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Selbsterkenntnis hat ihren Preis

Thomas Metzinger beginnt seinen Artikel "Der Preis der Selbsterkenntnis" mit der Behauptung, Erkenntnis habe ihren Preis. Gemeint ist damit der Preis, den wir für die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung bezahlen müssten. Metzinger fordert deswegen eine Neuroanthropologie, welche diese Erkenntnisse in ein neues Menschenbild integriert. In unserer Replik werfen wir einen kritischen Blick auf die aus unserer Sicht oft übereilten Schlussfolgerungen aus den Forschungsergebnissen der Hirnforschung. Diese müssen aus wissenschaftlichen, philosophischen und geschichtlichen Gründen etwas relativiert werden.
Grenzen der Forschung
In den späten 1990er Jahren sorgte ein Experiment von Antoine Bechara aus der Gruppe des Hirnforschers Antonio Damasio für Furore: Gesunde Versuchspersonen und Patienten mit einer Hirnschädigung im präfrontalen Cortex sollten von verschiedenen Stapeln Spielkarten ziehen. Sie wussten nicht, dass die Hälfte der Stapel so sortiert worden war, dass sie zwar größere Gewinne abwarfen, aber auch empfindliche Verluste beinhalteten. Die andere Hälfte brachte zwar kleinere Gewinne mit sich, dafür aber auch nur geringe Verluste. Langfristig war es vorteilhafter, Karten von den Stapeln mit den geringen Verlusten zu ziehen.

Im Gegensatz zu den Patienten entwickelten die gesunden Versuchspersonen schon bald eine Abneigung gegenüber den mit größeren Verlusten verbundenen Kartenstapeln, was sich in Form einer veränderten Hautleitfähigkeit messen ließ, die bei den Patienten nicht auftrat. Bechara und Damasio verstanden dies als einen Hinweis auf "unbewusste Einflüsse", die schon lange vor einer rationalen Überzeugung, dass bestimmte Stapel schlecht sind, die Handlungen der gesunden Versuchspersonen beeinflusse.

Das Experiment wurde in der Zeitschrift "Science" veröffentlicht und ist bis heute 470-mal von anderen Studien zitiert worden – so häufig wie kaum eine andere. In der Öffentlichkeit kam davon die Botschaft an, Hirnforscher hätten bewiesen, ohne Intuition und Gefühle könnten wir – so wie die Patienten mit der Hirnschädigung – nicht richtig handeln. Noch im Heft 2/2006 zitiert "Zeit-Wissen" dieses Experiment als Beweis für die "Intelligenz unserer Gefühle" und bezeichnet es als den "Auftakt zur emotionalen Wende" in der Hirnforschung.

Eine neuere Untersuchung, ebenfalls unter der Schirmherrschaft Antonio Damasios, kommt zu einem auf den ersten Blick geradezu gegenteiligen Ergebnis: Der Marketing-Professor Baba Shiv ließ wiederum Patienten mit einer Hirnschädigung und Gesunde ein Spiel spielen. In jeder von zwanzig Spielrunden, bei der eine Münze geworfen wurde, sollten die Teilnehmer entscheiden, entweder einen Dollar zu investieren oder zu behalten. Bei einem Gewinn bekamen sie 2,50 Dollar, andernfalls war ihr Einsatz verloren. Rein statistisch gesehen ist es optimal, in jeder Runde das Geld zu investieren. Tatsächlich entschieden sich aber die gesunden Versuchspersonen nach einigen verlorenen Runden häufiger gegen einen Einsatz. Die Patienten, deren Hirnschädigung Zentren betraf, die mit emotionaler Verarbeitung verknüpft sein sollen, ließen sich von den Verlusten aber nicht beirren und investierten ihre Dollars munter weiter. Letztlich schnitten so die Patienten besser ab als die Gesunden. Müsste man also nun eher von der "Dummheit unserer Gefühle" sprechen?

