Tagebuch: 100 Jahre Raumzeit
Im Jahre 1908 hielt der 44-jährige Hermann Minkowski eine unvergessliche Ansprache vor der Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte. In dieser legte er, nur wenige Monate vor seinem überraschenden Tod am 12. Januar 1909, den vielleicht entscheidenden Grundstein für seinen Ruhm. Die Rede trug den Titel "Raum und Zeit" und stellte das Konzept der vierdimensionalen Raumzeit vor, das wenig später in Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie seine machtvolle Wirkung entfalten sollte.
Schon als Schüler hatte der 16-jährige Hermann auf sich aufmerksam gemacht, als er an einem Preisausschreiben der Pariser Akademie teilnahm und mit einem Beweis einer Formel für die Anzahl der Darstellungen einer ganzen Zahl durch fünf Quadrate den Wettbewerb gewann. Die Zahlentheorie, ein Spezialgebiet der reinen Mathematik, sollte ihn sein ganzes Leben begleiten.
1902 nimmt Minkowski einen Ruf auf einen Lehrstuhl in Göttingen an. Hier beginnt er, sich auch für physikalische Probleme zu interessieren. Er vertieft sich in die mathematische Struktur der speziellen Relativitätstheorie, die von Anton Lorentz und Albert Einstein unter verschiedenen Betrachtungsweisen vorgelegt worden ist, und macht eine aufregende Entdeckung: Raum und Zeit, die uns im Alltag so unterschiedlich erscheinen und die in der klassischen Physik seit Newton als getrennte absolute Größen behandelt werden, lassen sich als zwei miteinander gekoppelte Teile eines Raumzeitkontinuums verstehen. Minkowski wird diese mathematische Konstruktion "die Welt" nennen.
Innerhalb kurzer Zeit publiziert er verschiedene Abhandlungen über eine vierdimensionale Elektrodynamik, in der sein Raumzeitkonzept zur Anwendung gelangt. Doch erst nach seinem Vortrag 1908 wird das Konzept in der Physikerszene bekannt. Albert Einstein, der den Ideen des Göttinger Mathematikers zuerst ablehnend gegenüber steht, erkennt mit der Zeit deren Eleganz und Einfachheit und wird sie später zur Grundlage seiner Theorie machen.
Im seitdem so genannten "Minkowski-Raum" kommt zu den drei euklidischen Raumdimensionen eine vierte Koordinate für die Zeit hinzu. Ein Ereignis in unserer Welt wird so zu einem Punkt und ein dynamisches Geschehen zu einer Linie. Ein Beobachter findet sich in dieser Darstellung stets am Berührungspunkt zweier Kegelspitzen wieder, wobei ein Kegel seine Zukunft und einer seine Vergangenheit darstellt. Begrenzt werden die Kegel von Lichtstrahlen, die den kausal beeinflussbaren Raum von jenem trennen, mit dem der Beobachter durch kein Signal in Kontakt treten kann. Ein solches "Minkowski-Diagramm" erlaubt unter anderem nützliche Visualisierungen komplexer Phänomene in der Speziellen Relativitätstheorie, wie beispielsweise des Zwillingsparadoxons.
In der allgemeinen Relativitätstheorie wird der Minkowski-Raum zu einem mächtigen Werkzeug, da jeder noch so stark von Gravitationsfeldern gekrümmte Raum sich lokal wie ein "flacher" Minkowski-Raum verhält. Dies ermöglicht bis heute physikalische Berechnungen, die sonst an ihrer Komplexität scheitern müssten.
Am 12. Januar 1909 erlitt Hermann Minkowski einen Blinddarmdurchbruch, der zu jener Zeit noch nicht operierbar war und an dem er kurz darauf verstarb. David Hilbert, Zeitgenosse Minkowkis und einer der größten Mathematiker seiner Zeit, der neben anderem das mathematische Fundament zur Quantenmechanik legen sollte, hatte eine enge Freundschaft mit Minkowski verbunden. In seinem Nachruf schreibt er 1910:
"Seit meiner Studienzeit war mir Minkowski der beste und zuverlässigste Freund, der an mir hing mit der ganzen ihm eigenen Tiefe und Treue. Unsere Wissenschaft, die uns das liebste war, hatte uns zusammengeführt; sie erschien uns wie ein blühender Garten. ... Gern suchten wir dort auch verborgene Pfade auf und entdeckten manche neue, uns schön dünkende Aussicht, und wenn der eine dem andern sie zeigte und wir sie gemeinsam bewunderten, war unsere Freude vollkommen. ... Er war mir ein Geschenk des Himmels, wie es nur selten jemand zuteil wird, und ich muss dankbar sein, dass ich es so lange besaß. ... Jäh hat ihn der Tod von unserer Seite gerissen. Was uns aber der Tod nicht nehmen kann, das ist sein edles Bild in unserem Herzen und das Bewusstsein, dass sein Geist in uns fortwirkt."
Vera Spillner
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