Von der Oper der Moderne und der Sehnsucht nach Bewährtem
Moderne Kunst lockt zahlreiche Besucher in Museen. Opern des 20. Jahrhundert hingegen werden nur selten aufgeführt. Obwohl das 20. Jahrhundert musikgeschichtlich viel zu bieten hat, bevorzugen die Zuhörer Werke von Mozart, Verdi und Wagner.
Längst hängen die Bilder von Pablo Picasso, Andy Warhol, Cy Twombly oder Gerhard Richter in den Vorstandsetagen großer Konzerne. Museen wie die Münchner „Pinakothek der Moderne“ verzeichnen kontinuierlich steigende Besucherzahlen – und wer Andreas Gursky ist, gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen. Was allerdings die Musik des 20. Jahrhunderts betrifft, können viele Kulturinteressierte sogar auf Verständnis hoffen, wenn sie behaupten, die Werke von Arnold Schönberg (1874–1951), Alban Berg (1885–1935), Hans Werner Henze (geboren 1926) oder Aribert Reimann (geboren 1936) sagten ihnen nichts. Gibt es, abgesehen von ein paar Kritikern, überhaupt Menschen, die für die Uraufführung eines Streichquartetts von Wolfgang Rihm (geboren 1952) ein paar hundert Kilometer weit fahren würden – wie es tausende Kunstinteressierte selbstverständlich alle fünf Jahre für die Kasseler Documenta tun?
Die meistgespielte Oper an den deutschen Stadt– und Staatstheatern war mit 55 Inszenierungen, 694 Aufführungen und 348 998 Besuchern wieder einmal Mozarts „Zauberflöte” (1791). Daneben regelmäßig in den Top Ten: Mozarts „Entführung aus dem Serail” (1782), Mozarts „Don Giovanni” (1787), Verdis „La Traviata” (1853), Bizets „Carmen” (1875) und Wagners „Der fliegende Holländer” (1843). Erst auf den hinteren Plätzen folgt eine Oper, die wenigstens auf der Schwelle zum vergangenen Jahrhundert entstanden ist: Giacomo Puccinis „La Bohème” (1896).
Trotzdem: Das Etikett „20. Jahrhundert” wäre für dieses Werk falsch – die „Bohème” bildet den Abschluss der romantischen Ära, nicht den Neuanfang der Moderne. Die einzigen Opern des 20. Jahrhunderts, die es immer mal wieder in die Top 20 der Besucherstatistik des Deutschen Bühnenvereins schaffen, sind der „Rosenkavalier” von Richard Strauss (1911) und Puccinis „Madame Butterfly” (1904) – allerdings stehen auch diese kompositionstechnisch ebenso in der Tradition des 19. Jahrhunderts wie die im 20. Jahrhundert entstandenen Sinfonien Gustav Mahlers (1860–1911) oder Hans Pfitzners Oper „Palestrina” (1912–15).
Ähnlich museal geht es in den Konzertsälen zu: Nur ein kleiner Teil des Publikums ist bereit, Werke der so genannten Moderne oder gar Postmoderne zu hören. In ein Konzert mit Neuer Musik gehen selbst Musikliebhaber oft nur, wenn ihnen nach der Pause zur Kompensation wenigstens eine Schubert–Sinfonie geboten wird. Mit ein Grund für diese Hinwendung zur Vergangenheit könnte sein, wie der Frankfurter Musikdramaturg Dieter Rexroth in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung” mutmaßte, dass gerade die Uraufführungsflut der Moderne ein Bedürfnis nach dem bereits Bewährten – und damit nach gesicherten Maßstäben – geweckt habe. Wobei die Moderne, so genau lässt sich das nicht festlegen, irgendwann zwischen 1892/94 – da schreibt Claude Debussy sein „Prélude à ‚L'après-midi d'un faune'“ (über das der Dirigent Pierre Boulez sagt, es führe „ein neues Aufatmen in die musikalischen Künste ein”) – und 1911/13 mit Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire” und Igor Strawinskys „Le sacre du printemps” beginnt.
Nimmt man die Gunst des Publikums zum Maßstab bei der Frage, welche Opern oder Sinfonien der Moderne auch im 22. Jahrhundert wohl noch gespielt werden, bleiben vermutlich vom 20. Jahrhundert kaum mehr als ein Dutzend Komponisten übrig. Bezieht man die Meinungen der Intendanten und Generalmusikdirektoren mit ein, die bisweilen natürlich auch Werke auf ihre Spielpläne setzen, weil sie diese, unabhängig vom Publikumsgeschmack, für Meilensteine der Musikgeschichte halten, bekommt man eine einigermaßen repräsentative Liste.
