengali) ins Leben zu rufen.
Die Macht der Gemeinschaft
Schon zu Beginn waren ihre Prinzipien mit den konventionellen Vorstellungen des Bankenwesens nicht zu vereinbaren. Wir suchten geradezu nach den allerärmsten Schuldnern, und wir verlangten keine Sicherheiten. Die Bank verläßt sich allein auf die Stärke ihrer Schuldner. Sie müssen eigene Gruppen von je fünf Mitgliedern aufbauen. Die Mitglieder dieser Gruppen unterstützen sich gegenseitig mit Rat und Tat. Zudem setzen sie untereinander Disziplin durch, indem sie die Lebensfähigkeit des Geschäfts prüfen und die Rückzahlungen sicherstellen. Wenn ein Mitglied sein Darlehen nicht zurückzahlt, laufen alle Mitglieder Gefahr, dass ihr Kreditrahmen gestrichen oder verringert wird.
In der Regel beantragt eine Gruppe zunächst nur für zwei ihrer Mitglieder Darlehen zwischen je 25 und 100 Dollar. Wenn diese beiden Schuldner ihre ersten Raten fünf Wochen lang zurückgezahlt haben, können die nächsten zwei Mitglieder der Gruppe ihre Darlehen beantragen. Nachdem diese wiederum fünf Rückzahlungsraten gezahlt haben, kann das letzte Mitglied der Gruppe seinen Antrag stellen. Nach 50 Ratenzahlungen zahlt eine Schuldnerin ihren Zins, der leicht über den üblichen Zinsraten liegt. Die Schuldnerin kann nun ein größeres Darlehen beantragen.
Die Bank wartet nicht, bis die Kreditnehmer zu ihr kommen, sie bringt die Bank zu den Menschen. In den Dörfern, in denen die Gruppenmitglieder leben, werden die Darlehen auf wöchentlichen Versammlungen ausgezahlt, an denen sechs bis acht Gruppen teilnehmen. Mitarbeiter der Grameen Bank sind dabei anwesend. Außerdem besuchen sie die einzelnen Schuldner häufig zuhause, um zu sehen, wie das Geschäft läuft – sei es die Aufzucht von Ziegen, der Anbau von Gemüse oder der Verkauf von Haushaltswaren.
Heute hat Grameen in 39.000 Dörfern Bangladeschs einen Standort. Die Bank vergibt Darlehen an etwa 2,4 Millionen Menschen, darunter sind 94 Prozent Frauen. Im März 1995, 18 Jahre nach den Anfängen in Jobra, erreichte das Gesamtvolumen der von Grameen ausgezahlten Darlehen erstmals die Milliarden-Dollar-Marke. Bereits zwei Jahre später waren es zwei Milliarden Dollar. Nach einer Arbeit von 20 Jahren, beträgt das durchschnittliche Darlehen heute 180 Dollar. Die Rückzahlquote schwankt zwischen 96 und 100 Prozent.
Ein Jahr nach dem Beitritt zu Grameen erwirbt ein Kreditnehmer das Recht, Grameen-Anteile zu kaufen. Gegenwärtig sind 94 Prozent der Bank Eigentum ihrer Schuldner. Neun der 13 Mitglieder des Direktoriums werden aus den Reihen der Schuldner gewählt, die weiteren Mitglieder sind Vertreter der Regierung, Wissenschaftler, ich selbst und andere.
Eine Untersuchung von Sydney R. Schuler und ihrer Kollegen von der privaten Forschungsgruppe John Snow Inc. kam zu dem Schluß, dass ein Darlehen der Grameen Bank eine Frau in die Lage versetzt, ihre wirtschaftliche Sicherheit und ihren Status innerhalb der Familie zu steigern. 1998 kam eine von Shahidur R. Khandker, einem Ökonomen der Weltbank, und anderen erarbeitete Studie zu dem Schluss, dass der Beitritt zu Grameen einen spürbar positiven Einfluß auf den Schulbesuch und die Ernährung der Kinder hat – sofern Frauen und nicht Männer die Darlehen erhalten. (Diese Tendenz war bereits in den ersten Tagen der Bank deutlich geworden und ist einer der Gründe, warum Grameen die Darlehen vorzugsweise an Frauen vergibt: all zu häufig verbrauchen die Männer das Geld ausschließlich für sich selbst.) Wenn die Darlehen an Frauen um 10 Prozent erhöht werden, führt dies z.B. zu einem 6-prozentigen Anwachsen des Armumfangs bei Mädchen – einem allgemein anerkannten Maßstab für den Ernährungszustand. Und mit jeder 10-prozentigen Steigerung der Darlehen an ein weibliches Gameen-Mitglied steigt die Chance ihrer Tochter, eingeschult zu werden, um 20 Prozent.
