Direkt zum Inhalt

Kommentare - - Seite 1047

Ihre Beiträge sind uns willkommen! Schreiben Sie uns Ihre Fragen und Anregungen, Ihre Kritik oder Zustimmung. Wir veröffentlichen hier laufend Ihre aktuellen Zuschriften.
  • Entropiezeitpfeil und Kausalität

    25.07.2008, Daniel Kirchmann
    Der Autor macht die stillschweigende aber unbewiesene Voraussetzung, dass der Geschichtszeitpfeil oder die Ursache-Wirkung-Kausalität aus dem Entropiezeitpfeil folgt. Dabei wäre diese Frage möglicherweise einer experimentellen Prüfung zugänglich und ich wundere mich, dass sie noch nicht empirisch geklärt wurde.

    Die Argumentation lautet folgendermaßen:
    Angenommen der Entropiezeitpfeil ist die alleinige Ursache der Ursache-Wirkung-Kausalität, so müssen bei seiner Abwesenheit wegen der zeitlichen Symmetrie der Naturgesetze zeitgerichtete Vorgänge mit gleicher Wahrscheinlichkeit (d.h. genauso oft) in Richtung der Zukunft wie in Richtung der Vergangenheit auftreten.

    Konkret gesprochen:
    In einem chemischen Gleichgewicht einer Flüssigkeit (in der kein Entropizeitpfeil eine zeitliche Richtung vorgibt, weil die Gesamt-Entropie unverändert konstant bleibt) müssen tri-molekulare Stöße zwischen Teilchen mit gleicher Wahrscheinlichkeit in Richtung der Zukunft wie in Richtung der Vergangenheit stattfinden. Die Reaktion A-B + C --> A + B + C muss unter dieser Voraussetzung also genauso oft auftreten wie die zeitlich umgekehrte Reaktion A + B + C --> A-B + C .
    Nun erscheint die letztere Reaktion unter der gewohnten Voraussetzung der Kausalität allerdings viel unwahrscheinlicher, weil man normalerweise Wahrscheinlichkeiten nur in Richtung der Zukunft anwendet. Es erscheint ja unwahrscheinlicher, dass sich 3 Teilchen in einem Punkt zugleich treffen, als dass sich 2 Teilchen zugleich in einem Punkt treffen.
    Gerade diese Annahme darf man allerdings nicht treffen unter der Voraussetzung, dass der Entropiezeitpfeil die alleinige Erklärung für die (gerichtete) Kausalität ist, sprich für die exklusive Anwendung der Wahrscheinlichkeitsgesetze in Richtung der Zukunft (nebenbei bemerkt zeigt dies nach meiner Ansicht einen inneren Widerspruch dieser Hypothese auf, denn die statistischen Gesetze der Thermodynamik auf die Vergangenheit angewendet machen die völlig falsche "Nachhersage" eines Wärmetodes auch in der Vergangenheit - worauf bereits Penrose hingewiesen hat. Der Entropiezeitpfeil setzt also eine gerichtete Kausalität bereits voraus, sprich dass diese Gesetze nur in Richtung der Zukunft angewandt werden können).

    Wie dem auch sei, so lässt sich die Entropiezeitpfeil-Hypothese (eventuell) experimentell überprüfen. Ist sie nämlich wahr, so finden in einer (geeigneten) Flüssigkeit weit mehr Reaktionen der Form A + B + C --> A-B + C statt (nämlich genau so viele Reaktionen wie die umgekehrte: A-B + C --> A + B + C), als eigentlich zu erwarten wären.

    Wenn sich dies messen lässt, so könnte man diese alte Frage auch endlich einmal experimentell entscheiden.