Beginnen soll sie mit einem französischen Komponisten, der schon in der Schule als musikalischer Revolutionär aufgefallen war und seine Lehrer mit bis dahin unerhörten Septimen- und Nonen-Akkordfolgen nachhaltig verschreckt hatte: Claude Debussy (1862-1918). „Pelléas et Mélisande”, entstanden nach Maurice Maeterlincks gleichnamigem symbolistischen Theaterstück und 1902 uraufgeführt, ist seine einzige vollendete Oper. Fremd und ungewohnt erschienen den Besuchern der Uraufführung Debussys Prosodie – die vor allem auf die größtmögliche Verständlichkeit des Textes abzielte – und die autonome Führung des Orchesters. Die seltsame Undurchsichtigkeit der Musik und ihr leiser Klang verschreckten die frühen Hörer – erst im Abstand von vielen Jahrzehnten war klar, dass „Pelléas et Mélisande” ein Meilenstein der Operngeschichte darstellte.
Gemeinsam mit Debussy und Paul Dukas („Der Zauberlehrling“) bildet der 1875 geborene Maurice Ravel das große Dreigestirn der neuen französischen Musik: Inspiriert vom Impressionismus, schaffte er ganz eigene, kräftige Klangfarben. Weniger ätherisch-schwebend als Debussy ist er – vermutlich genau deshalb – weit beliebter als sein Landsmann. Zahlreich sind seine Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten wie beispielsweise die 1922 entstandene Orchesterfassung von Modest Mussorgskys Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“. Allerdings: Weltberühmt machten ihn erst sein im Auftrag des kriegsversehrten Paul Wittgenstein geschriebenes „Klavierkonzert für die linke Hand“ – und natürlich sein „Bolero”. 1928 als Ballettmusik entstanden und angeregt durch den berühmten russischen Impresario Sergej Diaghilew (1872-1929), wird er heute in Bearbeitungen immer wieder gespielt.
Ravels Zeitgenosse Richard Strauss (1864-1949), so schrieb es der seinerzeit äußerst einflussreiche Berliner Musikkritiker Oscar Bie, habe Deutschland mit starker Hand vom Wagner-Epigonentum befreit. Mit einem Paukenschlag betritt der junge Kapellmeister aus der Münchner Brauerei-Dynastie Pschorr die Szene – nach einigen Fingerübungen („Guntram”, „Feuersnot”), die längst vergessen sind: Seine „Salome” wird am 9. Dezember 1905 in Dresden uraufgeführt. Diese nur 90 Minuten dauernde einaktige Oper nach Oscar Wilde entfacht einen Wirbelsturm der Ablehnung: Die Psychoanalyse hat sich als Wissenschaft noch nicht etabliert, als Strauss es wagt ein Bühnenstück zu schreiben, dass die Grenzen zur Sexualpathologie überschreitet.
Richard Wagners Witwe Cosima ätzt über die „Entweihung der Musik als Schilderin der Perversität”. Maurice Ravel hingegen schreibt, dass ihn „die elementare Gewalt” und der „brennendheiße Wind der Salome” geradezu umgeworfen hätten. Die Verwendung von Leitmotiven, der hochdramatische Gesang und das lyrische Pathos erinnern zwar noch an Richard Wagner – allerdings steigert Strauss in der „Salome” zum ersten und einzigen Mal das Chromatische seiner Harmonik derart, dass die Grenzen der Dur-Moll-Tonalität erreicht werden.
Das Schwesterwerk „Elektra” folgt 1909 – erneut ein knapp eineinhalbstündiger Einakter, erneut mit einer leidenschaftlichen, ekstatischen Titelfigur. Die Zeit der heroischen Männergestalten (Lohengrin, Parsifal, Tristan, Siegfried) und der ihnen demütig dienenden und sich für sie opfernden Frauen (Elsa, Senta, Isolde) ist endgültig vorbei. In der musikalischen Gestaltung setzt „Elektra” dort ein, wo die „Salome” endete: Strauss komponierte chromatische, dissonante Akkordschläge für die Figur der Klytämnestra, ja für ihre Traumdeutungsszene fast schon bitonale und atonale Phrasen – mit diesem gewaltigen Werk ist der musikalische Expressionismus geboren.
Vor allem das Wienerisch-Heitere des „Rosenkavaliers” kommt bis heute beim Publikum gut an: keine Psychoanalyse, keine manischen Frauenfiguren; musikalisch eine deutlich reduzierte Chromatik, dazu beschwingte Walzerketten. Würde, was den Publikumsgeschmack angeht, nur eine einzige Oper des 20. Jahrhunderts überleben, es wäre mit Sicherheit diese. Das rätselhafte „Moses und Aron“ jedenfalls, um ehrlich zu sein, ist es vermutlich nicht – auch wenn das gigantische Opus magnum des Wiener Komponisten Arnold Schönberg eine der größten Opern des 20. Jahrhunderts ist. Zu sperrig scheint unvorbereiteten Zuhörern diese Oper. Was aber auch nicht verwundert: „My music is not lovely”, sagte Schönberg in seinem Exil Hollywood.
