Tagebuch: "Aber wir werden das nicht mehr erleben"
"Die wichtigsten Krebsarten sind heute noch genauso tödlich wie vor 50 Jahren", fasst der US-Virologe David Baltimore die Ergebnisse eines Forschungszweigs zusammen, in dem er selbst bis heute aktiv ist. Vor 35 Jahren erhielt er mit Renato Dulbecco und Howard M. Temin den Nobelpreis in Medizin und Physiologie für seine "Entdeckungen auf dem Gebiet der Wechselwirkungen zwischen Tumorviren und dem genetischen Material der Zelle".
Im Rahmen des Heidelberger Forums berichtete der 72-jährige Nobelpreisträger, der weiterhin in seinem Labor am California Institute of Technology in Pasadena mit Retroviren arbeitet und an Regulationsmechanismen des Zellzyklus forscht, über Probleme und Chancen im Kampf gegen den Krebs. "Wir verstehen Krebs heute so viel besser als damals im Jahr 1970 – die Patienten profitieren davon jedoch nur wenig." In den USA sei die Zahl der Menschen, die jährlich daran sterben, seit 1950 nur um wenige Prozent gesunken.
Killer mit vielen Gesichtern
Die Probleme im Kampf gegen bösartige Zellveränderungen sind vielfältig. "Die Krankheit Krebs gibt es nicht: Krebs: das sind hunderte Krankheiten", sagt Baltimore. Bösartige Tumoren können infolge von Umwelteinflüssen, Infektionen oder genetischer Disposition entstehen, zudem sind verschiedenste Zelltypen im Stande, Wucherungen zu bilden. Außerdem lässt sich der Krebs nur schwer fassen: Eine einzige Mutation genügt, um ein Krankheitsbild völlig zu verändern.
Heute gilt als gesichert, dass der Ursprung jedes bösartigen Tumors in unseren Genen verankert ist. "Die Zweifler an der Gen-Theorie sterben langsam aus", schmunzelt der Virologe. So genannte Onkogene kennt man seit 40 Jahren: Ursprünglich normale Gene, die am Zellkreislauf beteiligt sind, verändern sich durch eine Mutation so, dass sie das ungebremste Tumorwachstum fördern. Über 100 dieser potentiell gefährlichen DNA-Sequenzen haben Krebsforscher bislang identifiziert, was die Frage aufwirft, warum Krebs angesichts so vieler Onkogene und möglicher Mutationen nicht weit häufiger vorkommt.
Die Antwort liegt wiederum in der DNA. So genannte Tumor-Suppressor-Gene schützen uns, indem sie den Zellzyklus kontrollieren und im Fall ungewöhnlich hoher Teilungsraten den Zelltod einleiten. Erst wenn auch sie infolge von Mutationen nicht länger normal funktionieren und gleichzeitig das entsprechende Onkogen aktiv ist, entfalten manche Krebsarten ihre tödliche Wirkung. Bösartige Wucherungen gezielt zu bekämpfen oder zu verhindern, ist daher ein komplexes Unterfangen.
Eine einfache Geschichte
Als David Baltimore die chronische myeolitische Leukämie untersuchte – den weltweit zweithäufigsten chronischen Blutkrebs –, fand er heraus, dass ein einziges verändertes Enzym, BCR-Abl, diesen Krebs auslöst und fortbestehen lässt. Für BCR-Abl scheinen wir keine Schutzgene zu besitzen. Der Wirkstoff Imatinib jedoch, der hierzulande unter dem Namen Glivec auf dem Markt ist, kann es außer Gefecht setzen. Zwar behindert die Substanz auch die "normale" Form des Enzyms; gesunde Zellen verfügen jedoch über alternative Signalwege, durch die sie den Verlust kompensieren können. Krebszellen sind dagegen auf BCR-Abl angewiesen und sterben ab.
In diesem Fall ist das therapeutische Rezept also einfach: Ein einziges Enzym, das durch Medikamente dauerhaft unterdrückt wird, hilft den Patienten mit der Leukämie zu leben. Als Modell für komplexere Krebsarten taugt diese Methode jedoch nicht. Zudem entwickeln sich heute – knapp zehn Jahre nach Einführung des Medikaments – die ersten Resistenzen.
