Räumliche Geometrie: Abwickelbare Flächen und das Möbiussche Dreikant
Das negative Beispiel: ein verdrillter Zwiebelturm
In den letzten beiden Folgen habe ich Ihnen allerlei räumliche Gebilde vorgestellt, die von krummen Flächen begrenzt sind. Allerdings sind die Grenzflächen dieser Körper nicht irgendwie beliebig krumm, sondern abwickelbar. Das heißt, man kann sie im Prinzip aus – unzerknittertem – Papier herstellen, was für einen Bastelfreak wie mich von zentraler Bedeutung ist. Die einfachsten Beispiel sind sehr einfach, nämlich Zylindermantel und Kegelmantel; in der vorletzten Folge habe ich Ihnen ein paar Beispiele dafür gezeigt, wie man die "starre", ebenflächig begrenzte Gestalt der klassischen Polyeder durch ein paar reizvolle Kurven auflockern kann, indem man Ausschnitte von Kegel- oder Zylindermänteln den Symmetrieregeln gehorchend in den Raum setzt.
Eine leichte Verallgemeinerung geht so: Ein Zylindermantel ist eine Schar von Geraden, die erstens jede durch einen Punkt eines Kreises gehen und zweitens sämtlich auf der Ebene dieses Kreises senkrecht stehen. Bei einem Kegelmantel geht auch durch jeden Punkt eines Kreises eine Gerade; die zweite Bedingung ist jedoch nicht, dass sie alle parallel sind, sondern alle durch einen Punkt gehen: die Spitze des Kegels. Verallgemeinerte Zylinder und Kegel sind nun solche, bei denen die definierende Kurve nicht ein Kreis, sondern eine ziemlich beliebige Kurve ist. Nur Knicke sollte die Kurve nicht haben, sonst hat der zugehörige Zylinder bzw. Kegel eine Knicklinie.
Von dieser leichten Verallgemeinerung habe ich in der letzten Folge erzählt. Die nächstschwerere Verallgemeinerung ist dann gleich richtig schwer, und es ist kaum etwas in der Literatur darüber zu finden. Anscheinend gibt es über die verallgemeinerten Zylinder- und Kegelmäntel hinaus kein populäres Beispiel für eine abwickelbare Fläche. Das in der letzten Folge erwähnte Oloid von Paul Schatz ist zwar sehr hübsch (und rollt auch ganz lustig eine schiefe Ebene hinunter), aber doch eher ein Geheimtipp.
Immerhin gibt es ein paar abstrakte allgemeine Aussagen. Jede abwickelbare Fläche besteht aus Geraden. Genauer: Jeder Punkt der Fläche gehört zu einer Geraden, die ihrerseits gänzlich in der Fläche liegt. Für die Kegel- und Zylindermäntel gehört das zur Definition, und für ein Blatt Papier ist es irgendwie einleuchtend: Man kann es nur in einer Richtung krummbiegen, in der dazu senkrechten Richtung muss es gerade bleiben, sonst würde es anfangen zu knittern. Allerdings darf die Richtung, in der es gerade bleibt, sich von Punkt zu Punkt ändern – siehe den Kegelmantel.
In der Differenzialgeometrie kann man das auch noch präziser und in Formeln ausdrücken. Es gibt eine saubere Definition für die Krümmung einer Fläche in einem Punkt, die ist verschieden je nach der Richtung, in der man die Fläche entlangpeilt, während man auf diesem Punkt steht, und bei einer abwickelbaren Fläche ist diese Krümmung in irgendeiner Richtung gleich null. In dieser Richtung verläuft die Gerade durch die Fläche.
Pragmatiker stellen sich eine Fläche immer begrenzt vor – so ein Blatt Papier ist schließlich endlich. In so einem Fall bleiben von den Geraden natürlich nur endlich lange Strecken übrig. Aber die Differenzialgeometer schätzen diese willkürlichen Grenzen nicht besonders und denken deshalb lieber in ganzen Geraden.
