Wie viel Gehirn braucht der Geist?
Ist das Gefühl von Schmerz identisch mit der Aktivität eines Schmerzareals im Gehirn? Kann ein Hirnscan die Qualität unseres seelischen Befindens erfassen? Der Biopsychologe Christoph Herrmann betont, dass sich so etwas wie Bewusstsein erst ergibt, wenn man das System als Ganzes betrachtet.
Christoph Herrmann, geboren 1966 in Celle, studierte zunächst Elektrotechnik, promovierte dann in Informatik, habilitierte sich in Psychologie und fand über Umwege schließlich dorthin, "wo die Elektrotechnik die Humanwissenschaften unterstützt" – in die Biologische Psychologie. Seine Studien und Forschungsaufträge führten ihn nach Darmstadt, New Jersey, Mainz, Hokkaido, Leipzig und Berkeley. Er ist außerdem Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften für Psychologie und Kognitionswissenschaften sowie Gutachter für eine Reihe von renommierten Zeitschriften.
Seit 2003 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Biologische Psychologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, wo er sich vor allem mit visueller und auditorischer Wahrnehmung sowie mit Fragen des freien Willens und des Bewusstseins beschäftigt. Gemeinsam mit dem Philosophen Michael Pauen veröffentlichte er neue Interpretationen der klassischen Libet-Experimente. In deren Kontext spielt auch das Reduktionismusproblem eine große Rolle.
Herr Herrmann, allenthalben liest man, die Neurowissenschaften seien eine immer wichtiger werdende Disziplin. Was ist das überhaupt für ein Forschungsgebiet?
Die Neurowissenschaften sind kein klassisches Gebiet wie die Mathematik, sondern ein relativ junger, sehr vielfältiger Bereich, der erst in den letzten Jahren zusammengewachsen ist. Viele Disziplinen spielen eine Rolle, zum Beispiel die Neurologie, die Pharmakologie, die Biologie und auch die Psychologie.
Dabei kann man manche Untersuchungen besser außerhalb der Psychologie durchführen. Wenn ich etwa neuronale Aktivität studieren will, kann ich natürlich am Tier einzelne Zellen ableiten oder mir seine Synapsen anschauen.
Es gibt aber auch Fragestellungen, die wir nur beim Menschen beantworten können, zum Beispiel, wenn wir herausfinden wollen, ob jemand eine bewusste Wahrnehmung hat. Das kann man beim Tier immer nur indirekt erforschen, den Menschen jedoch können wir einfach fragen. Das ist der große Vorteil der Psychologie.
Sie selbst sind Professor für Biologische Psychologie. Was ist das Ziel Ihrer Disziplin?
Das Ziel ist das Gehirn und die menschliche Psyche zu verstehen. In meiner eigenen Forschung geht es vor allem darum, die Hirnfunktionen zu ergründen. Das ist allerdings ein Fernziel, das wir in einem Menschenleben wohl nicht erreichen werden.
Kann das Erleben und Verhalten, also der ureigenste Gegenstand der Psychologie, allein mit den Hirnscans der Neurowissenschaften erklärt werden? Können die Neurowissenschaften die Psychologie irgendwann gar ersetzen?
Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, es hilft beim Verstehen dieser Phänomene, eine oder mehrere Ebenen weiter nach unten zu gehen. Wenn wir einen psychologischen Begriff nehmen, wie zum Beispiel den der Aufmerksamkeit, dann hilft es, dass wir herausfinden, mit welcher Art von Hirnaktivität das psychische Phänomen einher geht. Aber ich denke nicht, dass es im Sinne des Reduktionismus funktioniert, ein psychologisches Phänomen wegzuerklären, indem ich plötzlich weiß, wie es neuronal abläuft.
Es verhält sich ähnlich wie bei einem klassischen Beispiel der Philosophie: Ich kann viel über Wasser lernen, wenn ich feststelle, dass das Molekül aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom aufgebaut ist. Dass sich Wasser nass anfühlt, kann ich auf der atomaren Ebene aber nur schlecht nachvollziehen. Und viele psychologische Phänomene sind einfach nicht mehr existent auf der Ebene der Gehirnströme oder einzelner Neurone.
Wie rechtfertigt die Biologische Psychologie ihre Schlüsse von rein materiellen Gegebenheiten auf rein geistige Vorgänge?
Das ist ja gerade der Vorteil der Psychologie. Ich kann den Probanden fragen, was er erlebt hat: Also zum Beispiel, ob er ein Objekt wahrnimmt, welches er kennt und für das er eine Gedächtnisrepräsentation hat. Würde ich das ganze in einem Tierexperiment untersuchen, könnte ich mir nur das Verhalten und die Hirnaktivität anschauen – das Tier aber kann ich nicht explizit befragen.
