Räumliche Geometrie: Neue Raumfüller
Der Kampf um den Vorgarten
In den letzten beiden Folgen habe ich Ihnen periodische Raumfüllungen durch regelmäßige Körper vorgeführt. Die einfachste war der Würfelstapel; Oktaeder und Tetraeder im Wechsel waren schon etwas komplizierter. Dann gab es noch die Kepler'sche Kugelpackung und, damit eng verwandt, das kubisch-flächenzentrierte Kristallgitter. Alle diese Anordnungen sind mit dem biederen Würfelstapel irgendwie verwandt: Mit ein wenig – oder auch etwas mehr – Scharfsinn findet man eine Zerlegung des Raums in Würfel mit der Eigenschaft, dass in jedem Würfel das gleiche Stück der Anordnung steckt. Oder fast: Die Tetraeder-Oktaeder-Packung passt am schönsten in einen Würfelstapel, der aus weißen und schwarzen Würfeln im Wechsel besteht. In den schwarzen Würfeln steckt dann im Prinzip dasselbe wie in den weißen, bloß verdreht. Man kann nämlich ein Tetraeder sorum oder andersrum in einen Würfel einbeschreiben; die "sorummen" Tetraeder stecken in den weißen Würfeln und die "andersrummen" in den schwarzen.
Diesmal wird es noch ein bisschen komplizierter. Wir gehen von der schwarz-weißen Würfelpackung aus und brechen auf sehr rassistische Weise die Symmetrie von schwarz und weiß. Und zwar machen sich die weißen Würfel breit auf Kosten der schwarzen, bis von denen nichts mehr übrig bleibt. Jeder weiße Würfel grapscht sich von den sechs ihn umgebenden schwarzen Würfeln so viel, wie er kriegen kann, das heißt so viel, wie seine Kollegen ihm lassen, denn alle weißen Würfel sind gleich gierig und gleich schnell im Zugreifen. Oder etwas gesitteter ausgedrückt: Jeder weiße Würfel legt sich einen Vorgarten zu – der offizielle Name ist Voronoi-Zelle. Der Vorgarten eines weißen Würfels besteht aus allen Punkten, die seinem Mittelpunkt näher liegen als dem Mittelpunkt jedes anderen weißen Würfels. (Von den schwarzen Würfeln redet sowieso niemand mehr.)
Wie sieht dieser Vorgarten aus? Na ja, ein weißer Würfel legt sich auf jeder seiner sechs Seitenflächen ein "Zelt" zu – eine Pyramide, die bis zum Mittelpunkt des benachbarten schwarzen Würfels reicht. Es sind keine richtig edlen Pyramiden, sondern etwas verdrückte, denn die Kanten, die zur Spitze führen, sind kürzer als die Kanten der quadratischen Grundfläche. Der schwarze Würfel zerfällt in sechs solcher Pyramiden, die sich mit ihren Spitzen im Mittelpunkt des schwarzen Würfels treffen und jede an den nächstliegenden weißen Würfel abgetreten werden.
Wie viele Seitenflächen hat der Vorgarten eines weißen Würfels? Sechs Würfel-Seitenflächen mal vier Zeltwände pro Seitenfläche macht 24 – aber halt! Zwei benachbarte Zeltwände mit gemeinsamer Bodenkante liegen in einer Ebene. Das muss auch so sein, denn die Grenze der Vorgärten zweier weißer Würfel besteht aus Punkten, die von beiden Würfelmittelpunkten gleich weit entfernt sind. Also gehört sie zu der Ebene, die auf der Verbindungslinie dieser beiden Punkte genau in der Mitte senkrecht steht – eine zweidimensionale "Mittelsenkrechte" sozusagen. Aus diesem Grunde wird aus je zwei Dreiecken eine Raute, und insgesamt ist der Vorgarten von zwölf solcher Rauten (oder Rhomben) begrenzt. Daher der Name dieses Körpers: "Rhombendodekaeder".
Das Rhombendodekaeder
Dieser Körper ist nicht ganz so regelmäßig wie sein platonischer Kollege aus zwölf Fünfecken, der mit vollem Namen "Pentagondodekaeder" heißt. Alle Flächen des Rhombendodekaeders sind gleich, nämlich Rauten mit einem Diagonalenverhältnis von 1:√2, aber nicht alle Ecken! Es gibt acht stumpfe Ecken (die Ecken des ehemaligen weißen Würfels), in denen sich je drei Rauten mit ihren stumpfen Winkeln treffen, und sechs spitze Ecken, nämlich die Pyramidenspitzen, in denen jeweils vier Rauten mit ihren spitzen Winkeln zusammenkommen.