Leider ist aus Geraden zu bestehen nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für Abwickelbarkeit. Es gibt Flächen, die nur aus Geraden bestehen und trotzdem nicht abwickelbar sind. Prominente Beispiele sind das hyperbolische Paraboloid und das einschalige Hyperboloid. Dass sie aus Geraden bestehen, wird schon dadurch offensichtlich, dass sie durch zwei Scharen gespannter Fäden darstellbar sind. Man findet sie in dieser Form in manchen Schaukästen mathematischer Institute; es geht auch mit Wurststäbchen, wie Norbert Treitz das in einer Ausstellung vorgeführt hat und wie man es dieser englischen Anleitung entnehmen kann. Aber aus Papier kann man sie ebenso offensichtlich nicht machen.
Was ist es also, das die abwickelbaren Flächen vor denen auszeichnet, die "nur" aus Geraden bestehen? Es gibt eine differenzialgeometrische Definition dafür, sogar eine ganz merkwürdige Eigenschaft: Alle Geraden, aus denen eine abwickelbare Fläche besteht, sind Tangenten an eine einzige Kurve, die irgendwo im Raum schwebt. Das gilt allerdings nicht für Kegel- und Zylindermäntel, die in dieser Hinsicht Ausnahmen bilden. Zu einer Fläche diese Kurve zu finden und umgekehrt ist nicht einfach; jedenfalls bin ich mit meiner Suche auf diesem Weg nicht weitergekommen.
Ich wollte nämlich wissen, ob es außer den üblichen Zwiebeltürmen auch "verdrillte" geben kann. Ich hatte in der letzten Folge ja beschrieben, wie das Dach eines gewöhnlichen Zwiebelturms aus typischerweise acht Segmenten zusammengesetzt ist, deren jedes ein Stück eines verallgemeinerten Zylindermantels, also insbesondere abwickelbar ist. Kann es Zwiebetürme geben, deren abwickelbare Segmente sich auf dem Weg zur Turmspitze um die Achse des Turmes winden? Auf die Idee gebracht hat mich die Basilius-Kathedrale, vielfotografiertes Wahrzeichen der Stadt Moskau, mit ihren zahlreichen knallbunten, verspielten Türmchen, unter denen in der Tat ein paar verdrillte sind. Sind deren Dächer abwickelbar, oder musste der Designer des Modellbaubogens für die Kathedrale an dieser Stelle mogeln?
Nachdem ich an der Differenzialgeometrie vorläufig gescheitert war, besann ich mich auf eine Kunst, die ich – im Gegensatz zur Differenzialgeometrie – an der Universität ernsthaft und ausgiebig betrieben hatte: das Diskretisieren. Wo einem eine krumme Fläche zu kompliziert ist, zerlegt man sie in lauter kleine Dreiecke, so klein, dass es nicht viel ausmacht, ob das einzelne Dreieck eben oder gekrümmt ist. Mit ebenen Dreiecken lässt sich gut rechnen, zum Beispiel auf dem Computer; und wenn das Endergebnis noch zu eckig aussieht, macht man die Dreieckchen noch eine Nummer kleiner. Übrigens ist jede Oberfläche, die einem im Computerspiel oder computeranimierten Film entgegenblickt, aus solchen Dreieckchen zusammengesetzt.
Für meinen gezwirbelten Zwiebelturm geht der Trick so: Ich gebe mir zwei Kurven vor, die der linke und der rechte Rand meines verdrillten Dachsegments werden sollen. Zwei Leute laufen im Gleichschritt diese Randkurven entlang und halten zwischen sich ein Gummiseil gespannt. Dieses Gummiseil überstreicht dann die Fläche, die mich interessiert. Aus Geraden besteht sie mit Sicherheit, aber ob sie abwickelbar ist, weiß ich noch nicht.