Dennoch konnte Schuler in seiner Studie belegen, dass Frauen nach dem Beitritt zur Bank Verhütungsmittel konsequenter nutzten. Merkwürdigerweise scheinen selbst Frauen, die nicht Mitglied von Grameen sind, aber in einem Dorf leben, in dem die Bank aktiv ist, Verhütungsmittel leichter zu akzeptieren. Die Wachstumsrate der Bevölkerung ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Bangladesch beachtlich gesunken und möglicherweise hat der Einfluß der Grameen Bank diesen Trend verstärkt.
In einem durchschnittlichen Jahr schaffen es fünf Prozent der Schuldner von Grameen – das betrifft 125.000 Familien – die Armutsgrenze zu überwinden. Khandler kam zu dem Schluß, dass unter den Kreditnehmern die absolute Armut, bei der die Menschen weniger als 80 Prozent der Menge an Gütern verbrauchen, welche die Organisation für Nahrung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen als Mindestbedarf ansieht, während der ersten fünf Mitgliedsjahre um 70 Prozent zurückging.
Es ist sicher nicht einfach, ein Programm für Kleinkredite erfolgreich zu gestalten – so dass es seine sozialen Ziele erreicht und wirtschaftlich funktioniert. Wir versuchen zu gewährleisten, dass die Bank den Ärmsten der Armen dient: nur diejenigen, die mindestens um 50 Prozent unterhalb der Armutsgrenze leben, sind kreditberechtigt. Das Mischen von armen und bessergestellten Mitgliedern würde zur Dominanz der letzteren in den Gruppen führen. In der Praxis ist es jedoch schwer, die Allerärmsten einzubeziehen, da sie von den anderen bei der Bildung der Gruppen oft abgelehnt werden. Und trotz aller Vorkehrungen wird das einer Frau geliehene Geld in manchen Fällen von ihrem Ehemann kassiert.
Die Grameen Bank mußte wegen ihrer Größe und Verbreitung auch Maßnahmen entwickeln, um die Leistung ihrer Filialleiter zu kontrollieren sowie Ehrlichkeit und Transparenz sicherstellen. Ein Manager darf nicht lange in einem Dorf bleiben, damit er keine lokalen Beziehungen aufbauen kann, die ihn in seinen Entscheidungen möglicherweise negativ beeinflussen. Auch wird ein Manager niemals in der Nähe seines Heimatortes eingesetzt. Diese Einschränkungen und die Forderung, dass Manager einen Hochschulabschluß haben müssen, bringen es mit sich, dass nur wenige von ihnen Frauen sind. Aus diesem Grund wurde Grameen vorgeworfen, paternalistisch zu sein. Wir nehmen diesen Vorwurf ernst und versuchen, die Situation zu ändern, indem wir neue Wege bei der Einstellung von Frauen beschreiten.
Grameen wurde oft kritisiert, weil es keine Wohlfahrtsorganisation ist, sondern gewinnorientiert arbeitet. Doch bleibe ich der Überzeugung, dass dieser Status für ihren Erfolg wesentlich ist. Im vergangenen Jahr spülte eine katastrophale Flutwelle die Häuser, das Vieh und fast alle sonstigen Habseligkeiten von Tausenden von Grameen-Schuldnern hinweg. Wir erließen die Kredite nicht, vergaben aber neue Darlehen und gewährten den Schuldnern einen Aufschub für ihre Rückzahlungen. Das Abschreiben von Krediten würde die Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit der Bank, den Schlüssel für ihren Erfolg, zerstören.
Potentiale freilegen
Das Model Grameen wird heute in 40 Ländern praktiziert. Die erste Nachahmung, eine 1986 in Malaysia gegründete Bank, dient heute 40.000 armen Familien; ihre Rückzahlungsraten liegen bis heute bei fast 100 Prozent. In Bolivien konnten sich Frauen mit Mikrokrediten ausgehend von "Nahrung für Arbeit" -Programmen zu selbständigen Geschäftsfrauen zu entwickeln. Innerhalb von zwei Jahren hatten die meisten eine ausreichende Kreditgeschichte und genügend Finanzkenntnisse erworben, um sich als Kreditnehmerinnen für "normale" Banken zu qualifizieren. Ähnliche Erfolgsgeschichten hören wir von Programmen in armen Ländern auf der ganzen Welt. All diese Banken zielen auf die Ärmsten der Armen, vergeben ihre Darlehen an Gruppen und vorzugsweise an Frauen.