Der vermeintliche Widerspruch verschwindet, wenn man sich klar macht, dass mit wissenschaftlichen Experimenten immer nur ein Teil menschlichen Verhaltens unter bestimmten Voraussetzungen untersucht werden kann. Die Aufgabe der ersten Untersuchung war so angelegt, dass die Erinnerung an die Verluste dabei half, mehr Geld zu gewinnen. Bei der zweiten Aufgabe schadeten die Erinnerungen an Verluste aber gerade, da man so "auf Nummer sicher ging" und weniger Geld verdiente. Genau genommen müsste man also sagen, dass unter manchen Bedingungen Gefühle hilfreich – oder eben intelligent – sein können, während sie unter anderen Bedingungen schaden können. Auch ohne Hirnforschung sind wir längst mit Beispielen aus der Alltagswelt vertraut, die das zeigen: Wer etwa aus Angst auf einer zugefrorenen Straße auf die Bremse tritt, riskiert sein Leben. Wer aber aus Angst wegrennt, wenn er mit dem Messer bedroht wird, der rettet es.

Die Ergebnisse der Hirnforschung müssen nicht nur im Rahmen ihrer Fragestellung gesehen, sondern manchmal auch korrigiert werden. Ein berühmt gewordener Fall ist die Studie von Eric Reiman und seinen Kollegen aus dem Jahr 1989: In ihrem Experiment bekamen die Versuchspersonen einen leichten Elektroschock, von dem man ihnen vorher angekündigt hatte, dass er schmerzhaft sein werde. Reimann verglich nun die Hirnaktivität in der Schock-Phase mit den neutralen Bedingungen und fand dabei heraus, dass beim Warten auf den Schock die Aktivität in den Temporallappen besonders groß war. Er interpretierte das Ergebnis so, dass diese Hirnregion mit der Verarbeitung von Ängstlichkeit zusammenhängt. Auch dieses Experiment ist in "Science" veröffentlicht worden.

Erst nach drei Jahren erschien eine Korrektur: Es hatte sich herausgestellt, dass die gemessene Aktivität wahrscheinlich gar nicht aus den Temporallappen stammte, sondern von den nahe gelegenen temporalen Muskeln. Die Versuchspersonen hatten wohl die Zähne zusammen gebissen, während sie auf den Elektroschock warteten. Die von Reiman und seinen Kollegen verwendete Methode war nicht genau genug, um räumlich zwischen diesen beiden Bereichen zu unterscheiden.

Tatsächlich gibt es noch keine perfekte Methode zur Untersuchung von Hirnaktivität. Alle Verfahren kranken entweder an mangelnder räumlicher oder zeitlicher Auflösung oder messen die Aktivität von Nervenzellen nur indirekt, zum Beispiel über die Durchblutung im Gehirn. Außerdem sind die Untersuchungen meist sehr aufwändig und äußerst teuer. Das hat zur Folge, dass oft Jahre vergehen können, bis man selbst oder eine andere Gruppe das Experiment wiederholt – wenn überhaupt. Die Messungen erfordern außerdem sehr schwierige mathematische und physikalische Berechnungen und müssen letztlich mit komplexen statistischen Verfahren ausgewertet werden, was zusätzlichen Fehlerquellen die Türen öffnet.

Allein diese Überlegungen zeigen, dass die Ergebnisse der Hirnforschung mit Vorsicht und Zurückhaltung zu verstehen sind. Noch deutlicher wird dies, wenn man bedenkt, dass das statistische Messergebnis dann noch einmal interpretiert werden muss – und zwar von Menschen, die eine bestimmte wissenschaftliche Vorbildung besitzen. Diese Interpretation – erinnern wir uns an das Beispiel der "Intelligenz der Gefühle" – kann je nach Aufgabe, Interesse und Hintergrund des Wissenschaftlers ganz unterschiedlich ausfallen. Nicht ohne Grund kommt es auch unter Wissenschaftlern häufig zum Streit darüber, wie die Ergebnisse nun zu verstehen sind.

Es ist also aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch, wenn Thomas Metzinger in seinem Artikel "Der Preis der Erkenntnis" (siehe Gehirn&Geist 7-8/2006, S. 42) weit reichende Schlussfolgerungen aus "der Erkenntnis" der Hirnforschung ziehen will. Er befürchtet beispielsweise, dass wissenschaftlich unbedarfte Menschen die Aussagen der Hirnforscher so verstehen, dass sie "nichts als evolutionär entstandene Ego-Maschinen, seelenlose Bioautomaten auf einem einsamen Planeten in einem kalten, leeren Universum" seien. Solche Menschen könnten sich dann auch dementsprechend – sozusagen wissenschaftlich gerechtfertigt – egoistisch verhalten.