  • Nicht so schnell mit dem Schadenersatz

    24.07.2008, Diane de Reynier, Brunnthal
    Schadenersatz ist angebracht, wenn jemand wissentlich Schaden anrichtet. Wenn man bei Unwissenheit und ohne Absicht auch Schadenersatz verlangt, so bekommt man in den USA Zustände: eine Flut von Prozessen um Millionen Summen und reiche Anwälte, die sämtliche Kosten für Produktion und Entwicklung ins Unermessliche steigern und den Fortschritt stark behindern. Eine sichere Welt, wo alle Gefahren vorhersehbar sind, ist eine Illusion.
    Diane de Reynier
  • Tasttäuschung

    23.07.2008, Helmi Gnauk
    Eine sehr einfache und direkt zum Aha-Erlebnis führende Tasttäuschung ist folgende: Man bittet eine Person, die Augen zu schließen und (z.B.) den rechten Mittelfinger möglichst weit über den rechten Zeigefinger zu legen, so dass zwischen den Fingerspitzen ein Dreieck entsteht. Nun schiebt man einen Bleistift in dem Winkel zwischen den Fingerendgliedern hin und her und fragt die Person, wie viele Stifte sie fühle. Auch der Selbstversuch klappt: Auch hier muss man das Hinsehen vermeiden. Am besten tastet man mit dem Fingerdreieck den eigenen Nasenrücken ab. Man fühlt deutlich zwei Nasenrücken. Verantwortlich dafür ist sicherlich die Verschaltung der entsprechenden Fingernerven im Gehirn, d.h. Nervenimpulse von einander zugekehrten Fingerseiten ergeben "ein Bild", solche von einander abgewandten Fingerseiten dagegen zwei. (Vielleicht, bis das Gehirn umgelernt bzw. umgeschaltet hat?)
  • Landkarten und Heuhaufen

    23.07.2008, Lorenz Friess
    Im o. g. Artikel wird für die Färbung einer Landkarte eine Lösung mit drei Farben gesucht - es sind offensichtlich vier erforderlich.

    Das dort beschrieben "Kollisionsproblem" besitzt eine Lösung vom Schwierigkeitsgrad n*n, also polynomial.

    Man nimmt das erste Element und vergleicht es mit der Liste, ergibt n Schritte, das der Reihe nach für alle Elemente ergibt (n*n)/2 Schritte
    oder irre ich ?
    Stellungnahme der Redaktion

    Dass Scott Aaronson vom Dreifärbungsproblem spricht, ist kein Schreibfehler. Die Frage ist nicht primär, eine Färbung einer gegebenen Landkarte mit drei Farben zu finden, sondern zu entscheiden, ob es im konkreten Fall überhaupt eine solche Dreifärbung gibt. Dieses Problem ist in der Tat NP-vollständig.


    Die Tücke bei diesem Problem liegt darin, dass die weitaus meisten Fälle leicht entscheidbar sind (ein Land mit nur drei Nachbarn verdirbt die ganze Dreifärbbarkeit). Deswegen ist die Einstufung als NP-vollständig von der Erfahrung mit konkreten Fällen des Problems nicht unbedingt nachvollziehbar. Brian Hayes hat das in seinem Artikel "On the Threshold" (American Scientist Jan./Feb. 2003, in aller Ausführlichkeit erläutert.


    Beim Kollisionsproblem ist allerdings durch Kürzung des Urtexts (bereits im amerikanischen Original) ein Fehler entstanden. Es geht darum, eine so genannte Hash-Funktion zu finden; das ist eine Funktion, die aus einem langen Input (zum Beispiel einer ganzen Datei) eine kurze Bitfolge (zum Beispiel die Adresse eines Speicherplatzes für diese Datei) berechnet, und zwar so, dass der so errechnete Speicherplatz für die nächste eintreffende Datei möglichst nicht schon belegt ist. Denn dieser Fall (die "Kollision") erfordert zusätzlichen Aufwand. Ein "natürliches" Maß für die Problemgröße ist die Adresslänge und nicht die Größe des Heuhaufens, die für eine Adresslänge von n Bit gleich 2n ist. Scott Aaronson hat bewiesen, dass auch ein Quantencomputer das Kollisionsproblem nicht in polynomialer Zeit (Polynom in n) erledigen kann. In der Heuhaufengröße N ausgedrückt, hat er gezeigt, dass man mit einem Quantencomputer den Aufwand bis auf die Größenordnung N1/5 drücken kann (verglichen mit N2 für die erschöpfende Suche und N log N für Suchen mit Vorsortieren), nicht aber auf ein Polynom in log N. Einzelheiten finden sich in seiner Dissertation .