Irgendwie besteht das Rhombendodekaeder aus zwei Würfeln: dem weißen, der drinsteckt, und den sechs schwarzen Pyramiden, die dem weißen Würfel aufsitzen und zusammen wieder einen Würfel ergeben. Diese Tatsache gibt Anlass zu einem netten kleinen Spielzeug zum Selberbasteln: einem Umstülpwürfel. Er ist nicht ganz so edel wie das, was der Tüftler Paul Schatz einen Umstülpwürfel genannt hat (Spektrum der Wissenschaft 2/1991, S. 10), aber immerhin ein Würfel zum Umstülpen. Man baue sechs gleiche Pyramiden mit der richtigen Höhe und klebe deren quadratische Grundflächen mit beweglichen Laschen oder Tesafilm so aneinander, dass sich ein (lateinisches) Kreuz ergibt, oder ein anderes Netz für einen Würfel.
Wenn Sie diese sechs Einzelteile so zusammenfalten, dass die Pyramiden nach innen kommen, dann passen sie gerade lückenlos aneinander, und es ergibt sich ein Würfel. Andersrum zusammengefaltet, mit den Pyramiden nach außen, ergibt sich ein Rhombendodekaeder mit würfelförmigem Hohlraum. Eine Anleitung und Vorlagen zum Selberbauen finden Sie hier.
Eine wesentliche Eigenschaft ergibt sich zwanglos aus der Vorgartenkonstruktion: Das Rhombendodekaeder ist ein Raumfüller! Man kann mit seinesgleichen den Raum ebenso lückenlos zustopfen wie mit den Würfeln. Die einzelnen Körper liegen Fläche an Fläche, und es treffen sich stets entweder sechs spitze oder vier stumpfe Ecken in einem Punkt. Allerdings sieht eine Rhombendodekaeder-Raumfüllung viel unübersichtlicher aus als eine mit Würfeln oder auch mit Tetraedern und Oktaedern (siehe Folge 1): Es gibt keine durchgehenden Geraden oder gar Ebenen. Das abgebildete Klötzchenspiel hat deshalb auch keine ebene Grundplatte, sondern eine mit quadratischen Löchern.
Mark Newbold hat eine hübsche Webseite über das Rhombendodekaeder erstellt. Darin steht auch ausführlich, wie man das gute Stück als eine Projektion – eine Art Schatten – eines vierdimensionalen Würfels auffassen kann. Aber das ist eine andere (sehr interessante) Geschichte.
Es gibt auch eine Verbindung zur Kepler'schen Kugelpackung (siehe Folge 2). Deren Kugeln haben auch Vorgärten; die bestehen wie oben aus den Punkten, die dem eigenen Kugelmittelpunkt näher sind als jedem anderen. Und siehe da, es handelt sich um Rhombendodekaeder! (Einzelheiten in Spektrum der Wissenschaft 4/1999, S. 10.)
In einem wesentlichen Punkt ist unsere neue Raumfüllung sogar besser als die alte mit Würfeln: Sie spart Wandmaterial. Genauer: Ein Rhombendodekaeder hat weniger Oberfläche als ein Würfel gleichen Volumens. Wenn man also den Raum durch Trennwände in gleiche Zellen vorgeschriebenen Volumens abteilen soll, kommt man mit Rhombendodekaeder-förmigen Zellen weit billiger weg als mit würfelförmigen. Und diese schlichte Weisheit haben die Bienen schon vor Urzeiten erfasst. Die Zellen in ihren Waben sind nämlich Rhombendodekaeder.
Na ja, nicht ganz. Man kann ja die Zellen, in denen die Larven heranwachsen, nicht einfach dicht an dicht aufeinander setzen, sonst würden die Kleinen tief im Inneren kein Futter kriegen. Was die Bienen machen, läuft auf Folgendes hinaus (siehe Spektrum der Wissenschaft 6/1994, S. 12): Man baue in Gedanken nur zwei horizontale Schichten von Rhombendodekaeder-förmigen Zellen, sagen wir, aus Bienenwachs. Durch einen horizontalen Schnitt trenne man von den Zellen der oberen Schicht genau die Hälfte ab; dabei tritt ein sechseckiges Loch zutage. Die angeschnittenen Wände verlängere man, sodass Röhren mit sechseckigem Querschnitt entstehen, bis diese groß genug für eine Bienenlarve sind. Entsprechend öffnet man die unteren Zellen und verlängert sie nach unten. Am Ende stellt man das ganze Gebilde hochkant, sodass die fleißigen Bienchen von beiden Seiten ihre Larven füttern können. Und da die Bienen nicht solche Schwierigkeiten mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen haben wie wir, fangen sie von vornherein mit vertikalen Zellschichten an.
Der Oktaederstumpf
Aber bei aller Weisheit der Natur: Selbst die Bienen machen es nicht ganz optimal. Es gibt einen Raumfüller mit noch weniger Wandflächenbedarf, und zwar den Oktaederstumpf.
