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Räumliche Geometrie: Noch krummere Körper

Klaus Gündchens Musikkoffer

Zwiebeltürme

Wer die ganze Zeit über Polyeder, sprich über von ebenen Flächen begrenzte räumliche Gebilde, nachdenkt, hat allen Anlass, etwas steif zu werden. So eine ebene Fläche ist eben eben, und das heißt auch: starr, nicht biegsam oder – was dasselbe auf Lateinisch ist – unflexibel. In der letzten Folge hatte ich daher eine kleine Lockerungsübung begonnen, die ich diesmal fortsetzen möchte. Gönnen wir unseren Flächen die Biegsamkeit des Papiers: Sie sollen nicht beliebig krunmm sein, aber immerhin abwickelbar, das heißt knitterfrei aus Papier realisierbar. Die einfachsten abwickelbaren Flächen sind der Zylindermantel und der Kegelmantel. Gegeben sei ein Kreis in der Ebene. Man nehme zu jedem Punkt des Kreises die Gerade, die durch diesen Punkt geht und senkrecht auf der Ebene steht: Fertig ist der Zylindermantel.

Oder man verlangt von all diesen Geraden, dass sie nicht senkrecht auf der Ebene stehen, sondern durch einen Punkt S außerhalb der Ebene gehen: Fertig ist der Kegelmantel, und der Punkt S ist die Kegelspitze. Wenn er genau über dem Kreismittelpunkt liegt, ist es ein gerader Kegel; aber er darf beliebig schief sein. Genau genommen ist es ein Doppelkegel, denn die Geraden gehen ja über den Punkt S hinaus; aber das interessiert uns hier nur mäßig, ebenso wie die Tatsache, dass Zylinder- wie Kegelmantel unendlich ausgedehnt sind. Wir wollen ja nur endliche Ausschnitte dieser Mäntel geeignet zusammenfügen, um Gebilde wie den Kegeligel (siehe letzte Folge) zu erhalten. Wie kommt man über diese wohlbekannten Grundformen (Konservendose und Eistüte) hinaus? Der erste Schritt ist noch relativ einfach. Die Grundkurve in der Ebene, durch deren Punkte die Geraden von Zylinder- und Kegelmantel festgelegt sind, muss kein Kreis sein. Man zeichne irgendeine Kurve in der Ebene und zwinge das Papier, mit der Kante dieser Kurve zu folgen und im Übrigen senkrecht auf der Ebene zu stehen. Das ist ein verallgemeinerter Zylindermantel. Damit man das Papier nicht knicken, sondern nur krummlegen muss, sollte natürlich auch die Kurve knickfrei sein.

Kirchturm | Der Kirchturm der Providenzkirche in Heidelberg hat ein abwickelbares, achtzählig symmerisches Dach.

Der verallgemeinerte Kegelmantel geht so ähnlich; allerdings will das Papier an der Unterseite passend zur Kurve krumm geschnitten werden, was nicht ganz einfach ist. Am Ende sieht es so aus wie ein schlampig aufgebautes Indianerzelt. Na schön.

Immerhin sind verallgemeinerte Zylindermäntel in der Realität zu finden. Stellen Sie sich unsere Grundebene diesmal senkrecht stehend vor, so dass Sie auf ihre "Kante" schauen. (Natürlich gibt's die Kante nicht, die Ebene ist ja unendlich ausgedehnt. Also wenn's mathematisch korrekt sein soll: Nehmen Sie die Symmetrieebene Ihres Körpers, das heißt die Ebene, die Sie von oben bis unten in eine rechte und eine linke Hälfte teilt, die zueinander spiegelsymmetrisch sind – bis auf Kleinigkeiten wie Herz, Leber, Blinddarm und vielleicht eine schiefe Nase.) Unsere Basiskurve fängt unten in Ihrer Nähe an und steigt dann an, wobei sie sich mal mehr, mal weniger schnell von Ihnen entfernt, vielleicht auch vorübergehend auf Sie zuläuft.