Seit 1995 steht die Grameen Bank in Bangladesch wirtschaftlich auf eigenen Beinen. Ähnliche Einrichtungen in anderen Ländern nähern sich langsam der wirtschaftlichen Eigenständigkeit. Einige kleine Programme werden in den USA durchgeführt, etwa in der Innenstadt von Chicago. Doch aufgrund der Lohnkosten, die in den USA sehr viel höher sind als in Entwicklungsländern, wo zudem oft eine große Zahl gut ausgebildeter Arbeitsloser lebt, die als Manager oder Buchhalter eingesetzt werden können, sind diese Aktivitäten in den Vereinigten Staaten sehr viel kostspieliger. Deshalb müssen diese Programme dort stark subventioniert werden.
Insgesamt haben weltweit gegenwärtig 22 Millionen arme Menschen Zugang zu Kleinkrediten. Microcredit Summit, eine in Washington D.C. angesiedelte Organisation, dient als Ressourcenzentrum für die verschiedenen regionalen Mikrokrediteinrichtungen und organisiert jährliche Konferenzen. Im letzten Jahr riefen die Teilnehmer dazu auf, bis zum Jahr 2005 hundert Millionen der ärmsten Familien der Welt, insbesondere ihre Frauen, mit Krediten zu versorgen. Der Kampagne gehören nun mehr als 2000 Organisationen an, darunter Banken, religiöse Einrichtungen, Nichtregierungs-Organisationen und Agenturen der Vereinten Nationen.
Das Standardszenario wirtschaftlicher Entwicklung in armen Ländern sieht Industrialisierung durch Investitionen vor. Nur die Schaffung von Arbeitsplätzen kann nach den Vorstellungen dieses Top-down-Ansatzes die Armut beseitigen. Doch in vielen Entwicklungsländern steigert die Zunahme von Arbeitsplätzen nur die Migration vom Land in die Großstädte und schafft schlecht bezahlte Jobs mit miserablen Arbeitsbedingungen. Ich bin dagegen fest überzeugt, dass die Beseitigung der Armut mit jenen Menschen ihren Anfang nimmt, die in der Lage sind, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Nicht durch die Schaffung von Arbeitsplätzen werden wir die Armen retten, sondern durch die Bereitstellung von Mitteln und Möglichkeiten, die es ihnen erlauben, ihr Leistungsvermögen umzusetzen. Immer wieder habe ich gesehen, dass die Armen nicht arm sind, weil sie faul oder ungebildet oder leseunkundig sind, sondern weil sie die Erträge ihrer Arbeit sofort verbrauchen müssen.
Selbstbeschäftigung ist für jene, die in unserer Wirtschaft nicht beschäftigt und von den Steuerzahlern nicht unterstützt werden, vielleicht die einzige Lösung. Der Mikrokreditansatz sieht in jeder Person den möglichen Unternehmer und setzt die kleinen Wirtschaftmotoren der abgewiesenen Mitglieder der Gesellschaft in Gang. Wenn einmal eine große Zahl dieser Motoren am Laufen ist, sind bedeutende sozioökonomische Veränderungen denkbar.
Gemäß dieser Philosophie hat Grameen mehr als ein Dutzend Unternehmen gegründet, oft in Kooperation mit anderen Unternehmern. Indem wir Kleinstschuldner und Kleinsparer dabei unterstützen, Eigentümer von Großunternehmen und sogar von Infrastrukturgesellschaften zu werden, versuchen wir, den Prozeß der Überwindung von Armut zu beschleunigen. Grameen Phone z.B. ist eine Telefongesellschaft, die das städtische und ländliche Bangladesch mit einem Telefonnetz versorgen will. Nach einem in 65 Dörfern durchgeführten Pilotprojekt hat Grameen Phone ein Darlehen aufgenommen, um in allen Dörfern, in denen die Grameen Bank aktiv ist, präsent zu sein. Mehr als 50.000 Frauen, die z.T. niemals ein Telefon, ja niemals elektrisches Licht gesehen haben, werden in ihren Dörfern diesen Telefondienst anbieten. Schließlich werden sie das Eigentum an dieser Telefongesellschaft übernehmen, indem sie Anteile kaufen. Unsere jüngste Innovation, Grameen Investments, erlaubt es Bürgern der USA, Gesellschaften wie Grameen Phone zu unterstützen und die aus ihren Investitionen abfallenden Erträge zu erhalten. Dies ist ein bedeutender Schritt hin zum Einsatz kommerzieller Mittel für die Beseitigung der Armut.
Ich glaube, dass es in der Verantwortung jeder zivilisierten Gesellschaft liegt, allen Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Würde zu ermöglichen und jedem Einzelnen die optimale Chance zu bieten, seine Kreativität zu entfalten. Wir müssen uns wieder bewußt machen, dass Armut nicht von den Armen geschaffen, sondern von Institutionen und einer Politik verursacht wird, die wir, die Bessergestellten, zu verantworten haben. Wir können die Probleme nicht mit althergebrachten Konzepten lösen, wir brauchen radikal neue Vorstellungen.