Wenn ich mich aber mit einer Annäherung an diese Fläche begnüge, die aus ebenen Dreiecken besteht: Die ist sehr einfach aus Papier zu machen. Ich bitte einfach meine Läufer mit dem Gummiseil, jeweils nach einer Sekunde Laufen stehenzubleiben und zwischen ihren beiden Standorten anstelle des Gummiseils einen Faden zu spannen. Zwei aufeinanderfolgende Fäden ergeben zusammen mit den in dieser Sekunde durchlaufenen Kurvenstücken ein Viereck. Das ist möglicherweise windschief; aber wenn ich noch einen weiteren Faden diagonal ziehe, zerfällt das Viereck in zwei Dreiecke, und denen bleibt gar nichts anderes übrig, als eben zu sein.
Na ja, wenn die Kurvenstücke nicht krumm wären. Aber die mache ich so kurz – das heißt ich bitte meine Läufer, sehr langsam zu schleichen, sodass sie in einer Sekunde kaum vorankommen –, dass der Unterschied zwischen krumm und gerade unmerklich wird.
Das ist ja der Gedankengang, der in der Analysis überall vorkommt: Man ersetzt etwas Krummes durch etwas Gerades, macht beide so klein, dass es auf den Unterschied nicht mehr ankommt, lässt sie schließlich zu nichts zusammenschrumpfen und erhält dadurch eine Tangente an eine Kurve, den Flächeninhalt unter einer krummen Linie oder noch ganz andere Dinge. In unserem Fall mache ich die Dreieckchen immer schmäler, indem ich ihre kurze Seite immer kürzer mache (die beiden langen Seiten bleiben dabei nahzu unverändert). Aber einerlei wie schmal die Dreiecke werden, ich kann sie so, wie sie aneinanderliegen, auf ein Stück Papier zeichnen und den Papierstreifen, der sich daraus ergibt, zwischen meine beiden Randkurven einpassen. Solange die Dreiecke noch relativ groß sind, folgen ihre kurzen Seiten den Randkurven nur ungefähr; sie bilden einen Streckenzug, der die Randkurve approximiert. Aber das wird ja mit zunehmender Verfeinerung immer besser.
Auf diese Weise müsste ich doch an meine abwickelbare Fläche kommen, und das bei beliebigen Randkurven … ? Das wäre einfach zu schön gewesen, um wahr zu sein. Vor allem könnte ich auf diese Weise ein abwickelbares hyperbolisches Paraboloid konstruieren, indem ich als Randkurven zwei windschiefe Geraden verwende. Irgendwas konnte also nicht stimmen. Aber was das ist, wurde mir erst klar, als ich einen Zwirbelzwiebelturm zu bauen versuchte (Bild). Statt sich zu einer schönen glatten Fläche zu krümmen, verknittert sich das Papier! Die einzelnen Knitter werden zwar umso kleiner, je feiner die Diskretisierung wird, aber eben auch immer zahlreicher. Also konvergiert der Papierstreifen nicht gegen eine glatte Fläche.
Das positive Beispiel: das Möbius'sche Dreikant
Das war die schlechte Nachricht. (Na ja, mit etwas Mühe kann man etwas Gutes daran finden, zumindest etwas Pädagogisches: Das Scheitern lehrt einen, dass Konvergenzbeweise in der Analysis nicht die öde Pflichtübung sind, als die man sie häufig erlebt. So eine Konvergenz kann auch mal schiefgehen.) Die gute Nachricht ist: In einem anderen Fall scheint das Verfahren zu konvergieren!
Dabei sind die Fälle gar nicht so grundsätzlich verschieden. Für meinen Zwiebelturm habe ich ein Quadrat genommen und es rotieren lassen, während ich es senkrecht zu seiner Ebene in gerader Linie durch den Raum bewegte. Diesmal nehme ich ein gleichseitiges Dreieck und lasse es rotieren; aber ich bewege es nicht in gerader Linie, sondern im Kreise.