Nach der Ausschöpfung der Tonalität bewegte er sich kompositorisch über die „Emanzipation der Dissonanz”, wie er es nannte, hin zur Reihentechnik der Zwölftonmusik. „Ich glaube”, urteilt der auf Zeitgenössisches spezialisierte Dirigent Ingo Metzmacher, „Schönberg hat mehr eingerissen als nur die Relation der Töne. Wir sind allerdings noch immer nicht in der Lage, Schönbergs Schritt nachzuvollziehen. Er beunruhigt uns zutiefst.”
Die mehr als 2000 Takte umfassende Partitur blieb unvollendet: „Oh Wort, du Wort, das mir fehlt!“ – mit diesem verzweifelten Ausruf Moses endet der zweite Akt; den dritten und letzten hat er nicht mehr fertig gestellt; 1954 wurde das gigantische Fragment in Hamburg posthum uraufgeführt.
Mit ganz anderen Klängen schob sich der Russe Igor Strawinsky (1882-1971) ins Rampenlicht: „Le sacre du printemps” ist wild und ungebändigt, bietet ein Feuerwerk an Dynamik und unablässige Taktwechsel – das Ballett erzählt von einer heidnischen Feier, bei der alte Männer dem Todestanz eines jungen Mädchens zusehen, das geopfert werden soll. Die Uraufführung am 29. Mai 1913 im Pariser Théatre des Champs-Élysées endete in Tumulten und Handgemengen und ging als einer der größten Skandale des 20. Jahrhunderts in die Musikgeschichte ein. Das Publikum „lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierlaute nach”, erinnert sich der Schriftsteller Jean Cocteau. Erst nach Jahren begriff man die bahnbrechende Bedeutung, die rhythmischen und klanglichen Neuerungen der Komposition.
Als der alternde Strawinsky dreieinhalb Jahrzehnte später im Chicago Art Institute zufällig einen Bilderzyklus des viktorianischen Malers William Hogarth sah, der den Aufstieg und Niedergang eines Wüstlings im 18. Jahrhundert beschreibt, war die Idee für eine der ungewöhnlichsten Opern des 20. Jahrhunderts geboren: „A Rake’s Progress” (1951). Es ist eine Art „Don Giovanni”-Geschichte, komponiert im Nummernstil des 18. Jahrhunderts: Arien, Duette, Chöre, Zwischenspiele, Rezitative – eine Oper voller Witz und Sarkasmus, amüsant und höchst unterhaltsam, die nicht oft, aber regelmäßig auf deutschen Bühnen zu sehen ist.
Strawinskys Landsmann Dmitri Schostakowitsch komponierte seine erste Sinfonie 1924/25 im Alter von 19 Jahren, seine letzte 1971, vier Jahre vor seinem Tod: Sein Schaffen umfasst eine Spanne von fünf Jahrzehnten. Der gebürtige Petersburger komponierte Hymnen auf Stalin und blieb doch in sicherer Distanz zur Diktatur – was er unter anderem in seiner 14. Sinfonie für Sopran, Bass und Orchester deutlich macht, die Dirigent Simon Rattle als eines der Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts bewertet. Aber schon in seiner vierten Sinfonie (1935/36) zertrümmerte Schostakowitsch alles, was das Publikum bis dahin gewohnt war; in seinen Sinfonien, aber auch in seiner epochalen Oper „Lady Macbeth von Mzensk” (1934) gibt es nichts Besänftigendes oder gar Tröstendes. „Seine 15 Sinfonien durchziehen das von Schrecken und Terror durchpeitschte 20. Jahrhundert wie ein apokalyptischer Soundtrack”, schrieb der Essayist Gottfried Blumenstein.