Psychologen wissen aber schon seit Jahrzehnten, dass sogar Kleinkinder im ersten Lebensjahr auf das Leiden anderer emotional reagieren und bereits im zweiten Lebensjahr dazu motiviert sind, den Leidenden zu helfen. Im selben Alter gewinnen Kinder auch ein erstes Verständnis dessen, was sozial richtig und falsch ist und können zufälliges von absichtlichem Verhalten unterscheiden, wie beispielsweise die Entwicklungspsychologin Grazyna Kochanska von der University of Iowa gezeigt hat.

Und nicht nur bei Menschen scheinen solche sozialen Mechanismen biologisch "hart verdrahtet" zu sein, sondern selbst bei Affen. Die beiden Primatenforscher Sarah Bosnan und Frans de Waal konnten etwa mit einer Studie in der Zeitschrift "Nature" nachweisen, dass Kapuzineraffen ein Verständnis dafür besitzen, was fair und was unfair ist: Ein Affe, der für die Erledigung einer bestimmten Aufgabe belohnt wurde und mit ansehen musste, wie einer seiner Artgenossen die Belohnung auch ohne fleißige Arbeit bekam, weigerte sich fortan, die Aufgabe zu erledigen.

Nicht ohne Grund ist kürzlich mit der "sozialen affektiven und kognitiven Neurowissenschaft" eine eigene Disziplin entstanden, die untersucht, dass wir Menschen – und verwandte Spezies genauso – auch soziale und emotionale Mechanismen in unserem Gehirn haben. Die Funktion dieser Mechanismen ist es nicht einfach, andere zu täuschen, sondern sie stellen eine neurobiologische Grundlage von Mitgefühl, Vertrauen, und Kooperation dar, damit wir als Gruppe besser (über)leben.

Vorsichtig muss man auch sein, wenn Metzinger auf Grund empirischer Sachverhalte metaphysische Konsequenzen nahe legt. Das klassische abendländische Menschenbild und die christliche Moral sollen von der Hirnforschung verabschiedet worden sein. Es sei nach deren Erkenntnissen "nur noch schwer vorstellbar, dass es Erfahrung, Denken und Gefühle auch noch nach dem Tod des zugehörigen Organismus" geben könnte. "Logisch bleibt es natürlich möglich, aber empirisch wird es immer weniger plausibel", so Metzinger weiter. Aber schon der Gedanke, metaphysische Annahmen mithilfe empirischer Experimente widerlegen zu wollen, stellt einen Fehlschluss dar und würde voraussetzen, dass diese Vorstellungen auf einem empirischen Fundament gebaut sind. Was Hirnforscher in ihren Scannern messen sowie mit komplizierten und voraussetzungsreichen Computerprogrammen bildhaft sichtbar machen können, ist bestenfalls nur ein Teil der Wirklichkeit. Aus ihren Untersuchungen abzuleiten, es sei die gesamte Wirklichkeit, und darüber hinaus gäbe es nichts mehr, ist philosophisch zumindest fragwürdig.

In einem "Manifest" haben elf führende Neurowissenschaftler auch bescheiden eingeräumt, "noch nicht einmal in Ansätzen zu verstehen […], nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet" (siehe Gehirn&Geist 6/2004, S. 30). Sie gestehen sogar zu: "Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte." Diese Aussagen unterstreichen zusätzlich, dass wir vorsichtig mit den Ergebnissen der Hirnforschung umgehen müssen. Gleichzeitig glauben diese Hirnforscher jedoch zu wissen, "dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind", und gelangen zu dem weit reichenden Schluss: "Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht." Diese bloße Vermutung, die nicht durch wissenschaftliche Experimente gestützt wird, sondern sich eher als ein Wunschdenken oder Glaubensbekenntnis entpuppt, bezeichnen sie als die "vielleicht […] wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften".

