Räumliche Geometrie: Krumme Körper
Zwölf Kegel und dreißig Zylinder
In den letzten Folgen habe ich Ihnen ziemlich viel von der buchhalterischen Seite der Mathematik erzählt: Gegeben gewisse Bedingungen, welche Gegenstände gibt es, die diese Bedingungen erfüllen, und wie kann man sie in Schubladen packen, sprich klassifizieren? Das ist alles wichtig, und man will ja auch seine Ordnung in der unübersichtlichen Vielfalt dieser Gebilde haben.
Aber vor dem Buchhalter kommt der Spieler. Der findet durch wildes Herumprobieren zunächst diese oder jene interessanten Dinge, und erst wenn er genug davon beisammen hat, tritt der Buchhalter in Aktion und beweist, dass es mehr als die von dem Spieler gefundenen Gegenstände nicht geben kann – oder er findet doch noch eine Perle in irgendeiner verborgenen Ecke.
Die Spielereien, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, sind noch nicht schubladenreif – bis vielleicht auf die Zylinderschnitte von Eduard Baumann, die sich einer gewissen Vollständigkeit nähern (siehe unten). Ihnen gemeinsam ist die Frage: Was für Polyeder entstehen, wenn man von der Forderung abgeht, dass ihre Seitenflächen eben sein müssen?
Die erste Antwort ist: na ja, ziemlich beliebige. Jede Kartoffel ist ein Raumgebiet, das von einer nicht-ebenen Oberfläche begrenzt wird. Aber eine Theorie der Kartoffeln ist, zumindest vom geometrischen Standpunkt aus, wenig reizvoll.
Schränken wir die Suche ein auf nicht beliebige, sondern abwickelbare Flächen. Vom Standpunkt des Bastlers aus macht diese Einschränkung Sinn. Denn abwickelbare Flächen sind genau die, die man riss- und knitterfrei aus einem Stück Papier zurechtbiegen kann. Und es ist eine echte Einschränkung, wie jeder weiß, der eine Kartoffel in Aluminiumfolie eingewickelt hat! Eine geschlossene, knickfreie Oberfläche, die ein endliches Volumen begrenzt, kann man aus einem Stück Papier offensichtlich nicht machen. Unsere krummen Körper haben also ebenso wie ihre gewöhnlichen, ebenflächig begrenzten Kollegen mehrere Seitenflächen, die sich entlang von Kanten treffen; nur sind diese Kanten im Allgemeinen ebenfalls krumm.
Welche Arten von Flächen kommen überhaupt in Frage? Der Spieler probiert ein wenig herum und kommt auf die einfachsten abwickelbaren Flächen: Zylindermantel und Kegelmantel. Daraus kann man ohne Zweifel Polyeder herstellen. Zum Beispiel die klassische Konservendose: oben eine ebene Kreisscheibe, unten eine ebensolche, dazwischen ein Stück Zylindermantel. Oder die klassische Eiswaffel: ein Stück Kegelmantel, das man an geeigneter Stelle mit einer Kreisscheibe zudeckeln muss, damit es ein endliches Volumen vollständig einschließt.
Na schön; aber gibt es auch Interessanteres? Aber sicher! Es genügt, unsere frisch erworbenen Weisheiten über Symmetriegruppen zur Anwendung zu bringen. Eine Eiswaffel ist langweilig (vom geometrischen Standpunkt; nichts gegen das Eis …); eine Eiswaffel und ihre Bilder unter einer gewissen Symmetriegruppe – das wird schon besser. Ich habe zwölf Eiswaffeln mit den Spitzen in die Ecken eines Ikosaeders gesetzt, und zwar so, dass die Öffnungen der Kegel auf den Mittelpunkt des Ikosaeders gerichtet sind. Das ergibt schon einen ganz netten Stern: den Kegeligel.
