Räumliche Geometrie: Ein Klötzchenspiel der etwas anderen Art - Raumfüllung mit Tetraedern und Oktaedern
Tetraeder-Oktaeder-Packungen und das Sierpinski-Tetraeder
Auf den ersten Blick schien es eine hübsche, ziemlich einfache Klausuraufgabe zu sein: "Auf eine Seitenfläche eines regelmäßigen Oktaeders wird mit einer ganzen Seitenfläche ein regelmäßiges Tetraeder gleicher Kantenlänge aufgesetzt. Wie viele Ecken, Kanten und Flächen hat der entstehende Körper?"
Na ja, die Achtklässler hatten gerade die fünf platonischen Körper gehabt und brav für jeden von ihnen die Anzahl der Ecken, Kanten und Flächen auswendig gelernt. Aber als guter Lehrer fragt man ja nicht einfach das gespeicherte Wissen ab, sondern fordert zusätzlich noch etwas Vorstellungsvermögen. Also sollten die Kinder nicht nur die Flächen-(usw.)Zahlen zusammenzählen, sondern auch sich überlegen, dass zwei von den Flächen gänzlich wegfallen, weil sie im Inneren des zusammengesetzten Körpers verschwinden, aber von zwei Kanten, die zusammenfallen, immerhin eine übrigbleibt, ebenso für die Ecken. Alles ausrechnen, sauber hinschreiben …
Das haben die Kinder dann auch so gemacht wie vorgesehen – und das war falsch. Wenn man genau hinschaut, stellt sich nämlich heraus: Zwei Flächen, die durch das Zusammensetzen zu Nachbarn werden, das heißt eine Kante gemeinsam haben, liegen in einer Ebene. Also kann man diese Kante auch weglassen, und es sind insgesamt drei Flächen und drei Kanten weniger. Wenn der Mensch, der mir die Geschichte erzählt hat, sich recht erinnert, gehörte die Aufgabe zu einem Test, der allen Achtklässlern in den USA routinemäßig verpasst wird; von den Aufgabenstellern hat das vorher keiner gemerkt, und von den Schülern ein einziger. Das war natürlich megapeinlich.
Wie sieht man denn, dass die beiden (nach Eckenzahl) kleinsten platonischen Körper so schön aneinander passen? Man könnte eine Tabelle mit den Winkeln zwischen benachbarten Flächen zur Hand haben; in jedem platonischen Körper ist dieser Flächenwinkel für jedes Paar benachbarter Flächen derselbe, wegen der großen Regelmäßigkeit. Aus der Tabelle geht hervor, dass die Flächenwinkel des Tetraeders und des Oktaeders sich zu 180 Grad ergänzen. Alles korrekt, aber nicht besonders erhellend.
Stellen Sie sich lieber ein Oktaeder vor, so wie es üblicherweise gezeichnet wird: auf einer Ecke stehend, die gegenüberliegende Ecke ganz oben und die restlichen vier Ecken in einer horizontalen Ebene genau in der Mitte. Wenn man den ganzen Körper in dieser Ebene durchschneidet, erhält man eine Pyramide mit quadratischer Grundfläche, wie die klassischen ägyptischen Pyramiden, plus dasselbe auf dem Kopf stehend. Nehmen wir viele solcher Pyramiden und stellen sie dicht an dicht auf die Ebene, wie eine gigantische, regelmäßig angepflanzte Baumschule. Es steht gewissermaßen auf jedem Feld eines Schachbretts eine solche Pyramide; und unter diesem Feld steckt unsichtbar in der Erde kopfunter eine weitere Pyramide, die zusammen mit ihrer sichtbaren Kollegin ein Oktaeder bildet.
Jede Pyramidenspitze steht genau über der Mitte ihres Feldes. Von einer Pyramidenspitze zur nächsten ist es genau so weit wie am Boden von einer Pyramidenecke zur nächsten: Schließlich kommt man von einer Pyramide zur Nachbarin durch Verschiebung mit einem Vektor, der so lang ist wie eine Oktaederkante. Spannen Sie in Gedanken ein Seil von einer Pyramidenspitze zu einer benachbarten. Der Seiltänzer, der auf diesem Seil von Spitze zu Spitze läuft, sieht genau auf halbem Wege unter sich auf dem Boden, quer zum Seil, die gemeinsame Kante beider Pyramiden verlaufen. Diese Bodenkante, das Seil und die vier schrägen Pyramidenkanten, die beide verbinden: Das sind zusammen sechs Kanten gleicher Länge, sie begrenzen vier gleichseitige Dreiecke, und genau das ist ein regelmäßiges Tetraeder!
