Das menschliche Bewusstsein ein Hybrid aus Evolution und Kultur
Aus der Fülle von Literatur zum Themenkomplex Denken, Bewusstsein und Gehirn hebt sich das Buch des kanadischen Kognitionsforschers und emeritierten Psychologieprofessors Merlin Donald durch zweierlei heraus: seinen besonderen Bewusstseinsbegriff und seine evolutionäre Perspektive.
Für Donald ist das menschliche Bewusstsein Kennzeichen einer "Hybridintelligenz", in der die individuelle, interne Gehirntätigkeit und die kollektive, externe Kultur aufs Engste verschränkt sind. Eine ausgereifte, umfassende Theorie des Bewusstseins liege zwar noch in weiter Ferne; betrachte man jedoch die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Vogelperspektive, so würden immerhin die Eckpunkte einer solchen Theorie erkennbar.
Sehr kritisch setzt sich Donald zunächst mit den Thesen der von ihm so genannten "Hardliner" auseinander, allen voran deren Galionsfigur Daniel Dennett (Spektrum der Wissenschaft 4/1995, S. 118). Die Vertreter dieser durchaus heterogenen Gruppe eint, dass sie dem Bewusstsein seine Komplexität absprechen und/oder es in eine einfache operationale Definition zwängen wollen. Viele halten Bewusstsein für ein Epiphänomen, ein bedeutungsloses Nebenprodukt neuronaler Aktivität, für bloßes Gewahrwerden von Sinneswahrnehmungen, äußerst beschränkt in seiner Kapazität und irrelevant für die große Mehrheit der mentalen Prozesse, die unbewusst ablaufen.
Dem hält Donald entgegen, dass das Bewusstseinsmodell und sogar Menschenbild der Hardliner nicht der Realität entspricht, sondern nur deshalb so atomistisch und reduktionistisch ist, weil die zugehörigen Laborstudien so sind – und nicht anders sein können. Solche experimentellen Befunde können daher nur für die unteren Bewusstseinsschichten wie Wahrnehmung und Kurzzeitgedächtnis gelten. In der realen Welt stellt sich das Bewusstsein dagegen keineswegs als eine serielle Folge kurzer "Tunnelblicke" dar; vielmehr bildet es ein ungeheuer vielschichtiges Geflecht kognitiver und metakognitiver Prozesse auf der "mittleren Zeitebene": Die Bewusstseinstätigkeit wird über Stunden als kohärentes Ganzes erlebt.
Dass viele der beteiligten Prozesse automatisiert sind, ist kein Ausdruck eines Unbewussten; die Automatisierung ist vielmehr ein »Abkömmling« des Bewusstseins. Die Notwendigkeit einer "überzeugenden Phänomenologie des auf der mittleren Zeitebene operierenden Bewusstseins" untermauert Donald unter anderem mit klinischen Fällen von Bewusstseinsstörungen (und erinnert damit ein wenig an Oliver Sacks), aber auch anhand literarischer Darstellungen von Bewusstseinsprozessen. Dass ein gestandener Experimentalpsychologe gerade aus der Kritik am reduktionistischen experimentellen Paradigma zu einem so pragmatischen, auf die Lebenswelt rückbezogenen Ansatz gelangt, verleiht dem Buch eine sympathische Konkretheit.
Donalds Thesen zur Evolution des menschlichen Bewusstseins sind ebenfalls etwas unkonventionell. Nicht eine Entwicklung der Gehirngröße oder -anatomie sei es, die das menschliche vom tierischen Bewusstsein unterscheidet; vielmehr seien es die für die Steuerung, Überwachung und Metakognition zuständigen Exekutivfunktionen des Gehirns. Diese befähigten den Menschen, sich in einer langen Folge von Anpassungsschritten immer neue "kognitive Dämonen", automatisierte kulturelle Algorithmen, zusammenzubauen, deren komplexester und fortgeschrittenster die Sprache ist.
Enkulturation als Evolutionsfaktor
Nach Donald bildet dieses – nicht in autonome Teilsysteme zerlegbare – Exekutivsystem die materielle Grundlage des Bewusstseins und bestimmt dessen Eigenschaften. Die Evolution hat den Menschen zu einem Spezialisten für "verfeinerte exekutive Steuerung" gemacht, die ihn zum "Ausbruch aus dem Nervensystem", mithin zur Erzeugung von Kultur befähigt.
Kultur wirkt als externer, kollektiver Gedächtnisspeicher, und wir sind so eng in sie eingebunden, dass diese "Enkulturation" einen zentralen Faktor in der menschlichen Evolution darstellt. An Studien mit "enkulturierten" Menschenaffen einerseits und der frühkindlichen Entwicklung andererseits arbeitet Donald die Verzahnung und Wechselwirkung zwischen Kultur und Geist heraus. Er tut dies unter der von Jean Piaget begründeten und heute von Forschern wie Michael Tomasello vertretenen konstruktivistischen Perspektive, wonach sich die mentalen Strukturen und Prozesse nicht auf Grund eines angeborenen Programms entfalten, sondern auf Grund bestimmter bewusstseinsgesteuerter Erfahrungssequenzen. Das Bewusstsein gewichtet die einströmenden Daten und konstruiert daraus die Welt und zugleich sich selbst. Die Enkulturation verläuft von außen nach innen, auch wenn die bewusst erlernten Bestandteile der Kultur durch Automatisierung ins Unbewusste absinken.