Der daraus entstehende Zylindermantel ist ein entsprechend neckisch gewelltes Dach, auf das Sie von schräg oben blicken. Wenn die Basiskurve wirklich auf Sie zuläuft, hat das Dach überhängende Teile, sodass die Teile darunter vom Regen nicht nass werden. Der oberste Endpunkt der Basiskurve soll aber auf jeden Fall derjenige Punkt sein, der am weitesten von Ihnen entfernt ist. An diesem Punkt schlagen Sie einen Pflock in den Boden ein und ziehen vom Fußpunkt dieses Pflocks aus gerade Linien auf dem Boden bis zu Ihrem rechten und zu Ihrem linken Fuß. Sie müssen dabei etwas breitbeinig stehen, denn die Linien sollen sich im Fußpunkt des Pflocks unter dem Winkel 45 Grad treffen.

Jetzt zerschneiden Sie das Dach entlang lotrecht stehender Ebenen, die durch die soeben beschriebenen Linien verlaufen. Dabei bleibt ein gewelltes Dreieck übrig. Nehmen Sie acht Exemplare dieses Dreiecks, die gegeneinander um jeweils 45 Grad bezüglich des Pflocks verdreht sind – und voilà, der Lohn der ganzen Denkarbeit steht vor Ihnen: der barocke Zwiebelturm!

Das Sortiment an Zwiebeltürmen, die in der Natur vorkommen, ist beträchtlich. Sie unterscheiden sich in der Wahl der Basiskurve; es gibt achtzählige (wie beschrieben), vierzählige, die nahtlos auf einen vierkantigen Turm passen, und perfekt kreisrunde; letztere sind allerdings nicht mehr abwickelbar.

Für die Hersteller von Ausschneide-Bastelbögen sind die vier- oder achtzähligen Zwiebeltürme mit der charakteristischen Kante zwischen den einzelnen Segmenten angenehmer: Sie kann man im Modell aus geeignet gebogenen Papierstücken zusammensetzen, ohne mogeln zu müssen. Im Papiermodellbau ist das ein eher seltenes Vergnügen. Die richtig interessanten krummen Flächen, vor allem die im Modellbau beliebten Schiffsrümpfe, sind nicht abwickelbar und müssen daher gemogelt werden. Im Papiermodell ist eine solche Fläche dann aus mehreren Teilstücken zusammengesetzt, die nicht ganz knickfrei ineinander übergehen.

Überhaupt scheinen abwickelbare Flächen eher Ausnahmeerscheinungen zu sein – zumindest in der Theorie. In der Literatur findet man über die (verallgemeinerten) Kegel- und Zylindermäntel hinaus kaum Beispiele. Eine abwickelbare Fläche, die es zu einigem Ruhm gebracht hat, ist das Oloid von Paul Schatz. Es sieht aus wie ein Schnabeltier und rollt eine schiefe Ebene hinab, ohne je über eine seiner durchaus vorhandenen scharfen Kanten abzukippen. Aber wie es zustande kommt, ist eine lange Geschichte, die es hier nicht auszubreiten lohnt. Ich habe sie in den "Mathematischen Unterhaltungen" (Spektrum der Wissenschaft) vom Febraur 1991 ausführlich beschrieben; sie ist in dem Sonderheft "Mathematische Unterhaltungen III" nachgedruckt.

Die "Sphericons" und einige andere krumme Körper sind die Helden der "Mathematischen Unterhaltungen" vom Juli 2000. Sie sind für sich genommen ziemlich bemerkenswert; aber wenn man genau hinschaut, sind sie aus lauter Stücken von Kegelmänteln zusammengesetzt.

Der krumme Musikkoffer

Wo die Theorie unergiebig ist, wird es Zeit für das Experiment. Wenn man ein Blatt Papier nimmt und es irgendwie krumm biegt, sodass es bestimmt weder ein Zylinder- noch ein Kegelmantel ist, dann realisiert es eine abwickelbare Fläche, die wir noch nicht kennen. Fixieren wir diese Fläche in Gedanken irgendwo im Raum und legen eine ebenso gefertigte Fläche im Raum dazu, sodass die beiden sich schneiden. Verfahren wir weiter so, bis zahlreiche einander schneidende Flächen ein begrenztes Volumen einschließen – da ist es doch! Ein Polyeder, das von krummen Flächen begrenzt wird, die ihrerseits weder zu Zylinder- noch zu Kegelmänteln gehören.

Irgendwie ist klar: Solche Gebilde muss es geben. Sie zu berechnen könnte mühsam werden, selbst wenn man für jede einzelne Fläche eine brauchbare Parametrisierung findet. Aber sie leibhaftig herstellen – das geht.