Viele andere wie Berthold Goldschmidt, Alexander Zemlinsky oder Ernst Krenek teilen mit Korngold das Schicksal der Emigration, beispielhaft soll deshalb auf Franz Schreker (1878-1934) eingegangen werden: Musikalisch-dramatisch noch in der Tradition Richard Wagners stehend – auch Schreker schrieb übrigens die Libretti zu seinen Werken selbst –, komponierte der Österreicher acht Opern. Vor allem „Die Gezeichneten” (1918) und „Der Schatzgräber” (1920) gehörten bis 1933 zum Standardrepertoire deutscher Theater, wurden in den zwanziger und dreißiger Jahren weit öfter und häufiger gespielt als die Werke von Richard Strauss – ob unter Otto Klemperer oder Hans Knappertsbusch, George Szell, Franz Schalk oder Egon Pollack –, dann aber aufgrund ihrer exzessiven Polyphonie von den Nationalsozialisten als „entartet” verboten. Erst seit den 1980er Jahren wird Schreker allmählich wieder ausgegraben, gelangte vor allem durch die wegweisenden Inszenierungen von Hans Neuenfels („Die Gezeichneten“, 1979 an der Oper Frankfurt) und Günter Krämer („Der Schatzgräber“, 1989 in Düsseldorf) zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.
Der Zweite Weltkrieg bedeutete auch in der Musikgeschichte eine Zäsur. Denn obwohl die Fachwelt die Werke der meisten Nachkriegskomponisten schätzt und verehrt, hört das Publikum sie mit Skepsis. Ihre Werke werden gespielt, weil Intendanten und Dirigenten um ihren innovativen und einzigartigen Wert wissen, nicht weil das Publikum sie innig liebt.
Vor allem aus Italien, dem Land, in dem die Oper einst erfunden wurde, gingen im Nachkriegseuropa wichtige Impulse aus – insbesondere vom Ligurier Luciano Berio (1925-2003) und dem Venezianer Luigi Nono (1924-1990): Nono, der 1955 eine Schönberg-Tochter heiratet und dem 1951 verstorbenen Schwiegervater seine 1960 uraufgeführte szenische Aktion „Intolleranza“ widmet, ist Revoluzzer und Utopist, sucht neue Wege, öffnet sich der elektronischen Musik – und lässt sich nicht festlegen: „Alle Etiketten, die man mir aufklebt, zeigen die Dürftigkeit eines schematischen Denkens“, sagte er fünf Jahre vor seinem Tod.
Einen Weg abseits bekannter Pfade sucht auch der in Gütersloh geborene und seit vielen Jahrzehnten in der Nähe von Rom in den Albaner Bergen lebende Hans Werner Henze, einer der produktivsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist von geradezu barocker Vielfalt, umfasst Opern („Boulevard Solitude”, „Die Bassariden”), Ballette, Orchesterstücke, Concertos und Filmmusiken. Zum Straßenfeger allerdings wurde keines seiner Werke – das konnte man in den vergangenen vierzig Jahren guten Gewissens nur von zwei anderen Opern behaupten: Aribert Reimanns „Lear” (1978) und Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern” (1997). Der „Lear” dürfte sogar von allen nach 1950 uraufgeführten Opern am häufigsten neuinszeniert worden sein.
Was noch zu sagen bleibt? Vielleicht eins: Auch die Musik der vergangenen hundert Jahre ist ein Spiegel ihrer Zeit. Das entfesselte 20. Jahrhundert mit all seinen finstersten Katastrophen – und in all seiner Schönheit und seinem Fortschrittsglauben – ist ebenso disparat, komplex und zerrissen wie die Werke, die in diesem Zeitraum entstehen. Zwischen Gustav Mahlers 9. Sinfonie (1909/10) und Reimanns „Lear” liegt noch nicht einmal ein Menschenleben – und trotzdem eine ganze Welt.
In der Spielzeit 2006/2007 – aktuellere Zahlen liegen dem Deutschem Bühnenverein noch nicht vor – dominierte Mozarts 250. Geburtstag die Spielpläne der knapp hundert deutschen Opernhäuser. Wesentliche Uraufführungen im Bereich des Musiktheaters der Spielzeit waren unter anderem Detlev Glanerts „Caligula“ (Oper Frankfurt in Koproduktion mit der Kölner Oper), Ingomar Grünauers „Cantor – die Vermessung des Unendlichen“ (Oper Halle) und Matthias Heeps „Träumer“ (Staatstheater Stuttgart). Ob diese Werke auch in hundert Jahren noch ein Publikum finden werden? Es gehört keine große Kenntnis der Musikszene dazu, wenn man prophezeit: vermutlich nicht.
Die meistgespielte Oper an den deutschen Stadt– und Staatstheatern war mit 55 Inszenierungen, 694 Aufführungen und 348 998 Besuchern wieder einmal Mozarts „Zauberflöte” (1791). Daneben regelmäßig in den Top Ten: Mozarts „Entführung aus dem Serail” (1782), Mozarts „Don Giovanni” (1787), Verdis „La Traviata” (1853), Bizets „Carmen” (1875) und Wagners „Der fliegende Holländer” (1843). Erst auf den hinteren Plätzen folgt eine Oper, die wenigstens auf der Schwelle zum vergangenen Jahrhundert entstanden ist: Giacomo Puccinis „La Bohème” (1896).
