Räumliche Geometrie: Die Rhomboeder-Bausteine des Albert Gübeli
Ein bisschen Symmetriebrechung: Mit der Säge an den gewucherten Würfel
Zu den Helden der letzten Folgen zählte das Rhombendodekaeder, jener merkwürdige Körper, der von zwölf gleichen Rauten begrenzt wird und mit dem man den Raum so schön lückenlos vollstapeln kann. In gewissem Sinne ist er ein etwas groß geratenes Kind des Würfels: Wenn man den Raum schachbrettmäßig mit weißen und schwarzen Würfeln füllt und die weißen sich auf Kosten der schwarzen ausbreiten lässt, werden es Rhombendodekaeder. Als gutes Kind hat das Rhombendodekaeder vom Würfel einige wesentliche Eigenschaften geerbt, darunter die Symmetrien: Jede Drehung oder Spiegelung, die den Würfel in sich selbst überführt, lässt auch das Rhombendodekaeder unverändert.
Symmetrien sind schön, edel – und manchmal ein bisschen langweilig. Oder anders ausgedrückt: In die so perfekt geordnete Raumfüllung durch Rhombendodekaeder komt etwas neues Leben, wenn man die Symmetrie etwas bricht. Dazu eignet sich der mickrige – korrekt ausgedrückt: symmetrieärmere – kleine Bruder des Würfels: das Tetraeder. Man teile die Ecken des Würfels in zwei Gruppen (die "roten" und die "blauen") derart, dass jede Würfelkante Mitglieder verschiedener Gruppen verbindet. Das geht, und zwar auf genau eine Weise. Die vier Ecken jeder Gruppe bilden ein Tetraeder, und beide Tetraeder zusammen bilden Keplers "Stella octangula", den Durchdringungskörper zweier dualer Tetraeder, den man in Folge 2 dieser Spezial-Serie bewundern kann.
Zersägen wir also das Rhombendodekaeder tetraedermäßig. (Sie erinnern sich: Mit dem Oktaederstumpf hatten wir dieses Vergnügen in der letzten Folge, und es kamen ganz interessante Schoenfliese dabei heraus.) Und das geht so: Die Ecken des Würfels sind ja auch Ecken des Rhombendodekaeders, und zwar die stumpfen Ecken, sprich da, wo sich je drei Rauten mit ihren stumpfen Winkeln treffen. Wir greifen uns jeweils eine rote Würfelecke samt den drei daran hängenden Rauten heraus und ergänzen diese Dreiergebilde durch drei weitere Rauten, die jede parallel zu einer bereits vorhandenen Raute liegen. Oder anders ausgedrückt: Wir führen ebene Schnitte durch das Rhombendodekaeder, die parallel zu den drei genannten Außenflächen verlaufen und bis zum Mittelpunkt des Rhombendodekaeders reichen. Dadurch zerfällt das Rhombendodekaeder in vier gleiche Einzelteile, eines für jeden roten Eckpunkt. Und diese sind wieder höchst regelmäßig: Jedes ist von sechs gleichen Rauten begrenzt, insbesondere sind alle Kanten gleich lang. Deswegen hat das Ding den feierlichen Namen Rhomboeder. Man kann es sich durch eine dreifache Scherung aus einem Würfel entstanden denken. Scherung heißt: Man hält eine Fläche des Gebildes fest und verschiebt die dazu parallele Fläche in ihrer Ebene. Der Rest vom Körper geht dabei mit wie eine zähe, klebrige Masse. Das macht man für jedes der drei Paare paralleler Seitenflächen (die bei jedem Schritt der Prozedur parallel bleiben), und fertig ist das Rhomboeder.
Vor dem Zersägen haben die Rhombendodekaeder den Raum lückenlos ausgefüllt, dann gilt das nach dem Zersägen natürlich auch für die Rhomboeder. Man könnte sie auch standardmäßig einfach parallel stapeln oder einen ganzen Würfelstapel nach obigem Verfahren dreifach verscheren, was auf dasselbe hinausläuft, außer dass man sich in Gedanken ziemlich klebrige Finger holt; aber dafür haben wir ja gerade die Symmetrie gebrochen, dass es nicht so langweilig wird.