Könnte es nicht sein, dass Ihr Proband gar kein Bewusstsein hat – und Sie dies überhaupt nicht wissen können?
Es könnte natürlich sein, dass ich nur einen Zombie vor mir habe, der nur so tut, als würde er das alles erkennen. Aber ich kann mich ja einfach selber messen. Ich kann mich sowohl aus der Erste-Person-Perspektive betrachten als auch meine Hirnaktivität und mein Verhalten anschauen. Und dann kann ich zumindest bei mir selber sagen: Während ich dies oder jenes bewusst erlebt habe, sind bestimmte Hirnströme aufgetreten. Wenn ich das gleiche bei Ihnen mache, gehe ich davon aus, dass Sie kein Zombie sind, und übertrage das in Analogie auf Sie.
Sie gehen also davon aus, dass sich der Proband selbst über seine inneren Vorgänge nicht täuschen kann?
Ich kann mich natürlich über viele Dinge täuschen, die ich meine bewusst wahrzunehmen. Es ist ja in der Neurowissenschaft gut erforscht, dass das Bewusstsein von etwas viel später einsetzt als die ersten neuronalen Korrelate des fraglichen Phänomens. Insofern gibt es durchaus auch Täuschungen in meinem subjektiven Erleben. Darin aber, dass ich überhaupt ein subjektives Erleben habe, scheine ich mich nicht zu täuschen.
Ist es möglich, den Geist im Gehirn zu lokalisieren?
Wenn Sie mit Geist die Gesamtheit aller kognitiven Prozesse meinen, dann glaube ich, dass diese durchaus im Gehirn verortet werden können. Die neurowissenschaftlichen Ergebnisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass wenn jemand Hirnläsionen hat, tatsächlich auch kognitive Prozesse darunter leiden oder sogar komplett ausfallen. Auch können wir ziemlich gut neuronale Korrelate von den betreffenden kognitiven Prozessen lokalisieren und teilweise durch Manipulation sogar stören oder auch stimulieren.
Welchen Beitrag kann die Biologische Psychologie zum Geist-Materie-Problem leisten?
Sie kann eine Brücke schlagen zwischen den Bereichen der Neurowissenschaften, die auf einer eher tiefen Ebene operieren, bis hoch zu der Ebene, wo wir das ganze System Mensch betrachten und die geistigen Phänomene, die wir untersuchen, auch definieren. Diese Definitionen sind für die neurowissenschaftliche Untersuchung enorm wichtig. Für das Bewusstsein ist eine solche zufriedenstellende Begriffsklärung meiner Meinung nach bisher noch nicht gelungen.
Das Interview führten Joram Soch und Pierre Kurby, Studenten des BA-Studiengangs "Philosophie – Neurowissenschaften – Kognition" an der Universität Magdeburg, im Rahmen des Seminars "Medienpraxis" unter der Leitung von G&G-Chefredakteur Carsten Könneker.
Seit 2003 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Biologische Psychologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, wo er sich vor allem mit visueller und auditorischer Wahrnehmung sowie mit Fragen des freien Willens und des Bewusstseins beschäftigt. Gemeinsam mit dem Philosophen Michael Pauen veröffentlichte er neue Interpretationen der klassischen Libet-Experimente. In deren Kontext spielt auch das Reduktionismusproblem eine große Rolle.
Herr Herrmann, allenthalben liest man, die Neurowissenschaften seien eine immer wichtiger werdende Disziplin. Was ist das überhaupt für ein Forschungsgebiet?
Die Neurowissenschaften sind kein klassisches Gebiet wie die Mathematik, sondern ein relativ junger, sehr vielfältiger Bereich, der erst in den letzten Jahren zusammengewachsen ist. Viele Disziplinen spielen eine Rolle, zum Beispiel die Neurologie, die Pharmakologie, die Biologie und auch die Psychologie.
Dabei kann man manche Untersuchungen besser außerhalb der Psychologie durchführen. Wenn ich etwa neuronale Aktivität studieren will, kann ich natürlich am Tier einzelne Zellen ableiten oder mir seine Synapsen anschauen.
Es gibt aber auch Fragestellungen, die wir nur beim Menschen beantworten können, zum Beispiel, wenn wir herausfinden wollen, ob jemand eine bewusste Wahrnehmung hat. Das kann man beim Tier immer nur indirekt erforschen, den Menschen jedoch können wir einfach fragen. Das ist der große Vorteil der Psychologie.
Sie selbst sind Professor für Biologische Psychologie. Was ist das Ziel Ihrer Disziplin?
Das Ziel ist das Gehirn und die menschliche Psyche zu verstehen. In meiner eigenen Forschung geht es vor allem darum, die Hirnfunktionen zu ergründen. Das ist allerdings ein Fernziel, das wir in einem Menschenleben wohl nicht erreichen werden.