Trotzdem: Das Etikett „20. Jahrhundert” wäre für dieses Werk falsch – die „Bohème” bildet den Abschluss der romantischen Ära, nicht den Neuanfang der Moderne. Die einzigen Opern des 20. Jahrhunderts, die es immer mal wieder in die Top 20 der Besucherstatistik des Deutschen Bühnenvereins schaffen, sind der „Rosenkavalier” von Richard Strauss (1911) und Puccinis „Madame Butterfly” (1904) – allerdings stehen auch diese kompositionstechnisch ebenso in der Tradition des 19. Jahrhunderts wie die im 20. Jahrhundert entstandenen Sinfonien Gustav Mahlers (1860–1911) oder Hans Pfitzners Oper „Palestrina” (1912–15).
Ähnlich museal geht es in den Konzertsälen zu: Nur ein kleiner Teil des Publikums ist bereit, Werke der so genannten Moderne oder gar Postmoderne zu hören. In ein Konzert mit Neuer Musik gehen selbst Musikliebhaber oft nur, wenn ihnen nach der Pause zur Kompensation wenigstens eine Schubert–Sinfonie geboten wird. Mit ein Grund für diese Hinwendung zur Vergangenheit könnte sein, wie der Frankfurter Musikdramaturg Dieter Rexroth in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung” mutmaßte, dass gerade die Uraufführungsflut der Moderne ein Bedürfnis nach dem bereits Bewährten – und damit nach gesicherten Maßstäben – geweckt habe. Wobei die Moderne, so genau lässt sich das nicht festlegen, irgendwann zwischen 1892/94 – da schreibt Claude Debussy sein „Prélude à ‚L'après-midi d'un faune'“ (über das der Dirigent Pierre Boulez sagt, es führe „ein neues Aufatmen in die musikalischen Künste ein”) – und 1911/13 mit Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire” und Igor Strawinskys „Le sacre du printemps” beginnt.
Nimmt man die Gunst des Publikums zum Maßstab bei der Frage, welche Opern oder Sinfonien der Moderne auch im 22. Jahrhundert wohl noch gespielt werden, bleiben vermutlich vom 20. Jahrhundert kaum mehr als ein Dutzend Komponisten übrig. Bezieht man die Meinungen der Intendanten und Generalmusikdirektoren mit ein, die bisweilen natürlich auch Werke auf ihre Spielpläne setzen, weil sie diese, unabhängig vom Publikumsgeschmack, für Meilensteine der Musikgeschichte halten, bekommt man eine einigermaßen repräsentative Liste.
Beginnen soll sie mit einem französischen Komponisten, der schon in der Schule als musikalischer Revolutionär aufgefallen war und seine Lehrer mit bis dahin unerhörten Septimen- und Nonen-Akkordfolgen nachhaltig verschreckt hatte: Claude Debussy (1862-1918). „Pelléas et Mélisande”, entstanden nach Maurice Maeterlincks gleichnamigem symbolistischen Theaterstück und 1902 uraufgeführt, ist seine einzige vollendete Oper. Fremd und ungewohnt erschienen den Besuchern der Uraufführung Debussys Prosodie – die vor allem auf die größtmögliche Verständlichkeit des Textes abzielte – und die autonome Führung des Orchesters. Die seltsame Undurchsichtigkeit der Musik und ihr leiser Klang verschreckten die frühen Hörer – erst im Abstand von vielen Jahrzehnten war klar, dass „Pelléas et Mélisande” ein Meilenstein der Operngeschichte darstellte.
Gemeinsam mit Debussy und Paul Dukas („Der Zauberlehrling“) bildet der 1875 geborene Maurice Ravel das große Dreigestirn der neuen französischen Musik: Inspiriert vom Impressionismus, schaffte er ganz eigene, kräftige Klangfarben. Weniger ätherisch-schwebend als Debussy ist er – vermutlich genau deshalb – weit beliebter als sein Landsmann. Zahlreich sind seine Bearbeitungen von Werken anderer Komponisten wie beispielsweise die 1922 entstandene Orchesterfassung von Modest Mussorgskys Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“. Allerdings: Weltberühmt machten ihn erst sein im Auftrag des kriegsversehrten Paul Wittgenstein geschriebenes „Klavierkonzert für die linke Hand“ – und natürlich sein „Bolero”. 1928 als Ballettmusik entstanden und angeregt durch den berühmten russischen Impresario Sergej Diaghilew (1872-1929), wird er heute in Bearbeitungen immer wieder gespielt.