Der Autor
Muhammed Junus, der Gründer und geschäftsführende Direktor der Grameen Bank, wurde in Bangladesch geboren. 1970 promovierte er in Wirtschaftswissenschaften an der Vanderbilt University und kehrte kurz darauf in sein Heimatland zurück, um an der Universität Chittagong zu lehren. 1976 startetete er das Grameen-Projekt, dem er in dem vergangenen Jahrzehnt all seine Kraft gewidmet hat. Er arbeitete in zahlreichen beratenden Gremien mit: für die Regierung Bangladeschs, die Vereinten Nationen und andere Einrichtungen, deren Themen Armut, Frauen und Gesundheit sind. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den World Food Preis, den Ramon Magsaysay Preis, den Preis für Menschlichkeit, den Man for Peace Preis sowie sechs Ehrendoktorwürden (Stand 1999).
Anfang 1993 überredete Amena ihren Ehemann, in das Dorf Kholshi, 112 Kilometer westlich von Dhaka, zu ziehen. Sie hoffte, die Nachbarschaft eines nahen Verwandten könnte die Zahl und die Härte der Schläge ihres Ehemannes vermindern. Doch die Mißhandlungen hörten nicht auf – bis sie zur Grameen Bank stieß. Oloka Gosh, eine Nachbarin, erzählte Amena, dass Grameen eine neue Gruppe in Kholshi gründete, und ermutigte sie sich anzuschließen. Amena bezweifelte, dass irgendjemand sie in einer Gruppe haben wollte. Doch Oloka überzeugte sie mit ermutigenden Worten. "Wir sind alle arm – zumindest waren wir es, als wir Mitglieder wurden. Ich werde mich für dich einsetzen, denn ich weiß, du wirst als Geschäftsfrau Erfolg haben."
Im April 1993 schloß sich Amenas Gruppe einem Zentrum der Grameen-Bank an. Mit ihrem ersten Darlehen von 60 US-Dollar startete sie ihr eigenes Geschäft, eine Aufzucht von Hühnern und Enten. Als sie ihr erstes Darlehen fast zurückgezahlt hatte und einen Antrag auf ein zweites Darlehen von 110 Dollar vorbereitete, gab ihr ihre Freundin Oloka einen weisen Rat: "Erzähl deinem Ehemann, dass Grameen keine Kreditnehmer als Mitglieder zuläßt und für sie weitere Darlehen bewilligt, wenn sie von ihren Ehepartnern geschlagen werden." Von diesem Tag an ließen die Mißhandlungen Amenas durch ihren Ehemann spürbar nach. Ihr Geschäft baut sie auch heute noch weiter aus. Es bietet ihr ein Einkommen, mit dem sie die Grundbedürfnisse ihrer Familie befriedigen kann.
Anders als Amena haben die meisten Menschen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas kaum die Möglichkeit, der Armut zu entrinnen. Berichten der Weltbank zufolge leben 1,3 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar pro Tag. In den fünfzig Jahren seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist es nicht gelungen, die Armut zu beseitigen, auch wenn es in Artikel 25 dieser Erklärung heißt:
„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“
Wird es auch in 50 Jahren noch Armut geben? Meine Erfahrungen zeigen, dass dies nicht der Fall sein muß.
Nachdem ich meine Promotion an der Vanderbilt-Universität abgeschlossen hatte, kehrte ich 1972 nach Bangladesch zurück, um an der Universität von Chittagong Wirtschaftswissenschaften zu lehren. Ich war von den Möglichkeiten meines gerade unabhängig gewordenen Heimatlandes fasziniert. Doch 1974 traf uns eine fürchterliche Hungersnot. Angesichts von Tod und Hunger außerhalb meines Hörsaals begann ich, all die Wirtschaftstheorien, die ich unterrichtete, in Frage zu stellen. Ich fühlte, dass zwischen dem täglichen Leben der armen und hungrigen Menschen und der abstrakten Welt der Wirtschaftstheorie eine große Kluft bestand.
Daher wollte ich die tatsächliche wirtschaftliche Situation der Armen kennenlernen. Die Universität Chittagong liegt in einem ländlichen Gebiet, und so war es für mich ein Leichtes, die Haushalte der Armen in dem nahegelegenen Dorf Jobra zu besuchen. Im Laufe zahlreicher Besuche lernte ich alles über das Leben meiner um ihr Überleben kämpfenden Nachbarn und vieles über die Wirtschaft, das niemals in den Universitäten und Schulen gelehrt wird. Es war niederschmetternd zu sehen, wie die Einwohner von Jobra darunter litten, dass sie über keinerlei Arbeitskapital verfügten. Oft genug brauchten sie weniger als einen Dollar pro Person, doch bekamen sie diese Mittel nur unter extrem unfairen Bedingungen geliehen. In den meisten Fällen waren die Menschen gezwungen, ihre Waren zu Preisen an Geldverleiher zu verkaufen, die von diesen festgesetzt wurden.