Das durch die Enkulturation geschaffene (und durch die Schrift haltbar gemachte) "externe Gedächtnisfeld" befreit das Gehirn aus seinen biologischen Begrenzungen und wirkt darüber hinaus auf die Strukturen der bewussten Geistestätigkeit zurück. "Das Bewusstsein des Menschen ist zum einen ein spezifisches Anpassungsmerkmal, das uns befähigt, die Turbulenzen der Kultur zu meistern, und zum anderen auch der hauptsächliche Kanal, über den die Kultur ihren prägenden Einfluss auf uns ausübt."
Donald hat ein Opus magnum geschrieben. Er breitet eine Fülle von Material aus zahlreichen Forschungsgebieten vor dem Leser aus: Neurowissenschaften, vergleichende Verhaltensforschung, experimentelle und klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Anthropologie, Linguistik, Sozialwissenschaften, Philosophiegeschichte. Er tut dies anschaulich, stringent und mit guter Leserführung, in wort- und bildmächtiger Sprache, ohne zu simplifizieren. Man folgt dem Autor gerne durch schwierige Zusammenhänge, hinein in anregende Debatten und zu offenen Fragen. Er entfaltet ein theoretisches Netzwerk, das genauso komplex ist wie sein Gegenstand, und der Leser verheddert sich nirgends darin.
Das amerikanische Original erschien 2001, so dass trotz Aktualisierung kein nach 2000 veröffentlichtes Material mehr in den Text einging. Folgenreiche Entdeckungen wie die der Spiegelneurone, von denen man gerne gesehen hätte, wie Donald sie in sein Modell integriert, finden nur in Fußnoten Erwähnung. Doch das tut dem Buch nicht grundsätzlich Abbruch. Auch nicht, dass der Bezug etwa auf die Philosophie gelegentlich nur schmückendes Beiwerk ist oder nicht über Namedropping hinausgeht.
Störend sind Nachlässigkeiten des Lektorats wie falsch geschriebene Namen und die verschobene Kapitelaufzählung im sehr nützlichen Prolog, die den Leser etwas in die Irre führt. Und ausgerechnet im Kapitel über Sprache liest man konsequent "Worte", wo "Wörter" gemeint sind. Dennoch: ein Buch, das man mit Gewinn und Genuss lesen kann.
Für Donald ist das menschliche Bewusstsein Kennzeichen einer "Hybridintelligenz", in der die individuelle, interne Gehirntätigkeit und die kollektive, externe Kultur aufs Engste verschränkt sind. Eine ausgereifte, umfassende Theorie des Bewusstseins liege zwar noch in weiter Ferne; betrachte man jedoch die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Vogelperspektive, so würden immerhin die Eckpunkte einer solchen Theorie erkennbar.
Sehr kritisch setzt sich Donald zunächst mit den Thesen der von ihm so genannten "Hardliner" auseinander, allen voran deren Galionsfigur Daniel Dennett (Spektrum der Wissenschaft 4/1995, S. 118). Die Vertreter dieser durchaus heterogenen Gruppe eint, dass sie dem Bewusstsein seine Komplexität absprechen und/oder es in eine einfache operationale Definition zwängen wollen. Viele halten Bewusstsein für ein Epiphänomen, ein bedeutungsloses Nebenprodukt neuronaler Aktivität, für bloßes Gewahrwerden von Sinneswahrnehmungen, äußerst beschränkt in seiner Kapazität und irrelevant für die große Mehrheit der mentalen Prozesse, die unbewusst ablaufen.
Dem hält Donald entgegen, dass das Bewusstseinsmodell und sogar Menschenbild der Hardliner nicht der Realität entspricht, sondern nur deshalb so atomistisch und reduktionistisch ist, weil die zugehörigen Laborstudien so sind – und nicht anders sein können. Solche experimentellen Befunde können daher nur für die unteren Bewusstseinsschichten wie Wahrnehmung und Kurzzeitgedächtnis gelten. In der realen Welt stellt sich das Bewusstsein dagegen keineswegs als eine serielle Folge kurzer "Tunnelblicke" dar; vielmehr bildet es ein ungeheuer vielschichtiges Geflecht kognitiver und metakognitiver Prozesse auf der "mittleren Zeitebene": Die Bewusstseinstätigkeit wird über Stunden als kohärentes Ganzes erlebt.