Offensichtlich schließt dieses Tetraeder perfekt die Lücke zwischen den zwei Oktaedern. Mehr noch: Die Ihnen zugewandten Seitenflächen beider Oktaeder liegen ohnehin in einer Ebene; denn das eine ist aus dem anderen durch eine Parallelverschiebung mit einem Vektor hervorgegangen, der ebenfalls in dieser Ebene liegt. Also bleibt der Ihnen zugewandten Tetraederfläche nichts anderes übrig, als in derselben Ebene zu liegen, was zu beweisen war.
Die soeben beschriebene Konstruktion funktioniert natürlich genau so für beliebige Paare benachbarter Oktaeder. In unserer Baumschule stopfen wir also sämtliche Lücken zwischen Pyramiden mit Tetraedern, sodass keine Pyramiden-Seitenfläche unbedeckt bleibt. Mit den anderen Hälften der Oktaeder, den kopfstehenden Pyramiden unter der Erde, spielt sich spiegelbildlich dasselbe ab.
Damit sind die (ober- wie unterirdischen) Pyramiden gänzlich verdeckt; aber es ist nicht so, als ob sie alle bis zur Spitze mit Sand zugeschüttet wären. Schauen wir uns von oben vier Pyramiden an, deren Spitzen ein Quadrat bilden. Wir sehen die Oberkanten der sie verbindenden Tetraeder (die "Drahtseile"), und von jeder dieser Kanten ein gleichseitiges Dreieck mit der Spitze nach unten; alle vier Spitzen treffen sich in einem Punkt. Siehe da: Das ist die untere Hälfte eines Oktaeders! Also lassen sich mit einem Oktaeder alle vier benachbarten Tetraederflächen zudecken. Auf dieselbe Weise stecken wir ein Oktaeder in jeden der vielen Vierkantkrater, die die Tetraeder beim Lückenstopfen noch offen gelassen haben.
Das ist ein allgemeines Prinzip bei platonischen Körpern: Was man sich für eine Ecke (Kante, Fläche) überlegt hat, funktioniert haargenau so für jede andere Ecke (Kante, Fläche), denn bei einem platonischen Körper sind alle Ecken (Kanten, Flächen) gleich.
Jedenfalls haben wir auf diesem Weg auf die vorhandene Baumschule eine zweite gepflanzt, und zwar "auf Lücke": Die quadratische Grundfläche jeder neuen Pyramide hat als Mittelpunkt den Treffpunkt von vier Grundflächen der alten Pyramiden. Alte und neue Oktaeder berühren sich entlang von Kanten, aber nicht von Flächen: Da sind die Tetraeder dazwischen.
Jetzt kann man sich denken, wie's weitergeht: Wir stopfen die Lücken der neuen Baumschule mit Tetraedern, stecken Oktaeder in die verbleibenden Löcher und haben eine neue Baumschule gepflanzt, diesmal zwei Stockwerke höher. Auf diese Weise kann man den ganzen Raum lückenlos mit Tetraedern und Oktaedern füllen derart, dass an jeder Oktaederfläche eine Tetraederfläche anliegt und umgekehrt. Dieses Prinzip – an jede Fläche einen Körper der anderen Sorte anlegen – genügt bereits, um diese Raumfüllung zu definieren.
So eine schöne Konstruktion ist natürlich anderen Leuten auch schon aufgefallen. Messestände und Hallendächer werden auf diese Weise gebaut. Man braucht nur Stangen einheitlicher Länge (die Kanten der Raumfüllung) und Klötze, in die jeweils zwölf Stangen unter den richtigen Winkeln eingeschraubt werden. Die ganze Konstruktion ist sehr stabil, weil sie aus lauter Dreiecken besteht und ein Dreieck bereits durch die Längen seiner Seiten eindeutig bestimmt ist; da haben die Winkel keine Chance mehr zu wackeln.
Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!
Herzlich Ihr
Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft
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