    Christoph Pöppe, Redaktion Spektrum der Wissenschaft

  • Was ist analoge Fotografie?

    20.07.2008, H.W. Krüger, Buchholz i.d.N
    Es scheint sich allgemein durchzusetzen von analoger Fotografie zu sprechen als Pendant zur digitalen Fotografie, wenn in Wirklichkeit die klassische Fotografie gemeint ist.
    Auch in dem Beitrag über digitales Röntgen geschieht dieses. Ich bin jedoch der Meinung, dass hierbei ein falscher Gegensatz konstruiert wird und die Bezeichnung analoge Fotografie bzw. analoge Röntgentechnik in diesem Zusammenhang schlicht falsch ist. Auch bei der digitalen Fotografie entsteht im Bildsensor zunächst ein analoges Abbild der Helligkeitsverteilung in Form unterschiedlicher elektrischer Ladungen entsprechend der jeweiligen Helligkeit der einzelnen Bildpunkte. Erst beim Auslesen der Bildinformation wird das der Helligkeit entsprechende Signal des Bildsensors durch einen elektronischen Analog-Digitalwandler digitalisiert und in digitaler Form weiterverarbeitet und gespeichert. Es ist durchaus möglich, auf den Analog-Digitalwandler zu verzichten und das elektrische Bildsignal in analoger Form zu speichern. Dieses geschieht z.B. beim VHS- Videosystem (und auch bei anderen älteren Videoaufnahmeverfahren).
    Was als digitale Fotografie bezeichnet wird ist demnach die Fotografie mit elektronischem Bildsensor und digitaler Bildspeicherung. Das Pendant, die analoge Fotografie, wäre dann die Fotografie mit elektronischem Bildsensor und analoger Bildspeicherung.
    Die klassische Fotografie dagegen hat mit all dem gar nichts zu tun. Hier ist der Bildsensor gleichzeitig auch der Bildspeicher und arbeitet nach chemischen Verfahren. Man könnte die klassische Fotografie somit als chemische Fotografie bezeichnen, als Pendant zur elektronischen Fotografie. Bei Letzterer müsste man dann noch unterscheiden zwischen solcher mit digitaler oder analoger Bildverarbeitung und Speicherung.
  • Schadenersatz

    18.07.2008, J. J. J. R. Moehs
    Ist es zweifelsfrei von wirklich unabhängigen Laboratorien nachzuweisen, dass die Vergiftungen der Bienen durch die Benutzung der Pestizide erfolgt ist, so ist es nur recht, wenn die Verursacher für den entstandenen Schaden in vollem Umfange gerade stehen müssen. Wenn ein Fahrer eines 12-Tonners einem Klempner dessen Kleintransporter zu Schrott fährt, hat jener ebenso für die Heilung des von ihm verursachten Schadens Sorge zu tragen.
    Wie dort, so hier.
    Die Vorsichts- und Rücksichtslosigkeit der Landwirtschafttreibenden und ihrer Lieferanten darf nicht länger hingenommen werden; als hätte ein 9-jähriges Mädchen einen Basketballspieler angerempelt.
    Falls es nicht zu einer vernünftigen Lösung kommt, sollte man schnellstens Boykott-Listen mit den beteiligten Unternehmen erstellen und die Lebensmittelendverbraucher zur Abstinenz von Waren, in denen Erzeugnisse der Schuldigen Verwendung finden, aufrufen, und dies bis zu dem Grade, bei dem die Schäden der Imker durch die der Verursacher aufgewogen werden.
  • Totentänze statt Calaveras

    18.07.2008, Dr. Philipp Maurer, Wien
    Sie illustrieren den Artikel mit einer Druckgraphik von Posada. Posada war allerdings kein Maler, sondern Graphiker und Illustrator. Als politisch engagierter Gebrauchsgraphiker war er Mentor der visuellen Kultur und Wegbereiter der modernen Graphik Mexikos. Mit der Zuweisung von Adjektiven wie morbid (lat. morbus = Krankheit) zu Erscheinungen einer fremden Kultur sollte man vorsichtig sein: die „Calaveras“ sind wichtiger Teil der mexikanischen Alltagskultur als ein Miteinander von Toten und Lebenden, das den Tod als endgültiges Ausscheiden aus dem Lebenszusammenhang negiert. Inhaltlich besser zu dem Artikel gepasst hätte ein Totentanz, wie er in Europa im 15. und zu Anfang des 16. Jahrhunderts weit verbreitet ist. Dessen Aussage „Alle Menschen, welchen Standes auch immer, müssen sterben“ ist wissenschaftsgeschichtlich relevant, da es sich um die erste bildliche Fassung des zu Ende des Mittelalters erstmals und neu erkannten NATURGESETZES handelt, dass der Tod kein Einzelschicksal, sondern eben Gesetz ist.
  • Würde und Wahn im Labor

