Neuromythologien
Immer neue schöne bunte Bilder bescheren uns die Hirnforscher. Doch bilden die Tomografen tatsächlich unseren Geist ab? Oder handelt es sich vielmehr um »Götzenbilder«? Einige kritische Randbemerkungen zur modernen Hirnforschung.
In Gottfried Benns Erzählung »Gehirne« aus dem Jahr 1916 begegnen wir Dr. Rönne, einem jungen Arzt, der als Pathologe zwei Jahre lang Gehirne seziert hat. Diese Tätigkeit löst schließlich eine existenzielle Krise in ihm aus. Er verliert den Kontakt zur Wirklichkeit, und sein Grübeln kreist nur noch um die Objekte seiner Sektionen:
»Oft fing er etwas höhnisch an: er kenne diese fremden Gebilde, seine Hände hätten sie gehalten. Aber gleich verfiel er wieder: sie lebten in Gesetzen, die nicht von uns seien, und ihr Schicksal sei uns so fremd wie das eines Flusses, auf dem wir fahren. Und dann ganz erloschen, den Blick schon in der Nacht: um zwölf chemische Einheiten handele es sich, die zusammengetreten wären ohne sein Geheiß, und die sich trennen würden, ohne ihn zu fragen.«
Die Erkenntnis, sich einem solch hinfälligen Gebilde zu verdanken, stürzt Rönne in eine radikale Selbstentfremdung: Er selbst, der Beobachtende, Forschende und Denkende, scheint nichts weiter zu sein als das Objekt seiner Studien, nämlich ein Klumpen grauer Materie, die ihren eigenen Gesetzen folgt und mit der Welt des Menschen nichts zu tun hat. Rönne verliert den festen Boden seiner Existenz und fällt am Ende in Wahnsinn:
»Was ist es denn mit den Gehirnen? Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall. Aber nun geben Sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder – ich war so müde – auf Flügeln geht dieser Gang – mit meinem blauen Anemonenschwert – in Mittagsturz des Lichts – in Trümmern des Südens – in zerfallendem Gewölk – Zerstäubungen der Stirne – Entschweifungen der Schläfe.«
Rönnes metaphysischer Schwindel scheint der heutigen Hirnforschung allerdings fremd zu sein. Im Gegenteil: Geradezu mit Eifer machen sich prominente Neurowissenschaftler daran, Seele, Geist und Ich als idealistische Gespenster endgültig aus der Welt zu verbannen. Das Gehirn soll nicht nur der Sitz des Geistes sein, sondern auch das neue Metasubjekt, der Denker unseres Denkens, der Täter unseres Tuns, ja der Schöpfer unserer Welt ...
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»Oft fing er etwas höhnisch an: er kenne diese fremden Gebilde, seine Hände hätten sie gehalten. Aber gleich verfiel er wieder: sie lebten in Gesetzen, die nicht von uns seien, und ihr Schicksal sei uns so fremd wie das eines Flusses, auf dem wir fahren. Und dann ganz erloschen, den Blick schon in der Nacht: um zwölf chemische Einheiten handele es sich, die zusammengetreten wären ohne sein Geheiß, und die sich trennen würden, ohne ihn zu fragen.«
Die Erkenntnis, sich einem solch hinfälligen Gebilde zu verdanken, stürzt Rönne in eine radikale Selbstentfremdung: Er selbst, der Beobachtende, Forschende und Denkende, scheint nichts weiter zu sein als das Objekt seiner Studien, nämlich ein Klumpen grauer Materie, die ihren eigenen Gesetzen folgt und mit der Welt des Menschen nichts zu tun hat. Rönne verliert den festen Boden seiner Existenz und fällt am Ende in Wahnsinn:
»Was ist es denn mit den Gehirnen? Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall. Aber nun geben Sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder – ich war so müde – auf Flügeln geht dieser Gang – mit meinem blauen Anemonenschwert – in Mittagsturz des Lichts – in Trümmern des Südens – in zerfallendem Gewölk – Zerstäubungen der Stirne – Entschweifungen der Schläfe.«
Rönnes metaphysischer Schwindel scheint der heutigen Hirnforschung allerdings fremd zu sein. Im Gegenteil: Geradezu mit Eifer machen sich prominente Neurowissenschaftler daran, Seele, Geist und Ich als idealistische Gespenster endgültig aus der Welt zu verbannen. Das Gehirn soll nicht nur der Sitz des Geistes sein, sondern auch das neue Metasubjekt, der Denker unseres Denkens, der Täter unseres Tuns, ja der Schöpfer unserer Welt ...
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