Ravel, dem das Mechanische näher lag als das Menschliche, hatte von Kind auf eine Vorliebe für maschinelle Rhythmen – schätzte seinen rhythmischen „Bolero“ selbst jedoch später eher gering: Das Werk sei eine „Orchesterfabrik“, die „überhaupt keine Musik enthält.“ Seine Zuhörer beurteilen das anders: Den Konzertsaal hat das Orchesterstück längst verlassen, es wird mittlerweile beim Eistanz genauso zuverlässig eingesetzt wie in der Werbung oder in Spielfilmen.
Ravels Zeitgenosse Richard Strauss (1864-1949), so schrieb es der seinerzeit äußerst einflussreiche Berliner Musikkritiker Oscar Bie, habe Deutschland mit starker Hand vom Wagner-Epigonentum befreit. Mit einem Paukenschlag betritt der junge Kapellmeister aus der Münchner Brauerei-Dynastie Pschorr die Szene – nach einigen Fingerübungen („Guntram”, „Feuersnot”), die längst vergessen sind: Seine „Salome” wird am 9. Dezember 1905 in Dresden uraufgeführt. Diese nur 90 Minuten dauernde einaktige Oper nach Oscar Wilde entfacht einen Wirbelsturm der Ablehnung: Die Psychoanalyse hat sich als Wissenschaft noch nicht etabliert, als Strauss es wagt ein Bühnenstück zu schreiben, dass die Grenzen zur Sexualpathologie überschreitet.
Richard Wagners Witwe Cosima ätzt über die „Entweihung der Musik als Schilderin der Perversität”. Maurice Ravel hingegen schreibt, dass ihn „die elementare Gewalt” und der „brennendheiße Wind der Salome” geradezu umgeworfen hätten. Die Verwendung von Leitmotiven, der hochdramatische Gesang und das lyrische Pathos erinnern zwar noch an Richard Wagner – allerdings steigert Strauss in der „Salome” zum ersten und einzigen Mal das Chromatische seiner Harmonik derart, dass die Grenzen der Dur-Moll-Tonalität erreicht werden.
Das Schwesterwerk „Elektra” folgt 1909 – erneut ein knapp eineinhalbstündiger Einakter, erneut mit einer leidenschaftlichen, ekstatischen Titelfigur. Die Zeit der heroischen Männergestalten (Lohengrin, Parsifal, Tristan, Siegfried) und der ihnen demütig dienenden und sich für sie opfernden Frauen (Elsa, Senta, Isolde) ist endgültig vorbei. In der musikalischen Gestaltung setzt „Elektra” dort ein, wo die „Salome” endete: Strauss komponierte chromatische, dissonante Akkordschläge für die Figur der Klytämnestra, ja für ihre Traumdeutungsszene fast schon bitonale und atonale Phrasen – mit diesem gewaltigen Werk ist der musikalische Expressionismus geboren.
„Elektra” ist übrigens das erste Werk von Richard Strauss auf einen Text von Hugo von Hofmannsthal, wobei in diesem Fall allerdings das Buch schon fertig vorlag. „Wir sind füreinander geboren”, schreibt der Komponist nach der Premiere an den Schriftsteller, „und werden sicher Schönes zusammen leisten, wenn Sie mir treu bleiben.” Was der Wahrheit entspricht: „Der Rosenkavalier” (1911) ist das erste in gemeinschaftlicher Arbeit entstandene Werk der beiden, bis zum Tode des Dichters im Jahr 1929 werden „Ariadne auf Naxos”, „Die Frau ohne Schatten”, „Die ägyptische Helena” und „Arabella” folgen – eine kongeniale Zusammenarbeit zweier Großmeister, wie sie in der Musikgeschichte nur selten zu finden ist.
Vor allem das Wienerisch-Heitere des „Rosenkavaliers” kommt bis heute beim Publikum gut an: keine Psychoanalyse, keine manischen Frauenfiguren; musikalisch eine deutlich reduzierte Chromatik, dazu beschwingte Walzerketten. Würde, was den Publikumsgeschmack angeht, nur eine einzige Oper des 20. Jahrhunderts überleben, es wäre mit Sicherheit diese. Das rätselhafte „Moses und Aron“ jedenfalls, um ehrlich zu sein, ist es vermutlich nicht – auch wenn das gigantische Opus magnum des Wiener Komponisten Arnold Schönberg eine der größten Opern des 20. Jahrhunderts ist. Zu sperrig scheint unvorbereiteten Zuhörern diese Oper. Was aber auch nicht verwundert: „My music is not lovely”, sagte Schönberg in seinem Exil Hollywood.