Er hat eine gewisse Verwandtschaft zum versternten Dodekaeder, sprich zu dem Körper, der entsteht, wenn man auf jedes Fünfeck eines Dodekaeders eine Pyramide aufsetzt, und zwar diesmal eine ziemlich hohe. Wenn man die Kanten zwischen den Seitenflächen der Pyramide ein bisschen abschmirgelt …
Unter den Pyramiden gab es ja auch eine mit einer sehr speziellen Höhe, nämlich so, dass benachbarte Dreiecks-Seitenflächen in eine Ebene geraten und sich zur Raute ergänzen. Das ergibt das Rhomben-Triakontaeder (den Rauten-Dreißigflächner). Mit etwas Zylindermantel wird das gute Stück richtig chinesisch-pagodisch!
Und das geht so: Man nehme ein Dodekaeder und lege an jede seiner Kanten einen Zylinder an. Denken Sie ruhig an eine ziemlich große Konservendose, die mit der runden Seite auf der Kante aufsitzt. Oder korrekt ausgedrückt: Die Zylinderachse ist parallel zur Kante. Das lässt dem Zylinder noch die Freiheit, um die Kante zu rotieren, bis er der einen oder der anderen Dodekaederfläche anliegt; aber wir wollen ihn natürlich in der symmetrischsten Position mittendrin. Das heißt: Die Zylinderachse ist nicht nur parallel zur Dodekaederkante, sie liegt auch in der Ebene, die von dieser Kante und dem Mittelpunkt des Dodekaeders aufgespannt wird.
Die Zylinder sind übrigens so groß, dass die Zylinder zu verschiedenen Kanten sich mächtig in die Quere kommen. Das sollen sie auch. Die Zylindermäntel zu zwei benachbarten Kanten schneiden sich in einer krummen Linie (einer Ellipse, um genau zu sein), und wir behalten von jedem Zylindermantel nur das Stück übrig, das bis zur Schnittlinie geht. Da jede Dodekaederkante vier Nachbarn hat – zwei an jeder Ecke –, wird der Zylindermantel zu dieser Kante durch vier Schnittlinien zurechtgestutzt. Was von ihm übrig bleibt, sieht einer Raute ziemlich ähnlich; nur ist diese Raute pagodenförmig nach außen gebogen. Dreißig von diesen krummen Rauten ergeben einen geschlossenen Körper mit der Symmetriegruppe des Dodekaeders. Er ist ja krumm; aber er gehört eindeutig zur Familie.
Die Zylinderschnitte von Eduard Baumann
Kann man diese Konstruktionsideen irgendwie verallgemeinern? Im Prinzip schon. Man kann Eistüten auf die Flächen anderer platonischer Körper aufsetzen, oder auf die Flächen archimedischer Körper. Wenn man sich auf einen einheitlichen Öffnungswinkel festlegt, werden die Kegel zu den Dreiecken kleiner als die zu den größeren Flächen, was sicher einen besonders neckischen Igel ergäbe. Mit den Konservendosen kann man bestimmt auch noch an anderen Körpern herumspielen. An den Kanten eines Würfels angebracht, ergeben sie einen echten Zwölfzylinder! Aber ich muss zugeben, ich hatte keine Lust, diese Entwürfe weiter auszuarbeiten. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass dabei wesentlich Neues herauskommt. Aber vielleicht fehlt es mir an dieser Stelle nur an Fantasie, und Sie, verehrte Leser, konstruieren die abenteuerlichsten Krummkörper. Bitte erzählen Sie mir davon!
Einer hat es mir schon erzählt: der Physiker Eduard Baumann, der in der Nähe von Fribourg (Schweiz) wohnt und Lesern von Spektrum der Wissenschaft vielleicht noch geläufig ist. Er ist der Erfinder der Kissen maximalen Volumens: Wie faltet man ein Blatt Papier, das aus zwei aneinander hängenden Quadraten besteht, so, dass es ein maximales Volumen vollständig einschließt? Die beste bisher bekannte Lösung ist der Zipfelburger (Spektrum der Wissenschaft 6/1995, S. 10).