Es ist allerdings auch nicht ganz einfach, wenn man so spektakuläre Exemplare verfertigt wie der Karlsruher Künstler Klaus Gündchen. Anstelle von Papier verwendet er große Edelstahlplatten. Die zu verbiegen ist nicht einmal übermäßig schwer; aber sie zuzuschneiden und miteinander zu verbinden erfordert eine ganze Weile Arbeit mit dem Schweißbrenner. Berechnet hat Klaus Gündchen nichts an diesen Kunstwerken; allerdings, sagt er, muss man schon sehr aufpassen, dass man das Material durch das Zusammenschweißen nicht zu sehr unter Spannung setzt; es könnte einem um die Ohren fliegen!

Musikkoffer | Aus gebogenen Edelstahlplatten zusammengeschweißt, produziert dieses Kunstwerk eine erstaunliche Vielfalt an Tönen.

Für den Topologen bietet Gündchens Werk nichts Bemerkenswertes: Das sind einfach zweimal sechs krumme Vierecke, die sich jeweils zu dritt an einer Ecke treffen. Man könnte auch einfach sagen: zwei verdellerte Quader (Bild). Für den Physiker, genauer gesagt den Akustiker, ist das gute Stück dafür um so interessanter. Die Bleche scheppern ja, wenn man draufschlägt, und dabei gerät auch die Luft im Inneren in Bewegung.

Wenn man einen unverdellerten Quader hätte, wüsste man ziemlich genau, was passiert: Der Schall wird an zwei gegenüberliegenden Wänden des Quaders reflektiert, die auftreffende und die zurückkommende Schallwelle überlagern sich, und in dem ganzen Gewusel setzen sich vorzugsweise die Schallwellen durch, von denen eine ganze Zahl von Wellenlängen zwischen die beiden reflektierenden Flächen passt. Das Ding hat also eine Lieblingsfrequenz ("Resonanzfrequenz"), und wenn der Quader drei verschiedene Kantenlängen hat, zwischen denen sich entsprechend drei verschiedene "stehende Wellen" einstellen können, gibt es drei verschiedene Resonanzfrequenzen (und deren Vielfache).

Das ist der Effekt, der den Gesang in der Duschkabine so attraktiv macht: Wann dröhnt die eigene Stimme sonst schon so überzeugend, vor allem bei bestimmten Frequenzen?

Es ist auch der Grund, warum Streichinstrumente so un-quaderförmig gebaut werden: Sie hätten sonst Lieblingstöne, bei denen sie fürchterlich dröhnen würden. Statt dessen ist es die schwingende Saite, die der Luft im Inneren des Korpus ansagt, wie sie schwingen soll. So etwas haben Gündchens krumme Quader nicht. Aber sie haben Resonanzfrequenzen!

Man kann sogar ungefähr sagen welche – aber nur sehr ungefähr. Wenn man einen geraden Quader geringfügig verdellert, ändern sich seine drei Resonanzfrequenzen auch nur geringfügig. Das Phänomen der Resonanz verschwindet nicht einfach durch Verdellern; es ist bloß nicht mehr so gut zu berechnen. Ich wüsste nicht, wie man durch Vermessen des Körpers seine Lieblingsfrequenzen präzise bestimmen könnte.

Hinzu kommt: Die oben erwähnte Theorie mit den stehenden Wellen geht davon aus, dass die Wände des Kastens sich nicht bewegen (außer zur Anregung der Luftschwingungen). In Gündchens Kasten schwingen jedoch auch die Blechplatten mit ihren jeweils eigenen Frequenzen. Außerdem sind die Stangen, die den oberen Kasten nahezu "freischwebend" in der Luft halten, ihrerseits schwingfähig und beeinflussen den Klang.

Im Endeffekt kommt die Theorie nicht weit. Das Experiment zeigt: Der Kasten mit seinen Stangen ist ein Musikinstrument! Je nachdem, wo und wie man es zum Schwingen anregt – Streichen mit einem Kontrabassbogen, Schlagen mit einem Schläger, Reiben mit einem geeignet präparierten Flummiball am Stiel –, produziert es alle Töne einer Tonleiter. Typischerweise kommt der Ton ganz langsam und dröhnt dann übermächtig, wie bei einem fernöstlichen Gong. Mit dem guten Stück wurde auch schon beim Kanzlerfest in Berlin aufgespielt.

Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!

Herzlich Ihr

Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft

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