Räumliche Geometrie: Regelmäßige Raumfüllungen, Orangenhäufchen und die Keplersche Vermutung
Tetraeder-Oktaeder-Packungen und das Sierpinski-Tetraeder
In der letzten Folge hatte ich Ihnen eine spezielle Raumfüllung durch zwei Sorten platonischer Körper vorgestellt: Wenn man auf jede Seitenfläche eines Oktaeders ein Tetraeder gleicher Kantenlänge aufsetzt – Seitenfläche auf Seitenfläche –, die freien Tetraederflächen wieder mit Oktaedern bedeckt und so weiter, dann füllt man auf die Dauer den ganzen Raum lückenlos mit diesen Körpern. An jeder Seitenfläche eines Körpers sitzt ein Körper der jeweils anderen Sorte mit ebenfalls genau einer Seitenfläche.
Mehr noch: Benachbarte Seitenflächen verschiedener Körper geraten jeweils in eine Ebene, was nur einem von Millionen amerikanischer Achtklässler und keinem der Testentwerfer aufgefallen war. Daraus ergibt sich – unter anderem – eine interessante Konstruktion: Wenn man nur auf jede zweite Seitenfläche eines Oktaeders ein Tetraeder aufsetzt, erhält man ein Tetraeder der doppelten Kantenlänge.
Denken wir jetzt statt von klein nach groß umgekehrt von groß nach klein! Ein großes Tetraeder ist in vier kleine Tetraeder (mit der halben Kantenlänge) zerlegbar, indem man ein Oktaeder, ebenfalls mit der halben Kantenlänge, aus der Mitte herausnimmt. Mit den kleinen Tetraedern verfahren wir jetzt ebenso wie mit dem großen und erhalten 16 ganz kleine Tetraeder, aus denen 64 ganz ganz kleine, und so weiter ... Damit sind wir mitten in der fraktalen Geometrie und landen im Grenzwert beim Sierpinski-Tetraeder, einem höchst bemerkenswerten Gebilde. Mehrere Schulen haben in beeindruckender Gemeinschaftsarbeit riesige Sierpinski-Tetraeder konstruiert.
Die Raumfüllung aus Tetraedern und Oktaedern ist so schön, dass sie in vielerlei Verkleidungen vorkommt. Eine hatte ich Ihnen letztes Mal schon gezeigt: Man realisiere die Kanten der Raumfüllung durch Stahlstangen und die Ecken durch Klötze, in die man die Stahlstangen einschraubt, und schon hat man eine Dachkonstruktion für eine Messehalle.
Eine kleine Änderung macht aus dem Gestänge etwas ganz anderes: Orangenhäufchen! Man blase in Gedanken jeden der Eckpunkte (der Schraubklötze im Gestänge) zu einer Kugel auf, und zwar so groß, dass alle Kugeln aneinander stoßen. Dann hat man die berühmte Keplersche Kugelpackung: die dichtestmögliche Packung von Kugeln im Raum (genauer: unter vielen gleich dichten Packungen die schönste). Schon Johannes Kepler (1571 – 1630) hatte vermutet, dass es nicht möglich sei, den Raum "sparsamer" mit Kugeln aufzufüllen als auf diese Art, die jeder Obsthändler beim Orangenauftürmen praktiziert. Aber erst 1998 gelang es Thomas Hales, das auch mathematisch zu beweisen (Spektrum der Wissenschaft 4/1999, S. 10).
Zum Beweis verwendete Hales die oben beschriebene Raumfüllung mit Tetraedern und Oktaedern. Die Klötze des Messehallengestänges zu Kugeln aufzublasen läuft darauf hinaus, eine Kugel mit dem richtigen Radius (halbe Kantenlänge) in jede Ecke der Raumfüllung zu setzen. Es stellt sich heraus, dass die Tetraeder zu 77,9636 Prozent mit Kugelmaterial gefüllt sind, die Oktaeder dagegen nur zu 72,0903 Prozent. Über die Körper beider Arten aufsummiert ergibt sich der Keplersche Füllungsgrad von 74,048 Prozent. Wenn also der Raum ausschließlich mit Tetraedern lückenlos gefüllt werden könnte, wäre die zugehörige Kugelpackung dichter als die Keplersche. Aber genau das geht nicht. In der Nachbarschaft jedes Tetraeders muss man, wenn man den Raum lückenlos füllen will, das Äquivalent von vier Oktaedern in Kauf nehmen (oder Schlimmeres). Genau zu definieren, was das heißt, und es dann zu beweisen hat Hales mehrere Jahre Arbeit gekostet; der Beweis nimmt viele hundert Seiten in Anspruch.