Baumann macht krumme Polyeder aus Stücken vom Zylindermantel. Am besten versteht man seine Konstruktionen, indem man sich einen Hobel oder eine Fräsmaschine für Besenstiele vorstellt. Man schiebt irgendein Stück Holz in die Öffnung dieser Maschine, und am anderen Ende kommt ein perfekt runder, eben zylindrischer, Besenstiel heraus. Man nehme diesen Besenstiel und schiebe ihn in einer anderen Richtung nochmals durch das Gerät, und dann in einer dritten Richtung … Das technisch zu realisieren, ohne dass einem der halbgeschliffene Holzklotz um die Ohren fliegt, ist sicher alles andere als einfach, soll uns aber hier nicht kümmern; ein Mathematiker darf über solche technischen Probleme großzügig hinwegsehen.
Was ist das Ergebnis? Wenn man den Holzklotz in zwei zueinander senkrechten Richtungen rundhobelt, ist das Ergebnis das Kreuzrippengewölbe. Na ja, nicht so richtig; eigentlich ist es die Luft unterm Kreuzrippengewölbe, plus deren Spiegelbild bezüglich des Bodens. Also was jetzt? Die einfachste Gewölbeform ist ein Tunnel mit halbkreisförmigem Querschnitt, das, was die Architekten ein Tonnengewölbe nennen. Wenn zwei solcher Tunnel gleichen Querschnitts rechtwinklig aufeinander treffen, dann gibt es ein quadratisches Stück Grundfläche, das beiden Tunneln gemeinsam ist, und die Kurven, in denen sich die Gewölbe schneiden, liegen genau über den Diagonalen dieses Quadrats. Dieses Stück, das beiden Tunneln gemeinsam ist, meine ich. Man muss natürlich noch die beiden Halbzylinder unterirdisch zu Vollzylindern ergänzen.
Aber Baumann beschränkt sich nicht auf zwei zueinander senkrechte Richtungen. Im Prinzip kann er den Klotz beliebig oft durch die Fräse schieben. Das Ergebnis wird natürlich umso interessanter, je symmetrischer die Richtungen der Zylinderachsen gewählt werden. (Obgleich: Baumann hat in seiner Kollektion auch ziemlich wilde Zylinderschnitte. Da gibt es zum Beispiel eine Nord-Süd-Achse durch eine gedachte Kugel plus sieben weitere Achsen, die die Kugeloberfläche an den Ecken eines regelmäßigen Siebenecks mit Zentrum im Nordpol durchstoßen.)
Bei der Wahl der Richtungen kann man sich an die uns wohlbekannten Familienregeln, sprich Symmetriegruppen halten (vergleiche Folge 20). So hobelt man das Holz beispielsweise in den drei Richtungen, die den vierzähligen Symmetrieachsen des Würfels/Oktaeders entsprechen; oder in den sechs Richtungen, die den fünfzähligen Symmetrieachsen des Ikosaeders/Dodekaeders entsprechen; und die zwei- und dreizähligen Symmetrieachsen gibt es ja auch noch.
Die Bilder, die ich Ihnen hier zeige, habe ich rein nach meinem persönlichen Geschmack aus Baumanns reichhaltigem Sortiment ausgewählt. Und wie es der merkwürdige Zufall so will, gehören sie alle drei zur Familie der Fünfzähligen. (Ich gebe zu, die mag ich besonders.) Man muss sich die Bilder so vorstellen, dass nach jedem Fräsgang anstelle des Messers ein Pinsel über die soeben neu geschaffene Oberfläche streicht, und zwar jedes Mal in einer neuen Farbe. So sieht man Reihen von mehr oder weniger regelmäßigen Vierecken gleicher Farbe als "Bauchbinden" über den ganzen Körper verlaufen.
Eduard Baumannn hat noch viel mehr Zylinderschnitte berechnet und grafisch dargestellt. Seine Website http://www.baumanneduard.ch/ zeigt eine reiche Auswahl.
Kann man diese Zylinderschnitte aus Karton basteln? Theoretisch schon; Baumann hat zu jedem dieser Körper umfangreiche Berechnungen von Längen und Winkeln angestellt, aus denen man sicherlich die Formen der Einzelteile herleiten könnte. In der Praxis wäre das Ergebnis wahrscheinlich unerfreulich, da es zu kugelähnlich ist und deswegen dem zufälligen Eindellen kaum Widerstand entgegensetzen würde.