Man sollte sich aber kritisch vor Augen führen, dass es noch nicht einmal wissenschaftliche Definitionen für "Geist" und "Bewusstsein" gibt und wahrscheinlich so viele verschiedene Meinungen darüber existieren, wie man diese Phänomene am besten untersucht, wie es Forscher gibt, die Experimente dazu machen. Außerdem ist auch das Leib-Seele-Problem, das schon René Descartes zum Grübeln gebracht hat, in seiner modernen Formulierung, wo es statt um Leib und Seele nun um Körper und Geist geht, bis heute nicht gelöst. Bei näherer Betrachtung stellt sich die "vielleicht wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften" daher nicht als objektive Einsicht, sondern als subjektiv gefärbte Ideologie heraus.

Davon abgesehen sind die so genannten "Desillusionierungen" der Hirnforschung keineswegs neu. Die Auffassung, unser Selbst sei eine Illusion, die es zu durchschauen gelte, ist ein Kernelement des Buddhismus. Dass unser Wille letztlich nicht frei ist, darüber hat sich Martin Luther mit Erasmus von Rotterdam gestritten. Und auch Johannes Calvin war der Überzeugung, wir könnten keine freien Entscheidungen fällen – auch wenn die Reformatoren dafür natürlich nicht die Abhängigkeit unseres bewussten Willens von neuronalen Ursachen angeführt haben, sondern dessen Bestimmtheit durch den allmächtigen und allwissenden Gott.

Dass wir "einen großen Teil unserer Persönlichkeitsmerkmale nicht ändern" können, eine weitere "Erkenntnis" Metzingers aus der Hirnforschung, ist schon ein Seufzer des Jeremia ("Kann etwa ein Mohr seine Haut wandeln oder ein Panther seine Flecken? So wenig könnt auch ihr Gutes tun, die ihr ans Böse gewöhnt seid"; Jer. 13,23) und des Paulus ("Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich"; Röm. 7,19). Dass unsere Gehirne "offenbar nicht auf die Fähigkeit zum dauerhaften Glücklichsein hin optimiert" sind, hat zudem auch Immanuel Kant beobachtet – und es hat ihn dazu bewogen, die Existenz eines Gottes zu postulieren.

Wir hätten also eigentlich schon Jahrhunderte lang Zeit gehabt, uns an den Preis einer Erkenntnis zu gewöhnen, die uns nicht erst die Hirnforschung gebracht hat, sondern die Teil unserer jüdisch-christlichen-abendländischen Tradition sind. Der von Metzinger postulierte "von der Hirnforschung herbeigeführte endgültige Zusammenbruch des metaphysischen Menschenbilds" gleicht also aus verschiedenen Gründen dem Warnruf vor einem imaginären Wolf: Nicht die Hirnforschung bedroht unser Menschenbild, weil sie zum einen metaphysisch nichts Neues gebracht hat und zum anderen dieses Neue selber gar nicht begründen kann – dazu müsste die Hirnforschung selbst metaphysische Aussagen machen.

So wird es auch trotz der unbestreitbar bahnbrechenden Erkenntnisse der Hirnforschung weiterhin Menschen geben, die an Gott und Seele glauben, die sich um andere Menschen sorgen, und die Werte wie Liebe und Schönheit hochhalten. Und dazu gehören beileibe nicht nur diejenigen, welche nicht auf dem neusten, wissenschaftlichen Stand sind, sondern auch diejenigen, die nüchtern und gelassen zwischen deskriptiven und normativen Aussagen unterscheiden können.

Der wahre "Preis der Selbsterkenntnis" besteht also nicht aus den Entdeckungen der Hirnforschung, sondern höchstens aus unserer eigenen geistigen Mühe, kritisch und reflektiert mit uns, der Welt und den wissenschaftlichen Entdeckungen in ihr umzugehen. Metzingers Forderung nach einer Neuroanthropologie stellen wir daher die Forderung nach einer Neurophilosophie entgegen, welche die "Erkenntnisse" der Neurowissenschaften sowie ihre impliziten Vorannahmen kritisch überprüft.


Stephan Schleim ist Philosoph und Kognitionsforscher und arbeitet am Zentrum für Nervenheilkunde des Universitätsklinikums Bonn.
Christina Aus der Au ist Assistentin für Systematische Theologie/Dogmatik an der Universität Basel.

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