    16.07.2008, Dr. Sylvia Bendel Larcher, Luzern
    Wie alle anderen Befürworter - sinnigerweise auch Gegner - der Stammzellenforschung blendet auch Urban Wiesing die Tatsache aus, dass noch kein Lebewesen der Petrischale eines Forschers entsprungen ist, wohl aber dem Schoß einer Frau bzw. eines Muttertieres. Solange eine befruchtete Eizelle sich nicht in einer Gebärmutter eingenistet hat, kann von einem Lebewesen nicht die Rede sein. Das gilt auch für natürlich befruchtete, abgegangene Eizellen. Gentechniker hantieren mit Zellhaufen, nicht mit Lebewesen. Entsprechend ist auch die Diskussion um deren Würde und Schutzbedürftigkeit hinfällig. Hingegen wäre es an der Zeit, über die Würde und Schutzbedürftigkeit jener Frauen und Muttertiere zu sprechen, die irgendwelche gentechnisch hergestellten Kunstwesen austragen und gebären sollen. Dass die Frau als Gebärerin aus der Diskussion um Stammzellenforschung und Gentechnik allgemein systematisch ausgeblendet wird, ist nur ein weiteres Kapitel in der seit Pygmalion bezeugten Geschichte vom Wunsch und Wahn des Mannes, Leben allein erschaffen zu können.
  • CO2-Einlagerung

    16.07.2008, J. Götz
    Mit Blickwinkel auf den Wirkungsgradverlust von ca. 10 % ist die CCS-Technologie nicht gerade zu empfehlen. Zu berücksichtigen sind zudem Aufwendungen für den Transport. Nicht zu vergessen ist der nicht erbrachte Sicherheitsnachweis für die langfristig sichere Rückhaltung, CO2 ist ein giftiges Gas. Norwegen hat auch aus diesem Grund Versuche zur Einlagerung in der Nordsee abgebrochen. Die immer wieder vorgebrachte Behauptung, radioaktive Abfälle könnten nicht sicher in tiefen geologischen Formationen endgelagert werden, wird durch die CO2-Einlagerung konterkariert: CO2 ist als Gas viel leichter flüchtig als die überwiegend festen radioaktiven Abfälle. Insofern ist es mehr als gerechtfertigt, die Vorbehalte gegen die Kernenergie als (nahezu) CO2-freie Energieerzeugung aufzugeben und somit einen wirklichen und bezahlbaren Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.
  • Fenster zur Wissenschaft

    15.07.2008, Johannes Kribbel, München
    Liebes Spektrum-Team,

    nach zwei oder drei Ausgaben, die ich vor langer Zeit mal in einem Bahnhofskiosk erstanden habe, beschloss ich spontan, diese Zeitschrift zu abonnieren. Damals war ich ungefähr 17 Jahre alt und kratzte dafür mein eher spärliches Taschengeld zusammen.

    Heute bin ich Mitte vierzig und dazwischen war ein abgeschlossenes Studium der Astronomie und die anschließende Erkenntnis, nicht wirklich davon leben zu können. Als Konsequenz bin ich so wie viele meiner Kollegen in die EDV "abgerutscht".

    Eure Zeitschrift aber ist für mich persönlich nach wie vor ein Fenster zur Wissenschaft und eine Verbindung zu den Idealen und Interessen meiner Jugend und dafür bin ich Euch jeden Monat dankbar...

    Viele Grüße
    Johannes Kribbel
  • Sonnenvitamin und Demenz?