Der Orangenhändler legt die erste Schicht Orangen nicht etwa schachbrettmäßig auf den Boden, sondern im Dreiecksmuster: Jede Orange ist genau von sechs Nachbarn umgeben. Wie passt das zu den Oktaeder-Baumschulen aus der letzten Folge? Man muss eine etwas andere Perspektive einnehmen. Als Grundfläche wähle man nicht, wie bisher, eine Ebene, die lauter Oktaeder halbiert, sondern die Ebene einer Oktaederfläche. Wir haben oben gesehen, dass eine benachbarte Tetraederfläche in derselben Ebene liegt, desgleichen die daran angrenzende Fläche des nächsten Oktaeders, und so weiter. Im Endeffekt haben wir lauter gleichseitige Dreiecke, die dicht an dicht eine ganze Ebene füllen. Man lege die Orangen in die Ecken dieses Dreiecksmusters, die nächste Schicht obenauf "auf Lücke", und siehe da: Orangenhaufen und Raumfüllung mit Tetraedern und Oktaedern laufen auf dasselbe hinaus.
Würfelstapel und kubische Kristallgitter
Etwas schwieriger ist es, diese Raumfüllung mit der einfachsten denkbaren Raumfüllung auf die Reihe zu bringen: dem Würfelstapel. Einfach lauter Würfel Fläche an Fläche aneinanderzulegen füllt auch den Raum. Aber wenn man auf jedes quadratische Feld unseres ursprünglichen Baumschulen-Schachbretts einen Würfel der richtigen Kantenlänge stellt und dann weiterstapelt, passen die beiden Füllungen nicht richtig zusammen: Die Oktaeder des nächsthöheren Stockwerks stehen ja auf Lücke, die Würfel aber keineswegs. Was man lieber hätte, wäre ein Würfelstapel mit der Eigenschaft, dass in jedem Würfel der gleiche Teil einer Tetraeder-Oktaeder-Raumfüllung steckt.
Das gelingt, indem man eine weitere Eigenschaft der platonischen Körper ausnutzt: Sie haben nämlich alle irgendwie etwas miteinander zu tun. So ist der Würfel dual zum Oktaeder und umgekehrt: Man setze Punkte in die Flächenmitten des einen Körpers und verbinde zwei Punkte durch eine Kante immer dann, wenn die zugehörigen Flächen eine Kante gemeinsam haben. Siehe da: Es entsteht der jeweils andere Körper.
Das ist im Allgemeinen sehr schön und nützlich, aber hier führt eine Beziehung zwischen Tetraeder und Würfel schneller zum Ziel. Von den acht Ecken des Würfels nehme man jede zweite, genauer: Man male eine Ecke eines Würfels rot an; jede Ecke, die mit einer roten Ecke durch eine Kante verbunden ist, male man blau an, und umgekehrt. Das funktioniert, ohne dass man in Widersprüche gerät. Am Ende hat der Würfel vier rote und vier blaue Ecken. Die Ecken einer Farbe zusammen bilden jeweils ein Tetraeder. Beide Tetraeder stecken ineinander, und der aus beiden zusammengesetzte achtspitzige Stern heißt seit Kepler "stella octangula".
Andersherum kann man jedes Tetraeder zu einem Würfel ergänzen, und zwar auf eindeutige Weise. Sagen wir: Die roten Ecken des Würfels sind die Ecken des Tetraeders; die blauen Ecken kommen dann hinzu. Der Würfel ist zwar "größer" als das Tetraeder, zumindest was das Volumen angeht, aber seine Kanten sind kürzer.
Genau das tun wir jetzt mit den Tetraedern unserer Tetraeder-Oktaeder-Raumfüllung. Dabei werden die Kanten jedes Tetraeders zu Flächendiagonalen des zugehörigen Würfels.
Schauen wir uns das für unser erstes Tetraeder, das die Lücke zwischen zwei Oktaedern stopfte, genauer an. Eine Kante des Tetraeders war das Seil, das zwei Pyramidenspitzen verbindet, eine andere die gemeinsame Bodenkante dieser beiden Pyramiden. Der zum Tetraeder gehörige Würfel steht auf dem Boden, aber um 45 Grad gegen das ursprüngliche Schachbrett gedreht. Die roten Ecken seiner Bodenfläche sind die Enden der genannten Bodenkante, und die blauen sind die Mittelpunkte der beteiligten Oktaeder!