Man kann sich seine Entstehung relativ brutal vorstellen. Einem Oktaeder werden einfach alle seine sechs Ecken abgehackt. Oder etwas genauer: In einer Ecke eines Oktaeders treffen vier Kanten zusammen. Auf jeder dieser Kanten laufe man ein Drittel des Wegs bis zur nächsten Ecke und markiere diesen Punkt. Dann schneide man entlang der Ebene, die durch diese vier Punkte verläuft. Die Ecke mitsamt einem kleinen Pyramidchen verschwindet, und es tritt eine quadratische Schnittfläche zutage. So verfahre man mit allen sechs Ecken des Oktaeders.
Die dreieckigen Seitenflächen des Oktaeders verlieren je ein Dreieckchen an jeder Ecke; übrig bleibt ein regelmäßiges Sechseck mit einem Drittel der Kantenlänge. Insgesamt hat der Oktaederstumpf 14 Seitenflächen: acht Sechsecke und sechs Quadrate.
Ganz so regelmäßig wie ein platonischer Körper ist er auch nicht, aber er ist auf eine andere Weise unplatonisch als das Rhombendodekaeder. Alle seine Ecken sind gleich, denn in jeder Ecke treffen sich zwei Sechsecke und ein Quadrat. Aber die Flächen sind eben nicht gleich, sondern von zweierlei Art, obgleich jede für sich ein regelmäßiges Vieleck ist und damit regelmäßiger als die Rauten des Rhombendodekaeders.
Kann man den Oktaederstumpf als Vorgarten auffassen? Ja, allerdings ist es etwas komplizierter: Man beginne wieder bei der biederen Raumfüllung durch Würfel und lasse die Mittelpunkte sämtlicher Würfel und außerdem die Eckpunkte sich um den Platz prügeln. Jeder Eckpunkt hat acht enge Nachbarn, nämlich die Mittelpunkte der angrenzenden Würfel, und sechs etwas weniger enge, nämlich die über eine Kante angrenzenden Würfelecken. Die gemeinsame Vorgartengrenze zu einem engen Nachbarn ist ein Sechseck, die zu dem weniger engen Nachbarn ein Quadrat.
Und was ist mit den Mittelpunkten? Nichts Neues, denn die Mittelpunkte sind die Eckpunkte einer Würfelpackung, die gegenüber der ursprünglichen in jeder Raumrichtung um eine halbe Kantenlänge verschoben ist. Deren Mittelpunkte sind genau die Eckpunkte der ursprünglichen Packung.
Wenn man sich an jedem Mittel- wie Eckpunkt der Würfelpackung ein Atom denkt, hat man das, was die Kristallographen das raumzentrierte kubische (body-centered cubic, bcc) Kristallgitter nennen.
Irgendwie müssten Rhombendodekaeder und Oktaederstumpf ja miteinander zusammenhängen. Das tun sie auch, auf eine sehr interessante Weise; aber das kommt erst in der nächsten Folge.
Merkwürdiges und Scherzhaftes
Sind Oktaederstümpfe die sparsamsten Raumfüller, die es gibt? Keineswegs. Wenn man sich auf Körper geringerer Regelmäßigkeit oder mit leicht gekrümmten Oberflächen einlässt, kann man den Wandflächenbedarf noch ein ganz klein bisschen unterbieten (Spektrum der Wissenschaft 11/1999, S. 12).
Das Sortiment an Raumfüllern ist äußerst unübersichtlich, vor allem wenn man mehrere Sorten von Polyedern zulässt. Eine besonders interessante Raumfüllung haben die israelischen Architekten Zwi Hecker, Alfred und Naomi Neumann mit einer Synagoge realisiert: Sie besteht aus Oktaederstümpfen, Tetraederstümpfen (schneide dem Tetraeder die Ecken wieder samt einem Drittel der Kante ab) und Kuboktaedern (schneide dem Würfel die Ecken samt der halben Kante ab, sodass von den Würfelflächen nur noch auf der Spitze stehende Quadrate übrig bleiben). Die zahlreichen dabei entstehenden Sechseckflächen passen gut zu der Bedeutung, die das Sechseck und vor allem der Sechser-(Davids-)Stern in der jüdischen religiösen Tradition haben. Peter Schreiber, Professor für Mathematik an der Universität Greifswald, hat das Bauwerk analysiert und stellt Bastelbögen zum Nachbau der einzelnen Körper zum Download zur Verfügung.
Es gibt noch viel verrücktere Raumfüller. Guy Inchbald beschreibt in seinem Artikel Five space-filling polyhedra einige ziemlich unregelmäßige Klötze, die auch noch auf etwas merkwürdige Art zusammenzufügen sind. Einer von ihnen ist als Variante des Rhombendodekaeders zu verstehen: Statt dem Würfel sechs Pyramiden aufzusetzen, setzt man ihm nur viere auf und nimmt ihm bei den beiden restlichen Flächen, die einander gegenüber liegen müssen, Pyramiden weg. Im Mittelpunkt ist der Körper also unendlich dünn. In die Vertiefungen passen die Pyramiden von den (quergelegten) Kollegen.
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