Genauer: Ich halte das Dreieck, das in einer vertikalen Ebene liegt, am ausgestreckten Arm von mir weg und drehe mich einmal um mich selbst. Derweil vollführt das Dreieck genau ein Drittel einer vollen Umdrehung. Stellen Sie sich eine Nadel durch den Mittelpunkt des Dreiecks gesteckt und an meiner Hand befestigt vor; dann dreht sich das Dreieck wie ein Windrädchen, nur sehr langsam. Nach einer vollen Umdrehung meinerseits ist das Dreieck wieder in der Ausgangsposition, nur eben um ein Drittel verdreht: Die Seite AB ist jetzt in der Position, die vorher die Seite BC eingenommen hatte.
Das heißt auch: Die Fläche, die von der Seite AB überstrichen wird, schließt nahtlos an die Fläche an, die von der Seite BC überstrichen wird, und so weiter. Am Ende haben wir ein räumliches Gebilde mit drei Kanten (das sind die Bahnen der Ecken), aber nur einer einzigen Seitenfläche. Es ist so ähnlich wie das Möbiusband, das ja auch dadurch entsteht, dass man zwei Enden einer Fläche falschrum aneinanderklebt, aber eben räumlich. Ich habe es das Möbiussche Dreikant genannt.
Mit dem derart doppelt (um sich selbst und um mich) rotierenden Dreieck habe ich dasselbe Diskretisierungsspiel unternommen. Und siehe da: Diesmal knitterte gar nichts! Ich ließ meine Läufer an den Ecken des Dreiecks sitzen und einmal pro Sekunde ihre Fäden ziehen. Je dichter das Gespinst der Fäden wurde, desto besser näherte sich die Papierfläche aus lauter aneinander grenzenden Dreiecken einer glatten Fläche an. In dem Bild finden Sie die Abwicklung. Da sie sich selbst überschneidet, habe ich sie zerlegt, vergrößert und geeignet auf dem Papier angeordnet, sodass es ein richtiger Bastelbogen wird.
Wie Sie selber durch Nachbau überprüfen können, sieht das Möbiussche Dreikant sehr schön glatt und elegant aus. Noch edler wirkt es in Bronze gegossen, wie es der Künstler Franz Lenzinger gemacht hat; siehe die unten zitierten "Mathematischen Unterhaltungen" aus Spektrum der Wissenschaft.
Wenn es also diese Schar mehr oder weniger schräger Geraden gibt, dann können die ehemaligen Dreiecksseiten in dem fertigen Gebilde nicht mehr gerade sein, denn eine abwickelbare Fläche verträgt keine zwei einander schneidenden Geradenscharen. Nur: Während des ganzen Diskretisierungsprozesses waren die Dreiecksseiten gerade; also sind sie erst "beim Grenzübergang in die krumme Form übergeschnappt". Dann kann das aber kein Grenzübergang gewesen sein, denn Überschnappen ist nun gerade das Gegenteil von Konvergenz. Dagegen konvergieren die Abwicklungen sehr wohl.
Sie sehen: Das Ergebnis ist hübsch, aber die Theorie hat noch Lücken. Noch ist unklar, in welchen Fällen diese merkwürdige Art von Konvergenz funktioniert und in welchen nicht. In Ermangelung einer guten Theorie kann man das auch zunächst am Papiermodell erproben. Vielleicht finden sich auf diesem Wege ja noch mehr elegante krumme Körper.
Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!
Herzlich Ihr
Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft
Literaturhinweise:
C. Pöppe und I. Stewart: Der Kegel mit dem Dreh. Mathematische Unterhaltungen, Spektrum der Wissenschaft 7/2000, S. 114.
G. Fischer: Mathematische Modelle / Mathematical Models. Akademie-Verlag, Berlin 1986. Tafel 9 zeigt ein schönes Fadenmodell des hyperbolischen Paraboloids. (Auch zu sehen unter http://www.polthier.info/articles/venice/onlineExps/figures/HyperbolicParaboloidFischer.html)
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben