Räumliche Geometrie: Durchdringungskörper
Familienbeziehungen
Eigentlich hatte ich diese Serie angefangen mit dem Vorsatz, Ihnen vorrangig die Polyeder zu zeigen, die man nicht überall findet: die ausgefallenen, schrägen, leicht verrückten und so weiter. Es hat sich dann herausgestellt, dass ich Ihnen die "Standard-Polyeder" (platonische, archimedische, deren Varianten ...) doch besser nicht vorenthalte. Wenn man die gewöhnlichen nicht kennt, versteht man die außergewöhnlichen nicht so richtig. Deswegen habe ich in den letzten Folgen über die geläufigeren Polyeder geschrieben, und diesmal gibt es zu dem Thema den krönenden Abschluss in Gestalt der Durchdringungskörper.
Nehmen wir den Urvater der fünfzähligen Familie, das Dodekaeder. Es ist, wie alle platonischen Körper, zweizählig symmetrisch: Eine Halbdrehung um die Achse, die durch einen Kantenmittelpunkt und den Mittelpunkt des Körpers geht, führt den Körper in sich selbst über. Aber vierzählig ist er nicht.
Oder eben irgendwie doch. Nehmen Sie die Kante, um die Sie gerade eben noch das ganze Dodekaeder gedreht haben, und die vier Eckpunkte, die mit den Endpunkten dieser Kante verbunden sind. Siehe da, sie fügen sich zu einem Quadrat (siehe nebenstehendes Bild)!
Ist das wirklich ein Quadrat? Ja. Seine vier Seiten sind gleich lang, denn jede von ihnen ist Diagonale eines der zwölf gleichen Fünfecke, aus denen das Dodekaeder besteht. Je zwei einander gegenüberliegende Winkel sind gleich, wegen der genannten zweizähligen Symmetrie. Also ist das grüne Viereck schon mal ein Parallelogramm. Aber benachbarte Winkel sind auch gleich, denn das Dodekaeder ist auch spiegelsymmetrisch. Deshalb muss es ein Quadrat sein.
Jetzt kommt das Lieblingsargument der platonischen Körper: Was auf einer Fläche (Kante, Ecke) geht, funktioniert auf allen anderen genauso. In das Dodekaeder passt nicht nur das eine Quadrat, das wir soeben konstruiert haben, sondern auch fünf weitere Quadrate, sodass sich insgesamt ein Würfel ergibt. Jede der zwölf Würfelkanten ist Diagonale einer der zwölf Dodekaederflächen. So tritt eine verborgene Verwandtschaft zwischen Würfel und Dodekaeder zutage.
Im Dodekaeder steckt ein Würfel, oder andersherum ausgedrückt: Mit dem Käsemesser kann man entlang der Quadratflächen sechs "Dächer" vom Dodekaeder abschneiden und behält einen Würfel übrig. Dabei besteht ein "Dach" aus zwei großen, nicht sehr steil stehenden Fünfecksstücken (sagen wir "Dachflächen") und zwei kleinen, dreieckigen, ziemlich steil stehenden Fünfecksstücken (sagen wir "Giebel"). Nichts hindert uns, ein solches Dach abzunehmen und verkehrt, sprich um 90 Grad gedreht, wieder aufzusetzen. Wenn man das mit allen sechs Dächern macht, kommt wieder ein (gedrehtes) Dodekaeder heraus. Aus ein und demselben Würfel kann man also zwei verschiedene Dodekaeder machen. Das zweite Bild zeigt beide ineinandergeschachtelt.
Es kommt noch schöner. Nehmen Sie das Dodekaeder, schneiden Sie ein Dach ab, aber nicht ganz, sondern so, dass es mit einer einzigen Quadratkante noch am Rest-Dodekaeder hängt, und klappen Sie es um diese Kante um 180 Grad, bis es auf dem Restkörper aufliegt. Wenn man es jetzt geschickt anstellt, kann man sämtliche Dächer so abschneiden, dass jedes noch entlang genau einer Kante an einem Nachbardach hängt, und so zusammenklappen, dass die Flächen, die beim Dodekaeder nach außen zeigten, jetzt nach innen ragen. Übrig bleibt erstens der Würfel im Inneren des Dodekaeders, zweitens die umgeklappten Dächer. Und die bilden, von außen gesehen, ebenfalls einen Würfel, nämlich sechs Quadrate in der richtigen Anordnung! Im Inneren der Dächer bleibt ein merkwürdiger Hohlraum. Er hat die Form eines sechsspitzigen Sterns, aber weniger Symmetrien als der Würfel. Na ja, so ganz konfliktfrei kann die Familienzusammenführung ja nicht abgehen.
Die sechs aneinanderhängenden Dächer ergeben also einen ganz merkwürdigen Klappmechanismus: Sorum ergeben sie ein Dodekaeder (mit würfelförmigem Hohlraum im Inneren) und andersrum einen Würfel (mit sternförmigem Hohlraum)! Im Spektrum der Wissenschaft vom Februar 1991 habe ich diese Figur ausführlicher beschrieben.
Kann man mit Hilfe der Dualität aus der Beziehung zwischen Würfel und Dodekaeder Neues herleiten? Im Prinzip ja; allerdings wird es nicht so schön. Aus dem Dodekaeder würde ein Ikosaeder, aus dem Würfel ein Oktaeder und aus der Übereinstimmung der Ecken die "Übereinstimmung" der zugehörigen Flächen, was immer das heißen mag. Aber man kann das Ikosaeder auf ganz interessante Weise in den Würfel einbeschreiben (Bild rechts). Sechs von dreißig Kanten des Ikosaeders (davon drei im Bild sichtbar) liegen in den Flächen des Würfels, und zwar verlaufen sie genau entlang einer Mittellinie der jeweiligen Würfelfläche. Zwei Kanten, die in gegenüberliegenden Würfelflächen liegen, lassen sich zu einem Rechteck ergänzen. Dessen Seitenverhältnis ist gleich dem Goldenen Schnitt, und mit sechs Stangen entlang der langen Rechteckseiten lässt sich ein hübsches "Tensegrity"-Ikosaeder bauen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Fünf Körper an einem Platz
Kehren wir zurück zum Dodekaeder! Es hat zwanzig Ecken. Durch unsere Konstruktion mit den Quadraten haben wir von ihnen acht ausgedeutet, die zugleich Ecken eines Würfels sind. Was ist mit den anderen zwölf?
Wieder kommt das Lieblingsargument der platonischen Körper ins Spiel: Alle Ecken sind gleich. Also können wir von den verbleibenden zwölf Ecken wieder acht finden, die zusammen einen Würfel ergeben, dann bleiben vier übrig, von denen finden wir wieder acht – so ein Unsinn. Das kann ja wohl nicht stimmen.
Stimmt ja auch nicht. Die ersten acht Ecken, die zusammen einen Würfel ergeben, sind damit noch nicht aus dem Spiel. Das sieht man, wenn man sich eine (beliebige) Ecke des Dodekaeders auskuckt und mit dieser Ecke einen Würfel bauen will. Die erste Würfelkante, die von dieser Ecke ausgeht, ist Diagonale einer Fünfecks-Seitenfläche. Und dafür stehen zwei zur Auswahl! Hat man einmal diese Wahl getroffen, so ist dadurch der ganze Würfel festgelegt. Also: Jede Ecke des Dodekaeders ist doppelt zu zählen, weil sie zu genau zwei Würfeln gehört. Das macht zusammen 40 Ecken, die sich wunderbar auf fünf Würfel zu je acht Ecken verteilen. (Eine andere Stückzahl als 5 ist bei einem Mitglied der fünfzähligen Familie ja auch kaum zu erwarten.)
Das Ergebnis ist äußerst ansehnlich, eines der schönsten Polyeder, die ich kenne! Verfolgen Sie jede teilweis verdeckte Würfelkante anhand ihrer Farbe, erfreuen Sie sich an den Pentagrammen (Fünfsternen), die sich auf jeder Fünfecksfläche ergeben, und überhaupt an den vielen Symmetrien des Prachtstücks. Der Körper ist denn auch mannigfach im Internet zu finden. Auf der "MathWorld" des Eric Weisstein, die von der "Mathematica"-Firma Wolfram unterhalten wird, prangt er als Bestandteil des Logos. Der hier abgebildete Würfelfünfling ist ein Eigenbau aus Karton.