    14.07.2008, Thomas Staudt, Aschaffenburg
    Gibt es durch Vitamin D nicht auch schädigende Nebenwirkungen? Wie ordnen sich Ergebnisse von Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen Vitamin D und Demenz nachweisen, ein?
    Stellungnahme der Redaktion

    Bei starker Überdosierung kann Vitamin D tatsächlich schädliche Wirkungen haben. Wird es über längere Zeit in deutlich zu hohen Mengen eingenommen, lagert sich unter anderem Kalzium in Weichgewebe ein, darunter auch in Blutgefäße. Diese werden dadurch inelastisch, spröde und brüchig und verengen sich. So kann es im Gehirn zu Verletzungen kommen, die im Extremfall auch zu geistigen Beeinträchtigungen führen. In einer Untersuchung haben US-Forscher in Gehirnen von Menschen, die sich sehr viel Vitamin D zuführten, überdurchschnittlich viele solche Verletzungen gefunden.

  • Anstieg der Lebenserwartung

    14.07.2008, Jörg Michael, Hannover
    Um das Jahr 1800 herum betrug die Lebenserwartung in Deutschland ungefähr 31-32 Jahre. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war sie dann auf ca. 40 Jahre angestiegen.


    Es ist daher zwar korrekt, aber trotzdem irreführend, von einer "Verdreifachung der Lebenserwartung innerhalb von 50 Generationen" zu sprechen, denn der eigentliche Anstieg der Lebenserwartung fand erst innerhalb der letzten hundert Jahre statt, was drei Generationen entspricht.
  • Kommentar zum Leserbrief von Reiner Vogels, 9.7.

    12.07.2008, Herbert Huber, Wasserburg am Inn
    Herr Vogels meinte am 2. Juli 2008: "Es ist wissenschaftlich und rational überhaupt nicht begründbar, dass das 'friedliche Zusammenleben der Menschen' ein Wert ist. Warum sollte das ein Wert sein?"
    Die Feststellung unterstützte ich. Werte lassen sich nicht (natur)wissenschaftlich begründen. Ich antwortete auf die (wohl rhetorisch gemeinte) Frage am 5. Juli: Es ist kein Wert, außer wir erklären ihn dazu. Ich ergänze: Werte per se gibt es nicht; mir wurde noch keiner gezeigt und voraussetzungslos begründet. Es kommt bei den Versuchen dazu meist zum Sein-Sollen-Fehlschluss oder dogmatischer Setzung.

    Herr Vogels meinte nun, dass dieses Verfahren (gemeinsame Diskussion, Einigung und Erklärung) keine adäquate Vorgehensweise zur Begründung von Normen und Werten sei. Dem widerspreche ich. Warum dies zudem ein "offensichtlicher Irrtum" sein sollte, entgeht mir.
    Herr Vogels versucht die Grundlegung per Übereinkunft mit einer dreifachen Reihung zu desavouieren: "Es ist Voluntarismus bzw. Dezisionismus, mit einem deutschen Wort: Es ist reine Willkür." Wenn man diese drei Begriffe wertneutral liest, stimme ich dem völlig zu.

    Fast das gesamte soziale und politische Leben beruht darauf, dass sich Menschen verbal, vernünftig und argumentativ auseinandersetzen und dann (hoffentlich) zur Übereinkunft kommen und z.B. einen privaten Vertrag abschliessen oder gemeinsam ausdiskutieren (wenn auch oft über repräsentative Institutionen) Gesetze erlassen oder Staatsverträge abschliessen. Wenn ich mich mit jemand über den Wert seines zum Verkauf stehenden Hauses einige und den Verkauf perfekt mache, so kann man seinen Preis und meine Zustimmung dazu als "reine Willkür" betrachten. Es ist aber soweit ich sehe der einzig vernünftige Weg. Jemand aus Kairo oder Teheran, der uns den Preis vorschreibt ist dabei völlig fehl am Platz.
    Einen Irrtum erkenne ich bei diesem Vorgehen nicht, zumal es in vielen Gemeinschaften (Familie, Verein, Verbände, Staaten, usw.) funktioniert. Alle so verwalteten demokratischen Staaten haben Werte vereinbart. In Deutschland haben wir das Grundgesetz mit zahlreichen Werten und entsprechende ergänzende Länderverfassungen, Vereinbarungen über Werte auf kommunaler Ebene usw. Ich wiederhole: es funktioniert. Das heißt nicht, dass es nicht verbesserungsfähig sei.