Kann das Erleben und Verhalten, also der ureigenste Gegenstand der Psychologie, allein mit den Hirnscans der Neurowissenschaften erklärt werden? Können die Neurowissenschaften die Psychologie irgendwann gar ersetzen?
Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, es hilft beim Verstehen dieser Phänomene, eine oder mehrere Ebenen weiter nach unten zu gehen. Wenn wir einen psychologischen Begriff nehmen, wie zum Beispiel den der Aufmerksamkeit, dann hilft es, dass wir herausfinden, mit welcher Art von Hirnaktivität das psychische Phänomen einher geht. Aber ich denke nicht, dass es im Sinne des Reduktionismus funktioniert, ein psychologisches Phänomen wegzuerklären, indem ich plötzlich weiß, wie es neuronal abläuft.
Es verhält sich ähnlich wie bei einem klassischen Beispiel der Philosophie: Ich kann viel über Wasser lernen, wenn ich feststelle, dass das Molekül aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom aufgebaut ist. Dass sich Wasser nass anfühlt, kann ich auf der atomaren Ebene aber nur schlecht nachvollziehen. Und viele psychologische Phänomene sind einfach nicht mehr existent auf der Ebene der Gehirnströme oder einzelner Neurone.
Wie rechtfertigt die Biologische Psychologie ihre Schlüsse von rein materiellen Gegebenheiten auf rein geistige Vorgänge?
Das ist ja gerade der Vorteil der Psychologie. Ich kann den Probanden fragen, was er erlebt hat: Also zum Beispiel, ob er ein Objekt wahrnimmt, welches er kennt und für das er eine Gedächtnisrepräsentation hat. Würde ich das ganze in einem Tierexperiment untersuchen, könnte ich mir nur das Verhalten und die Hirnaktivität anschauen – das Tier aber kann ich nicht explizit befragen.
Könnte es nicht sein, dass Ihr Proband gar kein Bewusstsein hat – und Sie dies überhaupt nicht wissen können?
Es könnte natürlich sein, dass ich nur einen Zombie vor mir habe, der nur so tut, als würde er das alles erkennen. Aber ich kann mich ja einfach selber messen. Ich kann mich sowohl aus der Erste-Person-Perspektive betrachten als auch meine Hirnaktivität und mein Verhalten anschauen. Und dann kann ich zumindest bei mir selber sagen: Während ich dies oder jenes bewusst erlebt habe, sind bestimmte Hirnströme aufgetreten. Wenn ich das gleiche bei Ihnen mache, gehe ich davon aus, dass Sie kein Zombie sind, und übertrage das in Analogie auf Sie.
Sie gehen also davon aus, dass sich der Proband selbst über seine inneren Vorgänge nicht täuschen kann?
Ich kann mich natürlich über viele Dinge täuschen, die ich meine bewusst wahrzunehmen. Es ist ja in der Neurowissenschaft gut erforscht, dass das Bewusstsein von etwas viel später einsetzt als die ersten neuronalen Korrelate des fraglichen Phänomens. Insofern gibt es durchaus auch Täuschungen in meinem subjektiven Erleben. Darin aber, dass ich überhaupt ein subjektives Erleben habe, scheine ich mich nicht zu täuschen.
Ist es möglich, den Geist im Gehirn zu lokalisieren?
Wenn Sie mit Geist die Gesamtheit aller kognitiven Prozesse meinen, dann glaube ich, dass diese durchaus im Gehirn verortet werden können. Die neurowissenschaftlichen Ergebnisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass wenn jemand Hirnläsionen hat, tatsächlich auch kognitive Prozesse darunter leiden oder sogar komplett ausfallen. Auch können wir ziemlich gut neuronale Korrelate von den betreffenden kognitiven Prozessen lokalisieren und teilweise durch Manipulation sogar stören oder auch stimulieren.
Welchen Beitrag kann die Biologische Psychologie zum Geist-Materie-Problem leisten?
Sie kann eine Brücke schlagen zwischen den Bereichen der Neurowissenschaften, die auf einer eher tiefen Ebene operieren, bis hoch zu der Ebene, wo wir das ganze System Mensch betrachten und die geistigen Phänomene, die wir untersuchen, auch definieren. Diese Definitionen sind für die neurowissenschaftliche Untersuchung enorm wichtig. Für das Bewusstsein ist eine solche zufriedenstellende Begriffsklärung meiner Meinung nach bisher noch nicht gelungen.
Das Interview führten Joram Soch und Pierre Kurby, Studenten des BA-Studiengangs "Philosophie – Neurowissenschaften – Kognition" an der Universität Magdeburg, im Rahmen des Seminars "Medienpraxis" unter der Leitung von G&G-Chefredakteur Carsten Könneker.
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