Die tagtägliche Tragödie veranlaßte mich zum Handeln. Mit Hilfe meiner graduierten Studenten erstellte ich eine Liste jener, die Kleinbeträge an Geld benötigten. Auf unserer Liste standen 42 Personen. Der von ihnen benötigte Gesamtbetrag belief sich auf 27 Dollar.
Ich war schockiert. In unseren Hörsälen diskutierten wir leichthin über Millionen von Dollar, aber der Bedarf an winzigen Kapitalbeträgen von 42 hart arbeitenden, leistungsfähigen Menschen in der Nachbarschaft entging uns völlig. Den Menschen auf meiner Liste lieh ich den Betrag von 27 Dollar aus meiner eigenen Tasche.
Doch es gab viele andere, denen der Zugang zu Krediten helfen konnte. Ich beschloß, die Bank der Universität anzusprechen und sie zu überreden, Kredite an die Armen in der Umgebung zu vergeben. Der Zweigstellenleiter teilte mir jedoch mit, die Bank könne an die Bedürftigen keine Kredite vergeben: die Dörfler, so sein Argument, seien nicht kreditwürdig.
Ich konnte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen. Meine Zusammenkünfte mit höherrangigen Vertretern der Bank brachten ähnliche Ergebnisse. Schließlich bot ich mich als Bürgen an, um die Kredite zu bekommen.
1976 erhielt ich ein Darlehen von der örtlichen Bank und verteilte das Geld unter den Ärmsten von Jobra. Ohne Ausnahme zahlten die Dorfbewohner ihre Kredite zurück. Doch obwohl ich der Bank davon erzählte, weigerte sie sich weiterhin, die Darlehen den Bedürftigen direkt zu gewähren. Also führte ich mein Experiment in einem anderen Dorf durch und war erneut erfolgreich. Ich dehnte meine Aktivitäten immer weiter aus, von zwei auf fünf, 20, 50, 100 Dörfer, um die Bankiers endlich davon zu überzeugen, dass es kein Verlustgeschäft sei, Darlehen an die Armen zu vergeben. Doch obwohl in allen neu hinzugekommenen Dörfern die Kredite zurückgezahlt wurden, änderten die Bankiers ihre Ansichten über Menschen ohne Sicherheiten nicht.
Da ich die Banken nicht ändern konnte, beschloß ich, eine eigene Bank für die verarmten Menschen zu gründen. Nach großen Anstrengungen und zahlreichen Verhandlungen mit der Regierung gelang es mir, 1983 die Grameen Bank ("Dorfbank" auf Bengali) ins Leben zu rufen.
Die Macht der Gemeinschaft
Schon zu Beginn waren ihre Prinzipien mit den konventionellen Vorstellungen des Bankenwesens nicht zu vereinbaren. Wir suchten geradezu nach den allerärmsten Schuldnern, und wir verlangten keine Sicherheiten. Die Bank verläßt sich allein auf die Stärke ihrer Schuldner. Sie müssen eigene Gruppen von je fünf Mitgliedern aufbauen. Die Mitglieder dieser Gruppen unterstützen sich gegenseitig mit Rat und Tat. Zudem setzen sie untereinander Disziplin durch, indem sie die Lebensfähigkeit des Geschäfts prüfen und die Rückzahlungen sicherstellen. Wenn ein Mitglied sein Darlehen nicht zurückzahlt, laufen alle Mitglieder Gefahr, dass ihr Kreditrahmen gestrichen oder verringert wird.
In der Regel beantragt eine Gruppe zunächst nur für zwei ihrer Mitglieder Darlehen zwischen je 25 und 100 Dollar. Wenn diese beiden Schuldner ihre ersten Raten fünf Wochen lang zurückgezahlt haben, können die nächsten zwei Mitglieder der Gruppe ihre Darlehen beantragen. Nachdem diese wiederum fünf Rückzahlungsraten gezahlt haben, kann das letzte Mitglied der Gruppe seinen Antrag stellen. Nach 50 Ratenzahlungen zahlt eine Schuldnerin ihren Zins, der leicht über den üblichen Zinsraten liegt. Die Schuldnerin kann nun ein größeres Darlehen beantragen.
