Räumliche Geometrie: Systematische Konstruktion der uniformen Polyeder
Vorab ein kurzer Nachtrag zur Folge 18 "Hohlkörper": Ulrich Mikloweit, der Autor des beeindruckenden "Polyedergartens", hat mich auf die Website von Alex Doskey hingewiesen. "Alex hat fast alle Stewart-Toroide mit great stella konstruiert (er beherrscht das Programm wahrscheinlich besser als Robert Webb selbst) und als VRML-Modelle auf seiner Seite bereitgestellt. Ich denke, da werden Sie Spaß dran haben." In der Tat!
Linksherum und rechtsherum: Über die Orientierung der Seitenflächen
In den letzten beiden Folgen habe ich Sie mit einem erheblichen Stück Theorie, vor allem Gruppentheorie, traktiert, um etwas Systematik in die großen Familien der vier- und der fünfzähligen Polyeder zu bringen. Zuvor (Folge 19) hatte ich Sie zaghaft in den Zoo der prachtvollen uniformen Polyeder eingeführt. Diesmal kommt der "Schlussstein", nämlich die Konstruktion und Berechnung sämtlicher uniformen Polyeder mit den genannten Techniken, Gruppentheorie einerseits und Überdeckung der Kugel mit rechtwinkligen Dreiecken andererseits.
Das hat Zvi Har'El vom Technion in Haifa (Israel) in seiner Arbeit von 1993 geleistet. Nicht, dass er neue uniforme Polyeder gefunden hätte. Dass die 1954 veröffentlichte Sammlung von Coxeter und Kollegen vollständig war, hatte Skilling ja schon 1975 bewiesen. Auch beim Berechnen der Polyeder, ihrer Koordinaten und der Maße ihrer Flächen war er nicht der erste. Magnus Wenninger, der bastelfreudige Mönch, hat durch sorgfältiges Analysieren jedes Einzelfalls das Nötige getan, zumindest für den Genauigkeitsbedarf des Papierbastlers. Für die Darstellung im Computer musste allerdings ein einheitliches Verfahren her, bei dem man nicht über jedes der 57 nicht-konvexen uniformen Polyeder gesondert nachdenken muss und dessen Rechengenauigkeit bei Bedarf auch weiter hochgetrieben werden kann. Das hat Har'El ausgearbeitet und damit die Grundlage für viele bunte Webseiten über uniforme Polyeder geliefert (vergleiche Folge 19).
Wie sieht also eine solche einheitliche Theorie samt Berechnungsverfahren aus? Die wesentlichen Eigenschaften eines uniformen Polyeders sind: Alle Ecken sind gleich, und alle Flächen bestehen aus regulären Vielecken, die auch sternförmig sein dürfen. Also genügt es, sich in einem uniformen Polyeder auf eine beliebige Ecke zu setzen (sie sind ja alle gleich), den Blick rundschweifen zu lassen und der Reihe nach alle Vielecke aufzuzählen, die dieser Ecke anliegen. Diese Aufzählung, die in der Literatur vertex figure ("Eckfigur") heißt, definiert das Polyeder eindeutig – nur kann man es davon noch nicht konstruieren.
Das uniforme Polyeder aus zwölf Fünfsternen und zwanzig (großen) Dreiecken, das ich Ihnen in Folge 19 vorgestellt habe, hat die Eckfigur {5/2, 3, 5/2, 3, 5/2, 3}, denn der Rundblick sieht nacheinander Fünfstern, Dreieck, Fünfstern, Dreieck, Fünfstern, Dreieck, und ein Fünfstern ist ein (5/2)-eck, denn von Ecke zu Ecke des Fünfsterns muss man zwei Fünftelschritte im Kreis springen statt nur einen wie beim gewöhnlichen Fünfeck.
Aber da gibt es ein anderes Polyeder, das ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, weil in ihm auch zwölf Fünfsterne zu dritt Spitze an Spitze aufeinander treffen. Die restlichen Flächen dagegen sind diesmal zwölf Fünfecke, die ziemlich tief im Inneren des Gebildes liegen. Wie sieht man das? Fassen Sie im Bild unten den vordersten Eckpunkt ins Auge, dort, wo drei Fünfsterne aufeinander treffen. Fahren Sie von rechts unten auf einer Kante auf diese Ecke zu und biegen an der Ecke ganz schwach links ab. Dann haben Sie zwei Kanten eines Fünfecks befahren.