Dass viele der beteiligten Prozesse automatisiert sind, ist kein Ausdruck eines Unbewussten; die Automatisierung ist vielmehr ein »Abkömmling« des Bewusstseins. Die Notwendigkeit einer "überzeugenden Phänomenologie des auf der mittleren Zeitebene operierenden Bewusstseins" untermauert Donald unter anderem mit klinischen Fällen von Bewusstseinsstörungen (und erinnert damit ein wenig an Oliver Sacks), aber auch anhand literarischer Darstellungen von Bewusstseinsprozessen. Dass ein gestandener Experimentalpsychologe gerade aus der Kritik am reduktionistischen experimentellen Paradigma zu einem so pragmatischen, auf die Lebenswelt rückbezogenen Ansatz gelangt, verleiht dem Buch eine sympathische Konkretheit.
Donalds Thesen zur Evolution des menschlichen Bewusstseins sind ebenfalls etwas unkonventionell. Nicht eine Entwicklung der Gehirngröße oder -anatomie sei es, die das menschliche vom tierischen Bewusstsein unterscheidet; vielmehr seien es die für die Steuerung, Überwachung und Metakognition zuständigen Exekutivfunktionen des Gehirns. Diese befähigten den Menschen, sich in einer langen Folge von Anpassungsschritten immer neue "kognitive Dämonen", automatisierte kulturelle Algorithmen, zusammenzubauen, deren komplexester und fortgeschrittenster die Sprache ist.
Enkulturation als Evolutionsfaktor
Nach Donald bildet dieses – nicht in autonome Teilsysteme zerlegbare – Exekutivsystem die materielle Grundlage des Bewusstseins und bestimmt dessen Eigenschaften. Die Evolution hat den Menschen zu einem Spezialisten für "verfeinerte exekutive Steuerung" gemacht, die ihn zum "Ausbruch aus dem Nervensystem", mithin zur Erzeugung von Kultur befähigt.
Kultur wirkt als externer, kollektiver Gedächtnisspeicher, und wir sind so eng in sie eingebunden, dass diese "Enkulturation" einen zentralen Faktor in der menschlichen Evolution darstellt. An Studien mit "enkulturierten" Menschenaffen einerseits und der frühkindlichen Entwicklung andererseits arbeitet Donald die Verzahnung und Wechselwirkung zwischen Kultur und Geist heraus. Er tut dies unter der von Jean Piaget begründeten und heute von Forschern wie Michael Tomasello vertretenen konstruktivistischen Perspektive, wonach sich die mentalen Strukturen und Prozesse nicht auf Grund eines angeborenen Programms entfalten, sondern auf Grund bestimmter bewusstseinsgesteuerter Erfahrungssequenzen. Das Bewusstsein gewichtet die einströmenden Daten und konstruiert daraus die Welt und zugleich sich selbst. Die Enkulturation verläuft von außen nach innen, auch wenn die bewusst erlernten Bestandteile der Kultur durch Automatisierung ins Unbewusste absinken.
Das durch die Enkulturation geschaffene (und durch die Schrift haltbar gemachte) "externe Gedächtnisfeld" befreit das Gehirn aus seinen biologischen Begrenzungen und wirkt darüber hinaus auf die Strukturen der bewussten Geistestätigkeit zurück. "Das Bewusstsein des Menschen ist zum einen ein spezifisches Anpassungsmerkmal, das uns befähigt, die Turbulenzen der Kultur zu meistern, und zum anderen auch der hauptsächliche Kanal, über den die Kultur ihren prägenden Einfluss auf uns ausübt."
Donald hat ein Opus magnum geschrieben. Er breitet eine Fülle von Material aus zahlreichen Forschungsgebieten vor dem Leser aus: Neurowissenschaften, vergleichende Verhaltensforschung, experimentelle und klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Anthropologie, Linguistik, Sozialwissenschaften, Philosophiegeschichte. Er tut dies anschaulich, stringent und mit guter Leserführung, in wort- und bildmächtiger Sprache, ohne zu simplifizieren. Man folgt dem Autor gerne durch schwierige Zusammenhänge, hinein in anregende Debatten und zu offenen Fragen. Er entfaltet ein theoretisches Netzwerk, das genauso komplex ist wie sein Gegenstand, und der Leser verheddert sich nirgends darin.
Das amerikanische Original erschien 2001, so dass trotz Aktualisierung kein nach 2000 veröffentlichtes Material mehr in den Text einging. Folgenreiche Entdeckungen wie die der Spiegelneurone, von denen man gerne gesehen hätte, wie Donald sie in sein Modell integriert, finden nur in Fußnoten Erwähnung. Doch das tut dem Buch nicht grundsätzlich Abbruch. Auch nicht, dass der Bezug etwa auf die Philosophie gelegentlich nur schmückendes Beiwerk ist oder nicht über Namedropping hinausgeht.
Störend sind Nachlässigkeiten des Lektorats wie falsch geschriebene Namen und die verschobene Kapitelaufzählung im sehr nützlichen Prolog, die den Leser etwas in die Irre führt. Und ausgerechnet im Kapitel über Sprache liest man konsequent "Worte", wo "Wörter" gemeint sind. Dennoch: ein Buch, das man mit Gewinn und Genuss lesen kann.
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