Die zweite Symmetriebrechung
Und jetzt kommt eine geniale Idee, die ich von dem Ingenieur Albert Gübeli aus Rapperswil (Schweiz) gelernt habe: Wir setzen noch einmal die Säge an und halbieren jedes Rhomboeder entlang der Mittelebene zwischen zwei parallelen Seitenflächen. Dadurch entstehen jeweils zwei Scheibchen. Deren Boden- und Deckelfläche sind Rauten und die vier Seitenflächen halbe Rauten: Parallelogramme, deren kurze Seiten halb so lang sind wie die langen. Auf dem Bastelbogen finden Sie Ausschneidebögen für zwei Rhomboeder und zwei Scheibchen. Kleben Sie zuerst jedes Teil mit sich selbst zusammen, sodass eine spitze Ecke entsteht, und dann jedes Teil nicht mit seinem Ebenbild, sondern mit seinem Spiegelbild, damit jeweils eine Kleblasche unter eine freie Kante gerät.
Das Schöne ist: Das Rhomboeder hat drei Paare paralleler Seitenflächen und bietet dementsprechend drei verschiedene Möglichkeiten, die Säge anzusetzen. Für jedes der vier Rhomboeder, die im Rhombendodekaeder stecken, hat man diese Auswahl aufs Neue. So ergibt sich eine große Anzahl von Möglichkeiten, ein Rhombendodekaeder aus acht Scheibchen zusammenzusetzen.
Man klebe nun zwei solcher Scheibchen zu einem Bauklotz zusammen. Nicht gerade so, wie man sie eben erst auseinandergesägt hat, sondern sonst auf irgendeine Weise – vorausgesetzt, die beiden Scheibchen haben überhaupt eine gemeinsame Grenzfläche, an der man sie zusammenkleben kann. Es stellt sich heraus: Es gibt zwölf wesentlich verschiedene Arten, das zu tun. Die Bauklötze sind alle irgendwie schräg, manchmal etwas sonderbar geformt und ergeben zusammen ein absolut abgefahrenes Baukastenspiel!
Albert Gübeli hat jeden dieser zwölf Bauklötze in zahlreichen Exemplaren aus Balsaholz gefertigt und mit seiner spezifischen Farbe versehen. Was kann man damit anstellen?
Eine besondere Art von Bauklötzen
Die erste Erfahrung ist: Ein Bauklotz ohne rechte Winkel stellt das räumliche Vorstellungsvermögen vor die größten Herausforderungen! Wahrscheinlich liegt das daran, dass mir damals im Laufstall derlei Dinge, an denen ich meine Vorstellungskraft hätte schärfen können, nicht zur Verfügung standen, und ich schätze, es ging Ihnen nicht besser. Unmittelbare Folge ist, dass mir die computeranimierten Bilder, die Sie sich auf dieser Website anschauen können, alle ziemlich falsch vorkommen. Ich bin inzwischen sicher, dass sie richtig gerechnet sind. Aber meine Augen trauen der Sache nicht, vor allem, weil kein Schatten oder sonstiges Zubehör ihnen beim Analysieren des Bildes behilflich ist, und sehen lieber verkürzte rechtwinklige Scheiben statt der richtigen schiefen.
Zweitens: Auch mit den leibhaftigen Bauklötzen umzugehen ist eine neue Erfahrung, faszinierend wegen der vielen Überraschungen und äußerst vertrackt. Rein vom Volumen her ergeben vier Klötze ein Rhombendodekaeder. Aus dem kompletten Sortiment, geeignet aufgeteilt, müsste man also drei separate Rhombendodekaeder zusammenbauen können. Das funktioniert nicht; denn wenn man die Rauten zusammenzählt, die bei den verschiedenen Bauklötzen allenfalls als Außenflächen dienen könnten (halbe Rauten halb gezählt), kommt man auf 34; es müssten aber 36 sein. Immerhin kann man aus dem gesamten Sortiment einen Knubbel aus drei unmittelbar aneinanderliegenden Rhombendodekaedern machen (es sind ja Raumfüller!). Einige Klötze gehören dabei zu zwei Rhombendodekaedern zugleich.