Sind die Zylinderschnitte besonders kugelähnlich?
Eine kuriose Einzelheit ist Baumann aufgefallen, als er Oberfläche und Volumen seiner Körper berechnete. Man setze den Zylinderradius gleich 1. Dann ist das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen für jeden seiner Zylinderschnitte gleich 3. Wie kann das sein?
Mit etwas Nachdenken leuchtet das ein. Die Oberfläche des Zylinderschnittkörpers besteht aus lauter solchen (krummen) Vierecken, wie sie auf den Bildern zu sehen sind. Die Kanten dieser Vierecke sind zwar auch krumm, aber jede Kante liegt in einer Ebene, die durch den Mittelpunkt des Körpers geht. Denn die Schnittlinie zweier Zylinder mit gleichem Radius, deren Achsen sich schneiden, ist eine Ellipse mit Mittelpunkt im Schnittpunkt der Zylinderachsen. Wir zersägen den Körper in Gedanken entlang dieser Ebenen, sodass er in lauter kleine Pyramidchen zerfällt. Grundfläche der Pyramide ist das Oberflächenviereck, die Spitze ist der Körpermittelpunkt, das Volumen der Pyramide ist ein Drittel Grundfläche mal Höhe, die Höhe ist 1, also gilt für jede Pyramide das Verhältnis von 1 zu 3 und damit für den kompletten Zylinderschnittkörper auch.
Halt! Das war die Volumenformel für die gewöhnliche Pyramide, mit ebener Grundfläche. Wie berechnet man das Volumen eines pyramidenförmigen Zylinderstücks? Mit etwas Integralrechnung kommt man zu dem Ergebnis: genauso. Die Formel "ein Drittel Grundfläche mal Höhe" gilt auch in diesem Fall.
Das hat eine merkwürdige Konsequenz. Man nehme einen Würfel der Kantenlänge 2 und stelle fest, dass sich Oberfläche (=24) und Volumen (8) wie 3 zu 1 verhalten. Dann schiebe man ihn durch die Fräse mit Zylinderradius 1 (Achse parallel zu einer Kante) und erhalte eine Konservendose mit demselben Verhältnis! Das ändert sich auch beim zweiten und dritten Durchgang durch die Fräse (entlang dazu senkrechten Achsen) nicht, obgleich der Körper dabei eine ganze Menge an Material verliert. Das Verhältnis bleibt sogar dasselbe, wenn man das gute Stück am Ende zur Kugel (mit Radius 1) rundschleift.
Da war doch was? Die Kugel ist derjenige räumliche Körper, der bei gegebener Oberfläche das größte Volumen hat; oder bei gegebenem Volumen die kleinste Oberfläche? Stimmt beides. Also müsste doch das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen bei der Kugel minimal sein? Eben nicht! Es kommt darauf an, welche der vielen möglichen Variablen man beim Minimieren festhält. In unserem – etwas ungewöhnlichen – Fall ist es der Radius der Inkugel, also ein Wert, der bei weniger regelmäßigen Körpern kaum sinnvoll zu definieren ist. Unter diesen Umständen hat sogar das Tetraeder das Verhältnis 3 zu 1, und das ist nun wirklich nicht besonders kugelähnlich. (Allgemein ist diese Argumentation auf jedes Polyeder mit einer Inkugel anwendbar, also alle platonischen und die Duale der archimedischen). Dass das Tetraeder für seine große Oberfläche ein bisschen knapp mit Volumen ist, muss es dadurch ausgleichen, dass es wächst (ein Tetraeder mit Inkugelradius 1 ist schon ganz schön groß), denn davon profitiert das Volumen mehr als die Oberfläche.
Das bedeutet alles nicht, dass Baumanns Zylinderschnitte nicht kugelähnlich wären. Vor allem die vielgefrästen sind sehr kugelig, und man könnte aus den viereckigen Zwickeln perfekte Fußbälle nähen, wenn nicht wegen der großen Anzahl die Näherei überhand nehmen würde. Nur: Das Oberfläche-Volumen-Verhältnis beweist das nicht!
Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!
Herzlich Ihr
Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft
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