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  • Fortschritt ist messbar

    11.04.2007, Ihr Name, Wohnort
    Meiner Meinung nach gibt es sehr wohl eine objektive Masszahl für Fortschritt, nämlich die Anzahl der Freiheitsgrade jedes einzelnen von uns. Jeder Mensch und jede Gruppe von Menschen ist bestrebt, die Anzahl seiner Freiheitsgrade zu erhöhen, wobei ein Freiheitsgrad eine Auswahlmöglichkeit vor einer Entscheidung darstellt. Freiheitsgrade kann ein Beobachter im Prinzip objektiv messen und sind daher keine Illusion, die vom menschlichen Gehirn erzeugt werden.

    Als Beispiel kann man praktische jeden Aspekt menschlichen Strebens und Schaffens nennen: Nahrungssuche, Partnerwahl, Medizin, Telekommunikation, Internet, globale Weltwirtschaft. Wir können heute aus einer für Menschen vergangener Epochen unvorstellbaren Vielzahl von Nahrungsmitteln auswählen und benötigen zur Zubereitung der täglichen Nahrung viel weniger Zeit als noch vor 100 Jahren. Je weniger Zeit wir mit Nahrungssuche verbringen, desto mehr bleibt für andere Wahlmöglichkeiten.

    Dank Wort, Schrift und Internet können wir heute im Gegensatz zu früher mit sehr vielen Menschen in Kontakt treten und von deren Erfahrungen profitieren. Damit können wir Aufgaben effizienter, d.h. in kürzerer Zeit erledigen wobei wir wiederum unsere Freiheitsgrade optimieren. Auf der Suche nach einem Lebenspartner können wir mit Hilfe von allen möglichen sozialen Events, Anzeigen, Chatrooms, mit tausenden von Menschen in Kontakt treten und damit die Aussicht auf ein glückliches, erfülltes Leben entscheidend verbessern. Dank der modernen Medizin leben wir wesentlich länger, können das Leben mehr geniessen als früher. Das bedeutet auch, dass wir unsere Möglichkeiten besser realisieren bzw. ausleben können.

    Was wir als Geniessen, Lebensqualität, Freizeit usw. bezeichnen hängt direkt mit persönlichen Freiheitsgraden zusammen. Man könnte auch die Anzahl Spielzeuge unserer Kinder, die Anzahl chemischer Substanzen der Umwelt oder die Menge an gespeicherter Information nehmen, um Freiheitsgrade zu quantifizieren.

    Die subjektive Erfahrung des Fortschritts im Sinn des Anwachsens persönlicher Freiheitsgrade ist relativ. Menschen nehmen nicht ihren Zustand sondern ihre Veränderung wahr. Dabei vergleichen wir uns nicht mit Steinzeitmenschen sondern mit unseren Mitmenschen und den Möglichkeiten, die sich uns in einem Zeitraum von maximal ein paar Jahren oder Jahrzehnten bieten, z.B. bei einem Jobwechsel oder einer Partnerwahl.

    Die Menschen heute nicht wirklich glücklicher als früher, weil sich die Aussichten der Möglichkeiten nicht grundlegend geändert haben. Trotzdem will niemand freiwillig in der Steinzeit oder im Mittelalter leben, weil dies die Anzahl unserer Freiheitsgarde dramatisch beschränkt. Die Angst vor den Konsequenzen des gegenwärtigen Raubbaus der fossilen Energieträger ist primär die Angst vor der Einbusse von Freiheitsgraden, indem wir z.B. nicht mehr Auto fahren können, weil das Benzin zu teuer ist. Die Angst vor Krieg, Tod, Massenvernichtungsmittel kann ebenfalls auf den dadurch zu erwartenden massiven Verlust an Freiheitsgraden zurückgeführt werden. Auch die Vorschläge zur Eindämmung des Klimawandels zielen letztlich auf die Maximierung der Freiheitsgrade jedes einzelnen. Sie sollen auch unseren Kindern ein würdevolles und glückliches Dasein ermöglichen, so wie es auch Bill Gates formulierte.

    Fortschritts im Sinn des Anwachsens persönlicher Freiheitsgrade hat nichts mit Evolution zu tun – allenfalls mit der Entwicklung des Gehirns und den damit verbundenen Konsequenzen. Evolution wirkt über viel längere Zeiträume als Fortschritt. Mit der Vorstellung, dass die Evolution aller Spezies kein messbares Ziel hat und der erwiesene Tatsache, dass der Mensch keineswegs komplexer ist als andere Spezies gehe ich mit dem Autor durchaus einig. Dass die Welt komplexer wird ist die Konsequenz unseres Bestrebens, mehr Auswahlmöglichkeiten zu schaffen. Warum das so ist und ob es sich dabei um eine Eigenschaft unseres Gehirns handelt, ist eine andere ganz andere und sehr interessante Frage. Immerhin existieren Völker, die noch heute wie Steinzeitjäger leben. Aber selbst diese verwenden Waffen, Feuer und alle möglichen Tricks, um sich das Leben zu vereinfachen d.h. sich mehr Freiheitgrade zu schaffen.

    Dr. Marc Eberhard
    Biochemiker
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