Damit ist eine ansehnliche Verbindung zwischen den beiden Familien der Vierzähligen und der Fünfzähligen geschaffen. Und jetzt gibt es kein Halten mehr. Wir wissen ja schon: Vier der acht Ecken eines Würfels (von denen keine zwei direkt durch eine Kante verbunden sind) bilden ein Tetraeder (vergleiche Folge 2), und die anderen vier auch. Die beiden Tetraeder stecken ineinander und bilden zusammen eine Stella octangula. Prima – also ersetzen wir in dem Würfelfünfling jeden Würfel durch zwei Tetraeder mit denselben Ecken und erhalten einen Durchdringungskörper aus zehn Tetraedern, deren Ecken in den Eckpunkten des Dodekaeders liegen.
Eigentlich eine gute Idee. Nur die Realisierung ist leider nicht besonders ansehnlich. Die Tetraeder decken sich gegenseitig dermaßen zu, dass von ihnen kaum noch etwas zu sehen ist. Die Kunst besteht darin, jedes zweite Tetraeder wegzulassen, und zwar so, dass in jeder Dodekaederecke nur noch eine Tetraederecke sitzt statt vorher zwei. Damit erhält man einen recht hübsch anzusehenden Tetraederfünfling.
Der hat noch eine bemerkenswerte Eigenschaft: Er ist nicht spiegelsymmetrisch, obgleich jedes der Tetraeder, aus denen er besteht, diese Eigenschaft hat. Die fünf weggelassenen Tetraeder ergeben übrigens zusammen gerade das Spiegelbild des Tetraederfünflings.
Denken wir uns den Tetraederfünfling zur Abwechslung farblos, sodass nicht die fünf großen Tetraeder einem zuerst ins Auge springen, sondern zwanzig kleine, von denen man jeweils nur eine Spitze sieht: Dreikanthütchen mit einem merkwürdig gezackten unteren Rand. Sie gruppieren sich jeweils zu fünft um ein "Loch", sprich eine tief einspringende Ecke des Gesamtkörpers. Und siehe da: Man kann wahrhaftig in der Mitte zwischen fünf Dreikanthütchen ein fünfeckiges Loch schneiden. Dann stellt sich heraus, dass an diese Fünfecke Quadrate passen und zwischen die Quadrate gleichseitige Dreiecke, und zwar so, dass jedes Hütchen genau über einem Dreieck schwebt und zwei benachbarte Hütchen sich genau entlang der Diagonalen eines Quadrates treffen. Im Tetraederfünfling steckt also einer der archimedischen Körper, das Rhomben-Ikosidodekaeder!
Ich habe diesen durchbrochenen Tetraederfünfling in der Polyedersammlung des verstorbenen Professors D. Frasch an der Universität Stuttgart entdeckt, war begeistert und habe ihn alsbald nachgebaut. Warum passen die beiden Körper so perfekt ineinander? Eine großartige Theorie ist mir dazu nicht eingefallen. Beide sind Mitglieder der fünfzähligen Familie (obgleich: Der Tetraederfünfling ist mangels Spiegelsymmetrie nur ein Bastard, wie das schiefe Dodekaeder), und die passen alle irgendwie gut zusammen.
Denken wir noch einmal an die fünf Würfel, in denen jeweils eine Stella octangula aus zwei Tetraedern steckt. Nehmen wir diesmal nicht die kompletten Tetraeder, sondern deren (mengentheoretischen) Durchschnitt, also den Teil, der beiden gemeinsam ist. Es handelt sich um ein Oktaeder. Wenn wir diese Prozedur für jeden der fünf Würfel durchführen, erhalten wir einen Durchdringungskörper aus fünf Oktaedern. Dessen Ecken liegen natürlich nicht mehr in den Ecken des Dodekaeders. Nach einigem Nachdenken kommt man darauf, dass sie auf den Kantenmittelpunkten eines (verkleinerten) Dodekaeders liegen. Das kann auch kaum anders sein, denn fünf Oktaeder haben zusammen 30 Ecken, und die müssen ja auf irgendetwas liegen, wovon das Dodekaeder 30 Stück hat. Das sind die Kanten.
Wenn Sie einen dieser wirklich sehr ansehnlichen Körper als fünffarbiges Kartonmodell selber bauen wollen: Ich biete ausgearbeitete und mit Anleitung versehene Bastelbögen feil, zu diesen Körpern und ungefähr dreißig anderen. Einzelheiten finden Sie auf meiner Website.
Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!
Herzlich Ihr
Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft
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