Nach der Ausschöpfung der Tonalität bewegte er sich kompositorisch über die „Emanzipation der Dissonanz”, wie er es nannte, hin zur Reihentechnik der Zwölftonmusik. „Ich glaube”, urteilt der auf Zeitgenössisches spezialisierte Dirigent Ingo Metzmacher, „Schönberg hat mehr eingerissen als nur die Relation der Töne. Wir sind allerdings noch immer nicht in der Lage, Schönbergs Schritt nachzuvollziehen. Er beunruhigt uns zutiefst.”
Die mehr als 2000 Takte umfassende Partitur blieb unvollendet: „Oh Wort, du Wort, das mir fehlt!“ – mit diesem verzweifelten Ausruf Moses endet der zweite Akt; den dritten und letzten hat er nicht mehr fertig gestellt; 1954 wurde das gigantische Fragment in Hamburg posthum uraufgeführt.
Schönbergs Schüler Alban Berg, die „letzte Treibhauspflanze der Spätromantik”, so der Dirigent Pierre Boulez, ist weniger doktrinär und theoretisch als sein Lehrer. Der Unmittelbarkeit seines „Wozzeck” (1925), einem Paradebeispiel für das expressionistische Musiktheater, kann sich niemand entziehen: Durch die einzigartige Verbindung von Wort und Klang, das Hin- und Herpendeln zwischen dramatischer Ekstase, halb gesprochenen Rezitativen und ausgedünntem Arioso entsteht eine verstörende, kafkaeske Welt. Die Uraufführung in Berlin dirigierte Erich Kleiber, Vater des verstorbenen Carlos Kleiber – Kleiber emigrierte später nach Buenos Aires, und der „Wozzeck” wurde von den Nazis als „entartet” verboten. Ein Schicksal, dem auch viele andere Werke des 20. Jahrhunderts nicht entgingen.
Mit ganz anderen Klängen schob sich der Russe Igor Strawinsky (1882-1971) ins Rampenlicht: „Le sacre du printemps” ist wild und ungebändigt, bietet ein Feuerwerk an Dynamik und unablässige Taktwechsel – das Ballett erzählt von einer heidnischen Feier, bei der alte Männer dem Todestanz eines jungen Mädchens zusehen, das geopfert werden soll. Die Uraufführung am 29. Mai 1913 im Pariser Théatre des Champs-Élysées endete in Tumulten und Handgemengen und ging als einer der größten Skandale des 20. Jahrhunderts in die Musikgeschichte ein. Das Publikum „lachte, höhnte, pfiff, ahmte Tierlaute nach”, erinnert sich der Schriftsteller Jean Cocteau. Erst nach Jahren begriff man die bahnbrechende Bedeutung, die rhythmischen und klanglichen Neuerungen der Komposition.
Als der alternde Strawinsky dreieinhalb Jahrzehnte später im Chicago Art Institute zufällig einen Bilderzyklus des viktorianischen Malers William Hogarth sah, der den Aufstieg und Niedergang eines Wüstlings im 18. Jahrhundert beschreibt, war die Idee für eine der ungewöhnlichsten Opern des 20. Jahrhunderts geboren: „A Rake’s Progress” (1951). Es ist eine Art „Don Giovanni”-Geschichte, komponiert im Nummernstil des 18. Jahrhunderts: Arien, Duette, Chöre, Zwischenspiele, Rezitative – eine Oper voller Witz und Sarkasmus, amüsant und höchst unterhaltsam, die nicht oft, aber regelmäßig auf deutschen Bühnen zu sehen ist.
Strawinskys Landsmann Dmitri Schostakowitsch komponierte seine erste Sinfonie 1924/25 im Alter von 19 Jahren, seine letzte 1971, vier Jahre vor seinem Tod: Sein Schaffen umfasst eine Spanne von fünf Jahrzehnten. Der gebürtige Petersburger komponierte Hymnen auf Stalin und blieb doch in sicherer Distanz zur Diktatur – was er unter anderem in seiner 14. Sinfonie für Sopran, Bass und Orchester deutlich macht, die Dirigent Simon Rattle als eines der Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts bewertet. Aber schon in seiner vierten Sinfonie (1935/36) zertrümmerte Schostakowitsch alles, was das Publikum bis dahin gewohnt war; in seinen Sinfonien, aber auch in seiner epochalen Oper „Lady Macbeth von Mzensk” (1934) gibt es nichts Besänftigendes oder gar Tröstendes. „Seine 15 Sinfonien durchziehen das von Schrecken und Terror durchpeitschte 20. Jahrhundert wie ein apokalyptischer Soundtrack”, schrieb der Essayist Gottfried Blumenstein.
Doch so berühmt in aller Welt Schostakowitsch heute noch ist, die Öffentlichkeit hat seine Zeitgenossen aus dem wilden Deutschland der Weimarer Republik vergessen. Angesichts der Monstrosität ihrer sonstigen Verbrechen mutet es banal an, aber die Nationalsozialisten tragen auch die Verantwortung dafür, dass nach 1933 eine musikalische Linie plötzlich abbrach, von der niemand sagen kann, wie sie sich weiter entwickelt hätte: Die verheerende Kulturpolitik der Nazis zwang neben vielen anderen auch den seinerzeit außerordentlich berühmten Komponisten Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) ins Exil – einen Musiker, über den Gustav Mahler einst euphorisch ausrief „Ein Genie! Ein Genie!“. Nach seiner Emigration schloss das einstige Wunderkind ab mit Oper und Konzert, komponierte ausschließlich Filmmusik für Hollywood-Blockbuster wie beispielsweise „Die Abenteuer des Robin Hood” mit Errol Flynn in der Titelrolle (1938).
Viele andere wie Berthold Goldschmidt, Alexander Zemlinsky oder Ernst Krenek teilen mit Korngold das Schicksal der Emigration, beispielhaft soll deshalb auf Franz Schreker (1878-1934) eingegangen werden: Musikalisch-dramatisch noch in der Tradition Richard Wagners stehend – auch Schreker schrieb übrigens die Libretti zu seinen Werken selbst –, komponierte der Österreicher acht Opern. Vor allem „Die Gezeichneten” (1918) und „Der Schatzgräber” (1920) gehörten bis 1933 zum Standardrepertoire deutscher Theater, wurden in den zwanziger und dreißiger Jahren weit öfter und häufiger gespielt als die Werke von Richard Strauss – ob unter Otto Klemperer oder Hans Knappertsbusch, George Szell, Franz Schalk oder Egon Pollack –, dann aber aufgrund ihrer exzessiven Polyphonie von den Nationalsozialisten als „entartet” verboten. Erst seit den 1980er Jahren wird Schreker allmählich wieder ausgegraben, gelangte vor allem durch die wegweisenden Inszenierungen von Hans Neuenfels („Die Gezeichneten“, 1979 an der Oper Frankfurt) und Günter Krämer („Der Schatzgräber“, 1989 in Düsseldorf) zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.
Der Zweite Weltkrieg bedeutete auch in der Musikgeschichte eine Zäsur. Denn obwohl die Fachwelt die Werke der meisten Nachkriegskomponisten schätzt und verehrt, hört das Publikum sie mit Skepsis. Ihre Werke werden gespielt, weil Intendanten und Dirigenten um ihren innovativen und einzigartigen Wert wissen, nicht weil das Publikum sie innig liebt.
Vor allem aus Italien, dem Land, in dem die Oper einst erfunden wurde, gingen im Nachkriegseuropa wichtige Impulse aus – insbesondere vom Ligurier Luciano Berio (1925-2003) und dem Venezianer Luigi Nono (1924-1990): Nono, der 1955 eine Schönberg-Tochter heiratet und dem 1951 verstorbenen Schwiegervater seine 1960 uraufgeführte szenische Aktion „Intolleranza“ widmet, ist Revoluzzer und Utopist, sucht neue Wege, öffnet sich der elektronischen Musik – und lässt sich nicht festlegen: „Alle Etiketten, die man mir aufklebt, zeigen die Dürftigkeit eines schematischen Denkens“, sagte er fünf Jahre vor seinem Tod.
Einen Weg abseits bekannter Pfade sucht auch der in Gütersloh geborene und seit vielen Jahrzehnten in der Nähe von Rom in den Albaner Bergen lebende Hans Werner Henze, einer der produktivsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist von geradezu barocker Vielfalt, umfasst Opern („Boulevard Solitude”, „Die Bassariden”), Ballette, Orchesterstücke, Concertos und Filmmusiken. Zum Straßenfeger allerdings wurde keines seiner Werke – das konnte man in den vergangenen vierzig Jahren guten Gewissens nur von zwei anderen Opern behaupten: Aribert Reimanns „Lear” (1978) und Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern” (1997). Der „Lear” dürfte sogar von allen nach 1950 uraufgeführten Opern am häufigsten neuinszeniert worden sein.
Was noch zu sagen bleibt? Vielleicht eins: Auch die Musik der vergangenen hundert Jahre ist ein Spiegel ihrer Zeit. Das entfesselte 20. Jahrhundert mit all seinen finstersten Katastrophen – und in all seiner Schönheit und seinem Fortschrittsglauben – ist ebenso disparat, komplex und zerrissen wie die Werke, die in diesem Zeitraum entstehen. Zwischen Gustav Mahlers 9. Sinfonie (1909/10) und Reimanns „Lear” liegt noch nicht einmal ein Menschenleben – und trotzdem eine ganze Welt.
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