    Als zweites Argument erkenne ich: "Die menschliche Geschichte kennt eine Fülle von Beispielen, in denen Mehrheiten Dinge als gut befunden haben, die nach
    unserem heutigen Urteil nur als abscheulich bezeichnet werden können." Richtig. Und was ist daran jetzt falsch?
    Um zuerst ein eher harmloses Beispiel zu bringen: Beethoven schrieb "Wellingtons Sieg", ich finde jeden Krieg abscheulich. Soll ich deshalb a posteriori Beethovens zeitbedingte mehrheitliche (?) Wertehaltung verurteilen? Oder gar verabsolutieren?
    Früher war es ein schützenswerter Wert unverheiratete Paare nicht unbeaufsichtigt in ein Zimmer mit Sofa zu lassen. Wer es zuließ, machte sich strafbar. Vor etwa vierzig Jahren sah man das nicht mehr als so wichtig an. Es ist kein schützenswerter Wert mehr und wurde straffrei gesetzt.
    Heute sehen immer noch manche Homosexualität oder Geschlechtsverkehr mit Kondomen als Untugend an (und zwingen diese ihre Wertvorstellung Milliarden Menschen auf), morgen wird man diese Einstufung nahe dem Ende der Werteskala hoffentlich als abscheulich bezeichnen.
    Es wird immer so sein, dass Werte der einen Generation in einer späteren nicht mehr oder nicht mehr so stark gelten. Das ist die Folge eines fruchtbaren Diskurses und meins Erachtens völlig in Ordnung.

    Als Drittes führt Herr Vogels an, dass es viele Gemeinschaften gibt, wo es nicht so gemacht wird und dort funktioniert es mit den Werten auch nicht.
    Dass es Gemeinschaften gibt, die die vorgeschlagene Grundlegung missachten, spricht nicht gegen das Verfahren. Im Gegenteil. Wenn Herr Vogels zu Recht darauf hinweist, dass Gemeinschaften, deren Werte von wenigen diktiert werden oder in denen „gut organisierte Minderheiten“ der „Mehrheit erbarmungslos ihren Willen“ aufzwingen, Werte hochhalten, die wir nicht als solche ansehen, dann verstärkt das gerade meine Forderung: die Leute sollten sich besser gemeinsam auf Werte einigen.
    Dieses dritte Argument appelliert eher an die Mitglieder von Gemeinschaften, die sich von einem antiken Buch, einem Oberhaupt oder mehreren die Werte vorschreiben lassen (müssen), solange es geht dort schleunigst auszutreten und die Werte im freien Diskurs gemeinschaftlich zu ergründen und proklamieren. Man muss ja dazu nicht im leeren Raum beginnen.

    Als Viertes führt Herr Vogels an, dass "Potentaten dieser Systeme" jeglicher Argumentation abhold sind und meine Vorgehensweise mit "Spott und Hohn" beantworten würden. Fürwahr. Manche Potentaten weichen von ihrer Werteordung um kein Jota ab, egal wie viel Kriegs-, AIDS- und andere Tote es gibt. Ich behaupte, diese Potentaten lassen sich aber auch nicht anders umstimmen.


    Wenn wir Menschen – wie ich vorschlage – beispielsweise Menschenwürde als hohen Wert erklären (und da wir uns einig sind, jeder motiviert ist, dies zu beherzigen) und an den Anfang unserer Werteordnung schreiben, dann ist das kaum zu verbessern. Selbst wenn jemand mit einem anderen Verfahren oder Begründungsketten nachweisen würde, Menschenwürde sei schon ein Wert vor hundertausend Jahren und unabhängig unserer Übereinkunft gewesen, würde das kaum etwas ändern. Nachdem dies noch keinem gelang, bin ich da skeptisch.