Die Eckfigur dieses Polyeders ist {5/3, 5, 5/3, 5, 5/3, 5}. Was ist das? Was ist jetzt ein (5/3)-eck? Das ist auch ein Fünfstern, aber ein falschrummer. Sie erinnern sich: Ein (5/1)-eck (oder einfach Fünfeck) ist, wenn man immer einen Fünftelschritt im Kreis springt, beim (5/2)-eck sind es zwei Schritte und beim (5/3)-eck eben dreie, aber das ist dasselbe wie zwei in Gegenrichtung. Also ist ein (5/3)-eck ein (5/2)-eck, das im falschen Umlaufssinn durchlaufen wird. Entsprechend ist ein (5/4)-eck ein falschrummes gewöhnliches Fünfeck.
Aber was soll diese merkwürdige Unterscheidung? Was interessiert es mich, wie die Eckpunkte der Fläche nummeriert sind, die ich gerade anschaue? Beim Anschauen kommt es nicht darauf an, beim Analysieren und beim Programmieren schon eher. Es ist hilfreich, wenn man sich darauf festlegt, dass die Eckpunkte einer Fläche richtigrum durchlaufen werden, wenn man von außen auf die Fläche schaut. "Richtigrum" heißt bei den Mathematikern immer gegen den Uhrzeigersinn. Bei einem gewöhnlichen Wald-und-Wiesen-Polyeder ist das auch kein Problem, denn da ist völlig klar, wo innen und außen ist. Man kann das auch formal definieren, indem man einen Punkt, zum Beispiel den Mittelpunkt des Polyeders (so es einen hat), herausgreift und die Seite der Fläche, die diesem (Mittel-)Punkt zugewandt ist, die Innenseite und die andere die Außenseite nennt. Dann kann man auch den Spieß umdrehen und definieren: Wenn ich auf einer Fläche sitze, und die Eckpunkte um mich herum werden im Uhrzeigersinn durchlaufen, dann sitze ich auf der Innenseite. Wenn ich von einer Fläche auf eine Nachbarfläche wandere, ohne die Oberfläche des Polyeders zu durchdringen, dann bin ich außen, wenn ich vorher außen war, entsprechend für innen.
Diese klaren Verhältnisse verwischen sich bei den nicht-konvexen uniformen Polyedern. Man kann jeder seiner Flächen einen Umlaufssinn zuweisen – kein Problem; wenn ich auf einer Fläche sitze, und die Punkte werden richtigrum durchlaufen, na gut, dann sitze ich halt auf der Außenseite. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich von meinem Platz aus die Sonne sehen kann. Denn da die Flächen uniformer Polyeder sich häufig teilweise überdecken, könnte ich durchaus im Dunkeln sitzen.
Außerdem soll der Umlaufssinn der Flächen natürlich nicht willkürlich festgelegt werden, sondern konsistent: so, dass ich nicht unversehens von innen nach außen gerate, wenn ich von einer Fläche auf eine benachbarte wandere. Im Falle unseres Fünfeck-Fünfstern-Körpers geht das sogar. Allerdings muss man dafür die der Sonne zugewandte Seite der Fünfsterne ihre Innenseite nennen – jedenfalls wenn man die dem Körpermittelpunkt zugewandten Seiten der Fünfecke ihre Innenseiten nennen möchte. Alternativ könnte man die Fünfsterne auf die nahe liegendere Art orientieren und dafür die dem Körpermittelpunkt abgewandte Seite der Fünfecke die Innenseite nennen – die sieht sowieso nicht viel von der Sonne.
Polyeder, deren Flächen man eine konsistente Orientierung zuweisen kann, heißen orientierbar. Das heißt nicht, dass man von einem beliebigen Raumpunkt sagen könnte, ob er im Inneren des Polyeders liegt oder nicht. Aber immerhin kann man seine Flächen so anstreichen (außen blau, innen rot oder so), dass an keiner Kante zwei verschiedene Farben aneinander stoßen. (Das kann zwar von außen betrachtet so aussehen, weil vielleicht zwei Flächen einander durchdringen und die eine uns ihre Außenseite zeigt und die andere die Innenseite. Dann wechselt die Farbe an der Linie, an der beide Flächen sich schneiden. Aber die gilt ja nicht als Kante!)
Es gibt auch nicht-orientierbare Polyeder, auch unter den uniformen. Besonders gefährlich sind diejenigen, bei denen gewisse Flächen durch den Körpermittelpunkt verlaufen. Denn da hilft noch nicht einmal die vorläufige Definition "innen ist die dem Körpermittelpunkt zugewandte Seite".