Derzeit sind in der Krebstherapie vor allem unspezifische "Zell-Killer" mit vielen Nebenwirkungen verbreitet. Ideal ist das nicht: "Jeder Krebs sollte individuell behandelt werden", sagt Baltimore. Auch das Humangenomprojekt sei ursprünglich unter anderem mit dem Ziel gestartet worden, Onkogene zu identifizieren. Doch die Suche gestaltet sich noch immer schwierig, denn schätzungsweise sind an jeder Krebsart zehn bis hundert Gene beteiligt.
Zwar lassen sich auch die biochemischen Wege, auf denen die Gene letztlich ihre Wirkung entfalten, durch Medikamente gezielt beeinflussen und gegebenenfalls regulieren. Doch das bedeutet: Forscher müssten viele individuelle Therapien entwickeln, was wiederum meist an den Kosten scheitert. Rein wirtschaftlich gesehen sind unspezifische Breitbandtherapien, die nicht nur wenigen Patienten zugute kommen, attraktiver.
Baltimore sieht darum die Politik in der Verantwortung: "Weltweit kenne ich keine Regierung, die sich ernsthaft darum bemüht, die Entwicklung neuer Medikamente voranzubringen." Priorität sei statt dessen, die Kosten zu senken. Eine Chance sieht der US-Wissenschaftler in Kooperationen zwischen Staaten und der Pharmaindustrie. Diese seien zwar nicht der Königsweg, böten aber doch die Chance, dass mehr Geld für die Erforschung spezifisch wirkender Therapien bereit gestellt wird. In seiner Heimat gebe es schließlich ein gutes Beispiel für die produktive Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft: "Bei der Waffenindustrie funktioniert das doch auch."
Heilmittel im Körper selbst?
Doch der Virologe sieht auch weitere Chancen, denn das perfekte "Medikament" gegen Krebs könnten wir bereits in uns tragen. Erste Teilerfolge gibt es bereits zu vermelden. Sind die T-Lymphozyten des Immunsystems aktiv, können sie Erreger, aber auch krankhafte Körperzellen, erkennen und ausschalten. Ein Protein namens CTLA4 deaktiviert sie jedoch, wenn sie der Körper gerade nicht akut benötigt. Forscher haben nun herausgefunden, dass bei Krebspatienten entsprechende Antikörper die T-Zellen von dieser Blockade befreien und das Immunsystem quasi "aufwecken" können. Dadurch erkennt es schädliche Wucherungen im eigenen Gewebe besser und kann Tumoren bekämpfen. Bisher funktioniert die Methode jedoch nur bei einem relativ geringen Prozentsatz der Studienteilnehmer.
"Mit einer Kombination aus einer solchen Immuntherapie sowie Medikamenten könnten wir gegen manche Krebsarten eine Chance haben", glaubt Baltimore. Er setzt daher auf weitere Forschung – in der Gentherapie, beim Zusammenstellen eines Krebs-Genom-Atlas, der die vielfältigen Signalwege offen legt, und bei der Entwicklung individueller Therapien. "Es gibt kleine Erfolge", resümiert der Virologe, "aber der Prozess verläuft langsam."
Die große Frage wirft Baltimore am Ende auf: Werden wir jemals den Krebs besiegen können? "Ja!", sagt er entschieden. Und ergänzt mit Blick auf das überwiegend junge Publikum: "Aber wir werden das nicht mehr erleben."
Baltimore hatte 1970 das Enzym reverse Transkriptase entdeckt, das Ribonukleinsäuren (RNA) in Desoxyribonukleinsäuren (DNA) übersetzt. Dieses Enzym, so weiß man heute, wird von so genannten Retroviren genutzt, um Wirtszellen zu infizieren. Mit Hilfe der reversen Transkriptase erzeugen sie die DNA-Variante ihrer eigenen, als RNA vorliegenden, Erbinformation. Diese bauen sie in die DNA der Wirtszelle ein, die ihnen schließlich bei der Vermehrung hilft. Ein besonders gefährlicher Vertreter der Retroviren ist das HI-Virus, über dessen Bekämpfung Baltimore bereits 1998 in "Spektrum der Wissenschaft" schrieb (kostenfreier Download). Außerdem beschäftigte er sich mit den Mechanismen, durch die manche Retroviren das Wachstum bösartiger Krebstumoren auslösen.