Die Bank wartet nicht, bis die Kreditnehmer zu ihr kommen, sie bringt die Bank zu den Menschen. In den Dörfern, in denen die Gruppenmitglieder leben, werden die Darlehen auf wöchentlichen Versammlungen ausgezahlt, an denen sechs bis acht Gruppen teilnehmen. Mitarbeiter der Grameen Bank sind dabei anwesend. Außerdem besuchen sie die einzelnen Schuldner häufig zuhause, um zu sehen, wie das Geschäft läuft – sei es die Aufzucht von Ziegen, der Anbau von Gemüse oder der Verkauf von Haushaltswaren.
Heute hat Grameen in 39.000 Dörfern Bangladeschs einen Standort. Die Bank vergibt Darlehen an etwa 2,4 Millionen Menschen, darunter sind 94 Prozent Frauen. Im März 1995, 18 Jahre nach den Anfängen in Jobra, erreichte das Gesamtvolumen der von Grameen ausgezahlten Darlehen erstmals die Milliarden-Dollar-Marke. Bereits zwei Jahre später waren es zwei Milliarden Dollar. Nach einer Arbeit von 20 Jahren, beträgt das durchschnittliche Darlehen heute 180 Dollar. Die Rückzahlquote schwankt zwischen 96 und 100 Prozent.
Ein Jahr nach dem Beitritt zu Grameen erwirbt ein Kreditnehmer das Recht, Grameen-Anteile zu kaufen. Gegenwärtig sind 94 Prozent der Bank Eigentum ihrer Schuldner. Neun der 13 Mitglieder des Direktoriums werden aus den Reihen der Schuldner gewählt, die weiteren Mitglieder sind Vertreter der Regierung, Wissenschaftler, ich selbst und andere.
Eine Untersuchung von Sydney R. Schuler und ihrer Kollegen von der privaten Forschungsgruppe John Snow Inc. kam zu dem Schluß, dass ein Darlehen der Grameen Bank eine Frau in die Lage versetzt, ihre wirtschaftliche Sicherheit und ihren Status innerhalb der Familie zu steigern. 1998 kam eine von Shahidur R. Khandker, einem Ökonomen der Weltbank, und anderen erarbeitete Studie zu dem Schluss, dass der Beitritt zu Grameen einen spürbar positiven Einfluß auf den Schulbesuch und die Ernährung der Kinder hat – sofern Frauen und nicht Männer die Darlehen erhalten. (Diese Tendenz war bereits in den ersten Tagen der Bank deutlich geworden und ist einer der Gründe, warum Grameen die Darlehen vorzugsweise an Frauen vergibt: all zu häufig verbrauchen die Männer das Geld ausschließlich für sich selbst.) Wenn die Darlehen an Frauen um 10 Prozent erhöht werden, führt dies z.B. zu einem 6-prozentigen Anwachsen des Armumfangs bei Mädchen – einem allgemein anerkannten Maßstab für den Ernährungszustand. Und mit jeder 10-prozentigen Steigerung der Darlehen an ein weibliches Gameen-Mitglied steigt die Chance ihrer Tochter, eingeschult zu werden, um 20 Prozent.
Nicht alle Vorteile und Verbesserungen erwachsen unmittelbar aus den Krediten. Mit dem Beitritt wird von jedem neuen Mitglied verlangt, 16 Vorsätze auswendig zu lernen. Dazu gehören selbstverständliche Regeln zu Fragen der Hygiene und Gesundheit – sauberes Wasser zu trinken, Gemüse anzubauen und zu essen, eine Latrine zu graben und zu nutzen usw. – sowie soziale Regeln wie die Ablehnung von Brautpreisen und die Annahme der Familienplanung. Die Frauen sagen die vollständige Liste auf ihren wöchentlichen Filialversammlungen auf, es gibt jedoch keinen Zwang, die Vorsätze einzuhalten.
Dennoch konnte Schuler in seiner Studie belegen, dass Frauen nach dem Beitritt zur Bank Verhütungsmittel konsequenter nutzten. Merkwürdigerweise scheinen selbst Frauen, die nicht Mitglied von Grameen sind, aber in einem Dorf leben, in dem die Bank aktiv ist, Verhütungsmittel leichter zu akzeptieren. Die Wachstumsrate der Bevölkerung ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Bangladesch beachtlich gesunken und möglicherweise hat der Einfluß der Grameen Bank diesen Trend verstärkt.
In einem durchschnittlichen Jahr schaffen es fünf Prozent der Schuldner von Grameen – das betrifft 125.000 Familien – die Armutsgrenze zu überwinden. Khandler kam zu dem Schluß, dass unter den Kreditnehmern die absolute Armut, bei der die Menschen weniger als 80 Prozent der Menge an Gütern verbrauchen, welche die Organisation für Nahrung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen als Mindestbedarf ansieht, während der ersten fünf Mitgliedsjahre um 70 Prozent zurückging.