Ich gebe zu: Ich habe mich zwei Stunden vergeblich an dem Knubbel versucht, dann doch in die Anleitung geschaut und dann immer noch eine Stunde gebraucht. Das Spielzeug existiert zwar wie alles, was uns umgibt, im dreidimensionalen Raum, aber es ist doch irgendwie vierdimensional: Es kommen nämlich vier verschiedene Raumrichtungen vor, wie das beim Tetraeder so üblich ist, und das ist für unser Vorstellungsvermögen anscheinend eine zu viel.
Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, aus vier Klötzchen ein Rhombendodekaeder zusammenzusetzen, vor allem, wenn man mehrere Exemplare ein und desselben Klotzes verwenden darf. Gübeli ist auf 63 Kombinationen gekommen. Ich bin von seiner Gründlichkeit so überzeugt (und so faul), dass ich nicht versucht habe, Kombinationen zu finden, die er vielleicht übersehen hat. Allerdings ist es mir in Einzelfällen gelungen, dieselben vier Klötze auf wesentlich andere Weise zusammenzusetzen als er.
Gübeli hat seine 63 Möglichkeiten übersichtlich auf einem Präsentierteller der Größe 7 mal 9 angeordnet. Dieser Teller ist für sich schon ein Kunstwerk, weil er aus lauter Vertiefungen besteht, die jede ein Rhombendodekaeder mit einer spitzen Ecke zuunterst aufnehmen.
Auf einer ebenen Unterlage fallen die mühsam zusammengesetzten Dinger meistens auseinander und die Dreifachknubbel erst recht.
Es gibt sechs verschiedene Kombinationen von zwei Klötzen, die zusammen zwei aneinanderhängende Rhomboeder ergeben. Je zwei dieser Paare kann man zu einem Rhombendodekaeder zusammensetzen, das macht zusammen 15 besonders regelmäßige unter den 63 Kombinationen.
Andererseits gibt es sieben besonders unregelmäßige. Bei ihnen sitzt ein Klotz völlig verborgen im Inneren, während ihn die drei übrigen umschließen wie einen Apfel im Schlafrock. Jeder Versuch, das Rhombendodekaeder wie oben beschrieben in vier Rhomboeder zu zerlegen, zerschneidet unweigerlich mindestens einen der Klötze so, wie er ursprünglich nicht zusammengeklebt war.
Die Klötze 1 und 2 (in Gübelis Nummerierung) sind spiegelsymmetrisch. Ansonsten kommen die Klötze in spiegelbildlichen Paaren vor: 3 und 4, 5 und 6, 7 und 8, 9 und 10, 11 und 12. Entsprechend müsste sich zu jeder der 63 Kombinationen ihr Spiegelbild finden – wenn sie nicht schon selbst symmetrisch ist.
Im vollständigen Rhombendodekaeder gibt es äußere Scheibchen (solche, von denen eine ganze Rautenfläche außen sichtbar ist) und innere. Manche Klötze sind so gebaut, dass eines ihrer Scheibchen nur außen oder nur innen sitzen kann. So sind die beiden Bestandteile von Nummer 1 unweigerlich innere Scheibchen. Dagegen können die beiden Scheibchen der Nummer 2 sowohl außen als auch innen sitzen. In der Tat kann man ein Rhombendodekaeder aus vier Klötzen Nummer 2 bilden.
Weiter bin ich mit der Analyse noch nicht gekommen. Ich bin sicher, es gibt an den Klötzen noch mehr interessante Strukturen zu entdecken. Dreidimensionale Tangram-Aufgaben sind denkbar, die vielleicht ebenso schwer auszudenken wie zu lösen sind, und vielleicht noch viel mehr, wofür meine Fantasie nicht ausreicht.
Kann man die Klötze kaufen? Bis jetzt nicht, leider. Es ist mir nicht gelungen, sie in kleiner Auflage zu einem akzeptablen Preis fertigen zu lassen, und für die Massenproduktion fehlen die Verkaufsaussichten. Noch wissen wir ja gar nicht, was man mit diesem Spiel alles anfangen könnte.
Wenn Ihnen also noch weitere Spiel-, Produktions- oder Vermarktungsmöglichkeiten einfallen: Nehmen Sie mit uns Kontakt auf! Vielleicht hat Albert Gübeli ja das Trendspiel des 201. Jahrzehnts erfunden, und wir wissen es alle bloß noch nicht.
Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!
Herzlich Ihr
Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft
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