Nach dem Prinzip "kennst du eine Fläche eines platonischen Körpers, kennst du sie alle" dürfen wir schließen, dass sich das für die anderen Flächen des Würfels genauso verhält. Wenn wir also ein Tetraeder unserer Raumfüllung durch den zugehörigen Würfel ersetzen, nehmen wir von jedem Oktaeder, das dem Tetraeder anliegt, ein Achtel weg und schlagen es dem Würfel zu. Wie ist dieses Achtel geformt? Wenn man ein Oktaeder nicht nur mit einem horizontalen Schnitt in zwei Pyramiden zerlegt, wie wir es oben gemacht haben, sondern zusätzlich noch durch zwei vertikale Schnitte, die jeweils durch vier Eckpunkte gehen, dann entstehen genau die gesuchten Achtel. Die Schnittebenen stehen alle drei senkrecht aufeinander. Daher liegen dem neu entstandenen Punkt des Achtels (dem ehemaligen Mittelpunkt des Oktaeders) drei rechte Winkel an – eine Würfelecke!
Jedes Oktaeder unserer Raumfüllung ist von acht Tetraedern umgeben, jedes dieser Tetraeder schnappt sich beim Aufplustern ein Achtel Oktaeder, nämlich das nächstgelegene, also werden die Oktaeder von den sich aufplusternden Tetraedern restlos aufgezehrt, und die entstehenden Würfel liegen Fläche an Fläche dicht beisammen. Jeder Würfel enthält ein Tetraeder plus vier Achtel Oktaeder, ein Achtel an jeder Tetraederfläche. Es ergibt sich eine Würfelstapelung mit einer kürzeren Kantenlänge (Wurzel 2 halbe mal die ursprüngliche Kantenlänge) – und einem kleinen Schönheitsfehler. Die Würfel der Stapelung sind nämlich nicht so, dass sie durch eine Parallelverschiebung ineinander überzuführen wären, sondern die Tetraeder in ihrem Inneren sind unterschiedlich angeordnet. Von zwei benachbarten Würfeln läuft dem einen eine Tetraederkante von links unten nach rechts oben über die Vorderseite und dem anderen von links oben nach rechts unten. Es gibt sozusagen weiße und schwarze Würfel, und an einen schwarzen Würfel grenzen stets sechs weiße und umgekehrt – wie bei einem Schachbrett, nur dreidimensional.
Der Schönheitsfehler ist einfach zu korrigieren. Man fasse einen Klotz von 2x2x2 Würfeln zu einem neuen Würfel doppelter Kantenlänge zusammen, und schon sind die Großwürfel alle gleich: Sie können mit allem, was darin steckt, durch Translation (Parallelverschiebung) aufeinander abgebildet werden, weißer Teilwürfel auf weißen, schwarzer auf schwarzen und so weiter. In einem Großwürfel stecken acht Tetraeder, ein komplettes Oktaeder in der Mitte, wiedervereinigt aus acht Achteln, sowie 24 weitere Oktaederachtel am Rand. Das Oktaeder in der Mitte hat als Ecken die Flächenmittelpunkte des Großwürfels. Von den Oktaedern unserer Baumschule haben nur relativ wenige das Glück, sich wiedervereint in einem Großwürfel wiederzufinden.
Die Ecken unserer Tetraeder-Oktaeder-Raumfüllung sitzen in den Ecken und in den Flächenmittelpunkten der Großwürfel, nicht im Mittelpunkt des Großwürfels selbst und nicht auf den Mittelpunkten seiner Kanten. Diese Eckpunkte waren auch die Kugelmittelpunkte der Keplerschen Kugelpackung. Und das erklärt zu guter Letzt, warum die Keplersche Kugelpackung bei den Kristallographen unter der Kurzbezeichnung "kubisch flächenzentriert" (face-centered cubic, fcc) geläufig ist. Wenn nämlich in einem Kristall die Atome so sitzen wie beim Obsthändler die Orangen und bei Kepler die Kugeln, dann können sie schlechterdings nicht näher zusammenrücken und fühlen sich deshalb vielleicht ganz wohl oder zumindest stabil. Deswegen kommt die kubisch-flächenzentrierte Packung von Atomen in Kristallen ziemlich häufig vor.
Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!
Herzlich Ihr
Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft
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