Es ist sicher nicht einfach, ein Programm für Kleinkredite erfolgreich zu gestalten – so dass es seine sozialen Ziele erreicht und wirtschaftlich funktioniert. Wir versuchen zu gewährleisten, dass die Bank den Ärmsten der Armen dient: nur diejenigen, die mindestens um 50 Prozent unterhalb der Armutsgrenze leben, sind kreditberechtigt. Das Mischen von armen und bessergestellten Mitgliedern würde zur Dominanz der letzteren in den Gruppen führen. In der Praxis ist es jedoch schwer, die Allerärmsten einzubeziehen, da sie von den anderen bei der Bildung der Gruppen oft abgelehnt werden. Und trotz aller Vorkehrungen wird das einer Frau geliehene Geld in manchen Fällen von ihrem Ehemann kassiert.
Die Grameen Bank mußte wegen ihrer Größe und Verbreitung auch Maßnahmen entwickeln, um die Leistung ihrer Filialleiter zu kontrollieren sowie Ehrlichkeit und Transparenz sicherstellen. Ein Manager darf nicht lange in einem Dorf bleiben, damit er keine lokalen Beziehungen aufbauen kann, die ihn in seinen Entscheidungen möglicherweise negativ beeinflussen. Auch wird ein Manager niemals in der Nähe seines Heimatortes eingesetzt. Diese Einschränkungen und die Forderung, dass Manager einen Hochschulabschluß haben müssen, bringen es mit sich, dass nur wenige von ihnen Frauen sind. Aus diesem Grund wurde Grameen vorgeworfen, paternalistisch zu sein. Wir nehmen diesen Vorwurf ernst und versuchen, die Situation zu ändern, indem wir neue Wege bei der Einstellung von Frauen beschreiten.
Grameen wurde oft kritisiert, weil es keine Wohlfahrtsorganisation ist, sondern gewinnorientiert arbeitet. Doch bleibe ich der Überzeugung, dass dieser Status für ihren Erfolg wesentlich ist. Im vergangenen Jahr spülte eine katastrophale Flutwelle die Häuser, das Vieh und fast alle sonstigen Habseligkeiten von Tausenden von Grameen-Schuldnern hinweg. Wir erließen die Kredite nicht, vergaben aber neue Darlehen und gewährten den Schuldnern einen Aufschub für ihre Rückzahlungen. Das Abschreiben von Krediten würde die Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit der Bank, den Schlüssel für ihren Erfolg, zerstören.
Potentiale freilegen
Das Model Grameen wird heute in 40 Ländern praktiziert. Die erste Nachahmung, eine 1986 in Malaysia gegründete Bank, dient heute 40.000 armen Familien; ihre Rückzahlungsraten liegen bis heute bei fast 100 Prozent. In Bolivien konnten sich Frauen mit Mikrokrediten ausgehend von "Nahrung für Arbeit" -Programmen zu selbständigen Geschäftsfrauen zu entwickeln. Innerhalb von zwei Jahren hatten die meisten eine ausreichende Kreditgeschichte und genügend Finanzkenntnisse erworben, um sich als Kreditnehmerinnen für "normale" Banken zu qualifizieren. Ähnliche Erfolgsgeschichten hören wir von Programmen in armen Ländern auf der ganzen Welt. All diese Banken zielen auf die Ärmsten der Armen, vergeben ihre Darlehen an Gruppen und vorzugsweise an Frauen.
Seit 1995 steht die Grameen Bank in Bangladesch wirtschaftlich auf eigenen Beinen. Ähnliche Einrichtungen in anderen Ländern nähern sich langsam der wirtschaftlichen Eigenständigkeit. Einige kleine Programme werden in den USA durchgeführt, etwa in der Innenstadt von Chicago. Doch aufgrund der Lohnkosten, die in den USA sehr viel höher sind als in Entwicklungsländern, wo zudem oft eine große Zahl gut ausgebildeter Arbeitsloser lebt, die als Manager oder Buchhalter eingesetzt werden können, sind diese Aktivitäten in den Vereinigten Staaten sehr viel kostspieliger. Deshalb müssen diese Programme dort stark subventioniert werden.
Insgesamt haben weltweit gegenwärtig 22 Millionen arme Menschen Zugang zu Kleinkrediten. Microcredit Summit, eine in Washington D.C. angesiedelte Organisation, dient als Ressourcenzentrum für die verschiedenen regionalen Mikrokrediteinrichtungen und organisiert jährliche Konferenzen. Im letzten Jahr riefen die Teilnehmer dazu auf, bis zum Jahr 2005 hundert Millionen der ärmsten Familien der Welt, insbesondere ihre Frauen, mit Krediten zu versorgen. Der Kampagne gehören nun mehr als 2000 Organisationen an, darunter Banken, religiöse Einrichtungen, Nichtregierungs-Organisationen und Agenturen der Vereinten Nationen.