    Vielleicht kam ein Missverständnis dadurch zustande, dass ich in der ersten Replik nicht gleich ein detailliertes Verfahren für eine Wertediskussion angab. Von einem "Willkürurteil der Mehrheit" halte ich nichts. Ich empfehle als Lektüre mal etwas zur Diskursethik von Jürgen Habermas oder John Rawls: A Theory of Justice, deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss, aber als Diskussionsausgang hervorragend geeignet.

    Eine Anmerkung zur "Bringschuld des atheistischen Humanismus"
    Ich meine die Begründung unserer Werte und Normen ist unser aller Sache, nicht nur der Atheisten oder der Humanisten. Herr Vogels lehnt das Diktat weniger und die Willkür der Mehrheit ab. Volle Zustimmung.
    Noch inakzeptabler ist die Berufung auf Dogmen (ich bevorzuge dieses neutralere Wort gegenüber "Diktat") von (vermeintlich) transzendenten Mächten. Auch der naturalistische Sein-Sollen-Fehlschluss ist inakzeptabel. Wie ich schon ausführte, ist es für mich nicht einsehbar, warum z.B. das Artensterben, nur weil es natürlich ist, ein erstrebenswerter Wert sein soll.

    Ein Letztes:
    Wir Diskutanten hier machen auf der Metaebene genau das, was ich für die Begründung direkt vorschlage. Wir diskutieren und versuchen das Beste zu finden bezüglich Vorgehensweise zur Begründung von Normen/Werten.
    Was bleibt? Ganz klar: man lese mein Vorheriges und dieses Posting. Die Bringschuld habe ich (wobei ich nicht die Urheberschaft beanspruche; das taten Weisere vor mir) als atheistischer Humanist für alle (!) erbracht.
  • Anpassung an veränderliche Umweltbedingungen

    11.07.2008, Dr. Franz Peter Schmitz, Lüneburg
    Gibt es nicht eine recht einfache Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Todes: Damit sich Leben an veränderliche Umweltbedingungen anpassen kann, muss neues Leben entstehen, wobei das neue Leben ungefähr gleich wie das alte ist, aber nicht ganz exakt. Und: es müssen ständig neue Lebewesen entstehen. Um aber zu verhindern, dass die vorhandenen Ressourcen völlig aufgebraucht werden, muss das alte Leben verschwinden. Kurz gesagt: Evolution benötigt Geburt und Tod.


    Zum Vergleich mit Automobilen: weichen nicht die meisten alten Autos den neuen, „besseren“, interessanteren Modellen, noch ehe sie eigentlich zum Schrottplatz müssten? Auf Kuba, wo es keine Nachproduktion gibt, „überleben“ Vehikel wesentlich länger als bei uns.


  • Strafen nach Prinzipien der Wiedergutmachung

    11.07.2008, Dr. Franz Peter Schmitz, Lüneburg
    Es ist faszinierend, welch logische und praktische Ergebnisse eine Kombination von Geistes- und Naturwissenschaften doch hervorbringt! Ich kann Herrn Kanitscheider nur zustimmen, dass diese Kombination nicht genügend oft praktiziert wird. Zwar mag es zutreffen, dass Naturwissenschaftler sich eher mit Philosophie beschäftigen als dass Geisteswissenschaftler sich naturwissenschaftliche Kenntnisse aneignen, doch geschieht dies nicht häufig aus dem Antrieb, „gelehrt“ zu erscheinen (man hat auch Plato, Kant und Hegel gelesen!)? Sich über Philosophisches wirklich ernsthaft Gedanken zu machen, bleibt dann doch oft in den Anfängen stecken.

    Elektrisiert haben mich die Schlussabsätze des Gesprächs. Ich kann Herrn Kanitscheider nur zustimmen: Moralische und theologische Vorwürfe sind gegenüber Straftätern nicht zielführend, zu sehr sind Menschen von ihrem inneren Zustand (z.B. genetische Veranlagung und hormonelle Beeinflussung) abhängig; Strafen sollten daher weniger vom Schuld-und-Sühne-Prinzip getragen werden sondern vielmehr von den Prinzipien der Wiedergutmachung und des Schutzes der Gesellschaft vor Straftätern. Ich bin als Naturwissenschaftler, der sich mit geisteswissenschaftlichen Themen beschäftigt, zu eben dieser gleichen Schlussfolgerung gelangt.
Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.