Na gut. Für uns, die wir auf einer Polyederecke sitzen, den Blick rundschweifen lassen und die Eckfigur notieren, bedeutet die Existenz falschrum orientierter Flächen, dass wir beim Anblick einer solchen Fläche unseren Blick zurück statt vorwärts rundschweifen lassen müssen. Statt uns für einen falschrummen Fünfstern um, sagen wir 110 Grad zurückzuwenden, können wir uns allerdings auch um 360 – 110 = 250 Grad vorwärtswenden; das läuft auf dasselbe hinaus, und es wird uns vielleicht weniger schwindlig, wenn wir nicht dauernd die Drehrichtung wechseln müssen.
Jetzt greift Har'El weitere Ideen auf, die ich Ihnen in den vorigen Folgen schon präsentiert habe (und die auch Coxeter und Kollegen sowie andere Geometer schon verwendet haben). Erstens zerlegen wir jede Seitenfläche des Polyeders in lauter rechtwinklige Dreiecke aus Flächenmittelpunkt, Eckpunkt und Kantenmittelpunkt. Das geht mit den Sternvielecken genauso wie mit den gewöhnlichen. Dann sammeln wir alle Dreiecke ein, die an die Ecke grenzen (auf der wir immer noch sitzen). Das sind pro Fläche, die an diese Ecke grenzt, zwei Stück. Alle diese Dreiecke zusammen ergeben bei gewöhnlichen Polyedern so eine Art Käppi; bei den nichtkonvexen uniformen kann daraus ein vielfach gefälteltes Plisseeröckchen werden, dessen Stoffbahnen sich auch noch gegenseitig durchdringen.
Zweitens packen wir das ganze Polyeder in eine Milchglaskugel, setzen in den gemeinsamen Mittelpunkt von Polyeder und Kugel unsere inzwischen wohlbekannte punktförmige Glühbirne und schauen uns die Schatten unserer Dreiecke auf der Kugeloberfläche an. Unser Käppi wird dabei eine richtige Kugelkappe, und das Plisseeröckchen auch, bloß eben stellenweise mit mehreren Lagen Stoff.
Jetzt drehen wir den Spieß um: Statt zu einem Polyeder, das wir kennen, die Eckfigur zu besichtigen, geben wir uns eine Eckfigur vor und versuchen das dazugehörige Polyeder zu konstruieren.
Bei den gewöhnlichen Polyedern ging das so: Wähle die Größe des Käppis so, dass lauter gleiche Exemplare die Kugel lückenlos und überlappungsfrei bedecken. Diese Forderung ergibt Bedingungen an die Größe der Dreiecke, die formuliert man in Form von Gleichungen, findet Lösungen für diese Gleichungen, dann weiß man, wo auf der Kugeloberfläche die Ecken des Polyeders liegen. Die sind durch Kugelgroßkreis-Stücke miteinander verbunden. Wenn man die zu geraden Linien strammzieht, hat man sein Polyeder.
Bei den uniformen Polyedern ist das Spiel im Prinzip dasselbe, allerdings mit einigen Erschwernissen. Wir nehmen eine Eckfigur, die uns gefällt, dadurch wird ein Käppi bzw. Plisseeröckchen bestimmt, dessen Maße noch unbekannt sind. Aber daraus, dass seine dreieckigen Bestandteile genau zusammenpassen müssen, ergeben sich Bedingungen für die Maße, die man in Gleichungen umsetzen und lösen kann.
Das ist aber noch nicht alles. Aus der einen Ecke, die wir bisher betrachtet haben, müssen ja noch viele Ecken werden; das geht durch fortgesetztes Spiegeln an irgendwelchen Symmetrieebenen, wie bei den gewöhnlichen Polyedern. Und dabei müssen die Dreiecke unserer Käppis sich präzis zu den (gewöhnlichen oder Stern-)Vielecken fügen, die wir am Anfang, durch Festlegen der Eckfigur, bestellt hatten.
Das erledigen die Polyeder-Konstrukteure wieder mit einer Verallgemeinerung des Standardverfahrens. Diese "Kaleidoskop-Konstruktion" geht auf den niederländischen Zahlentheoretiker Willem A. Wythoff (1865 – 1939) zurück, der sie 1918 erstmals erfolgreich anwandte – auf vierdimensionale Polyeder, aber das ist eine andere Geschichte. Wie war das? Wir hatten lauter Spiegel in die Kugel gestellt, die sich im Mittelpunkt treffen. Wenn diese Spiegel (zum Beispiel) auf der Kugeloberfläche ein Fundamentaldreieck des Ikosaeders einschließen, dann überdecken die Spiegelbilder dieser Dreiecke (und die Spiegelbilder der Spiegelbilder, und so weiter) schließlich die ganze Kugel genau einmal, lückenlos.