Das Standardszenario wirtschaftlicher Entwicklung in armen Ländern sieht Industrialisierung durch Investitionen vor. Nur die Schaffung von Arbeitsplätzen kann nach den Vorstellungen dieses Top-down-Ansatzes die Armut beseitigen. Doch in vielen Entwicklungsländern steigert die Zunahme von Arbeitsplätzen nur die Migration vom Land in die Großstädte und schafft schlecht bezahlte Jobs mit miserablen Arbeitsbedingungen. Ich bin dagegen fest überzeugt, dass die Beseitigung der Armut mit jenen Menschen ihren Anfang nimmt, die in der Lage sind, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Nicht durch die Schaffung von Arbeitsplätzen werden wir die Armen retten, sondern durch die Bereitstellung von Mitteln und Möglichkeiten, die es ihnen erlauben, ihr Leistungsvermögen umzusetzen. Immer wieder habe ich gesehen, dass die Armen nicht arm sind, weil sie faul oder ungebildet oder leseunkundig sind, sondern weil sie die Erträge ihrer Arbeit sofort verbrauchen müssen.
Selbstbeschäftigung ist für jene, die in unserer Wirtschaft nicht beschäftigt und von den Steuerzahlern nicht unterstützt werden, vielleicht die einzige Lösung. Der Mikrokreditansatz sieht in jeder Person den möglichen Unternehmer und setzt die kleinen Wirtschaftmotoren der abgewiesenen Mitglieder der Gesellschaft in Gang. Wenn einmal eine große Zahl dieser Motoren am Laufen ist, sind bedeutende sozioökonomische Veränderungen denkbar.
Gemäß dieser Philosophie hat Grameen mehr als ein Dutzend Unternehmen gegründet, oft in Kooperation mit anderen Unternehmern. Indem wir Kleinstschuldner und Kleinsparer dabei unterstützen, Eigentümer von Großunternehmen und sogar von Infrastrukturgesellschaften zu werden, versuchen wir, den Prozeß der Überwindung von Armut zu beschleunigen. Grameen Phone z.B. ist eine Telefongesellschaft, die das städtische und ländliche Bangladesch mit einem Telefonnetz versorgen will. Nach einem in 65 Dörfern durchgeführten Pilotprojekt hat Grameen Phone ein Darlehen aufgenommen, um in allen Dörfern, in denen die Grameen Bank aktiv ist, präsent zu sein. Mehr als 50.000 Frauen, die z.T. niemals ein Telefon, ja niemals elektrisches Licht gesehen haben, werden in ihren Dörfern diesen Telefondienst anbieten. Schließlich werden sie das Eigentum an dieser Telefongesellschaft übernehmen, indem sie Anteile kaufen. Unsere jüngste Innovation, Grameen Investments, erlaubt es Bürgern der USA, Gesellschaften wie Grameen Phone zu unterstützen und die aus ihren Investitionen abfallenden Erträge zu erhalten. Dies ist ein bedeutender Schritt hin zum Einsatz kommerzieller Mittel für die Beseitigung der Armut.
Ich glaube, dass es in der Verantwortung jeder zivilisierten Gesellschaft liegt, allen Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Würde zu ermöglichen und jedem Einzelnen die optimale Chance zu bieten, seine Kreativität zu entfalten. Wir müssen uns wieder bewußt machen, dass Armut nicht von den Armen geschaffen, sondern von Institutionen und einer Politik verursacht wird, die wir, die Bessergestellten, zu verantworten haben. Wir können die Probleme nicht mit althergebrachten Konzepten lösen, wir brauchen radikal neue Vorstellungen.
Der Autor
Muhammed Junus, der Gründer und geschäftsführende Direktor der Grameen Bank, wurde in Bangladesch geboren. 1970 promovierte er in Wirtschaftswissenschaften an der Vanderbilt University und kehrte kurz darauf in sein Heimatland zurück, um an der Universität Chittagong zu lehren. 1976 startetete er das Grameen-Projekt, dem er in dem vergangenen Jahrzehnt all seine Kraft gewidmet hat. Er arbeitete in zahlreichen beratenden Gremien mit: für die Regierung Bangladeschs, die Vereinten Nationen und andere Einrichtungen, deren Themen Armut, Frauen und Gesundheit sind. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den World Food Preis, den Ramon Magsaysay Preis, den Preis für Menschlichkeit, den Man for Peace Preis sowie sechs Ehrendoktorwürden (Stand 1999).
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