Jetzt machen wir die Spiegel beweglich. Im Mittelpunkt halten sie immer noch zusammen, aber das von ihnen eingeschlossene Dreieck darf jetzt größer werden. Die Spiegelbilder ergeben dann ein ganz merkwürdiges Kaleidoskop-Bild. Wenn zwei Spiegel beispielsweise nicht ein Zehntel des Vollwinkels einschließen, sondern etwas mehr, dann erzeugen diese Spiegel nicht etwa zehn Bilder (einschließlich dem Original), sondern unendlich viele; das gibt sich erst, wenn der Winkel zwischen den Spiegeln ein rationales Vielfaches des Vollwinkels ist, zum Beispiel das (2/5)-Fache. Entsprechend gibt es bei drei Spiegeln nur ziemlich spezielle Stellungen, in denen die Spiegelbilder des eingeschlossenen Dreiecks die Kugel nur endlich oft überdecken. Die zugehörigen Dreiecke heißen Schwarz'sche Dreiecke.
Unsere verschiedenen Gruppen kommen dabei wieder ins Spiel: Am Ende muss die durch die drei Spiegel erzeugte Symmetriegruppe eine der Gruppen sein, die wir schon kennen, also die Symmetriegruppe des Tetraeders, des Oktaeders, des Ikosaeders oder eine von den unendlich vielen Symmetriegruppen der n-seitigen Prismen. Daher kommt es, dass es nur ein relativ überschaubares Sortiment Schwarz'scher Dreiecke gibt.
Einen Punkt in dem Schwarz'schen Dreieck erklären wir zum Eckpunkt unseres werdenden Polyeders. Durch Spiegelungen erhalten wir alle anderen Eckpunkte, und zwei Eckpunkte gelten als durch eine Kante verbunden, wenn sie durch eine einzige Spiegelung an einer Dreiecksseite auseinander hervorgehen. Da Schwarz'sche Dreiecke ziemlich groß werden können, sind auch die Kanten möglicherweise ziemlich lang.
Damit die Symmetrie gewahrt bleibt, darf man nicht jeden beliebigen Punkt eines Schwarz'schen Dreiecks zum Polyeder-Eckpunkt erklären. Erlaubt sind nur: ein Eckpunkt des Dreiecks, sein Mittelpunkt und die Kantenmittelpunkte. Vorsicht! Wir sind auf der Kugel, und da gilt: Winkel sind unproblematisch, Längen nicht unbedingt. Deswegen ist es genau genommen auch nicht der Kantenmittelpunkt, sondern der Schnittpunkt der Kante mit der Winkelhalbierenden des gegenüberliegenden Winkels, und das Wort "Dreiecksmittelpunkt" muss man präzisieren zu "Inkreismittelpunkt": Schnittpunkt der Winkelhalbierenden.
Für die schiefen (Bastard-)Körper sind noch etwas mehr Punkte zugelassen.
Jetzt sind alle Zutaten beisammen: Es gibt nur endlich viele Schwarz'sche Dreiecke, in jedem Dreieck nur endlich viele zulässige Punkte, also gibt es auch nur endlich viele Kandidaten für uniforme Polyeder. Von denen wachsen nicht alle zu echten Polyedern heran; so kann es bei dieser Konstruktion vorkommen, dass eine Fläche nur zwei Eckpunkte hat, das heißt praktisch nur aus einer Kante besteht. Die lässt man dann weg – und erzeugt dadurch vielleicht ein schon bekanntes Polyeder. Aber wenn man alle Möglichkeiten durchprobiert, bekommt man die komplette Liste der uniformen Polyeder samt der Gewissheit, dass sie komplett ist – und ganz nebenher ein System von Gleichungen. Das kann man nach einem für alle Polyeder gleichen Schema umformen, sodass nur noch eine Gleichung mit einer Unbekannten übrig bleibt. Die zu lösen ist für ein Computerverfahren wie das Newton-Verfahren eine seiner leichtesten Übungen, auch wenn die Gleichung selbst vielleicht vierten Grades ist. Heraus kommen die Koordinaten der Eckpunkte, Längen, Winkel, ... alles, was das Herz begehrt.
Ich glaube, das war erst einmal genug der Theorie. Freuen Sie sich lieber noch einmal an den Ergebnissen dieser theoretischen Arbeit (siehe die Webhinweise zu Folge 19).
Literaturhinweis speziell für diese Folge:
Zvi Har'El: Uniform Solution for Uniform Polyhedra. Geometriae Dedicata Bd. 47, S. 57 – 110 (1993). Download über Zvi Har'Els Website www.math.technion.ac.il/~rl/
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Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft
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