Im Rahmen des Heidelberger Forums berichtete der 72-jährige Nobelpreisträger, der weiterhin in seinem Labor am California Institute of Technology in Pasadena mit Retroviren arbeitet und an Regulationsmechanismen des Zellzyklus forscht, über Probleme und Chancen im Kampf gegen den Krebs. "Wir verstehen Krebs heute so viel besser als damals im Jahr 1970 – die Patienten profitieren davon jedoch nur wenig." In den USA sei die Zahl der Menschen, die jährlich daran sterben, seit 1950 nur um wenige Prozent gesunken.
Killer mit vielen Gesichtern
Die Probleme im Kampf gegen bösartige Zellveränderungen sind vielfältig. "Die Krankheit Krebs gibt es nicht: Krebs: das sind hunderte Krankheiten", sagt Baltimore. Bösartige Tumoren können infolge von Umwelteinflüssen, Infektionen oder genetischer Disposition entstehen, zudem sind verschiedenste Zelltypen im Stande, Wucherungen zu bilden. Außerdem lässt sich der Krebs nur schwer fassen: Eine einzige Mutation genügt, um ein Krankheitsbild völlig zu verändern.
Heute gilt als gesichert, dass der Ursprung jedes bösartigen Tumors in unseren Genen verankert ist. "Die Zweifler an der Gen-Theorie sterben langsam aus", schmunzelt der Virologe. So genannte Onkogene kennt man seit 40 Jahren: Ursprünglich normale Gene, die am Zellkreislauf beteiligt sind, verändern sich durch eine Mutation so, dass sie das ungebremste Tumorwachstum fördern. Über 100 dieser potentiell gefährlichen DNA-Sequenzen haben Krebsforscher bislang identifiziert, was die Frage aufwirft, warum Krebs angesichts so vieler Onkogene und möglicher Mutationen nicht weit häufiger vorkommt.
Die Antwort liegt wiederum in der DNA. So genannte Tumor-Suppressor-Gene schützen uns, indem sie den Zellzyklus kontrollieren und im Fall ungewöhnlich hoher Teilungsraten den Zelltod einleiten. Erst wenn auch sie infolge von Mutationen nicht länger normal funktionieren und gleichzeitig das entsprechende Onkogen aktiv ist, entfalten manche Krebsarten ihre tödliche Wirkung. Bösartige Wucherungen gezielt zu bekämpfen oder zu verhindern, ist daher ein komplexes Unterfangen.
Eine einfache Geschichte
Als David Baltimore die chronische myeolitische Leukämie untersuchte – den weltweit zweithäufigsten chronischen Blutkrebs –, fand er heraus, dass ein einziges verändertes Enzym, BCR-Abl, diesen Krebs auslöst und fortbestehen lässt. Für BCR-Abl scheinen wir keine Schutzgene zu besitzen. Der Wirkstoff Imatinib jedoch, der hierzulande unter dem Namen Glivec auf dem Markt ist, kann es außer Gefecht setzen. Zwar behindert die Substanz auch die "normale" Form des Enzyms; gesunde Zellen verfügen jedoch über alternative Signalwege, durch die sie den Verlust kompensieren können. Krebszellen sind dagegen auf BCR-Abl angewiesen und sterben ab.
In diesem Fall ist das therapeutische Rezept also einfach: Ein einziges Enzym, das durch Medikamente dauerhaft unterdrückt wird, hilft den Patienten mit der Leukämie zu leben. Als Modell für komplexere Krebsarten taugt diese Methode jedoch nicht. Zudem entwickeln sich heute – knapp zehn Jahre nach Einführung des Medikaments – die ersten Resistenzen.
Derzeit sind in der Krebstherapie vor allem unspezifische "Zell-Killer" mit vielen Nebenwirkungen verbreitet. Ideal ist das nicht: "Jeder Krebs sollte individuell behandelt werden", sagt Baltimore. Auch das Humangenomprojekt sei ursprünglich unter anderem mit dem Ziel gestartet worden, Onkogene zu identifizieren. Doch die Suche gestaltet sich noch immer schwierig, denn schätzungsweise sind an jeder Krebsart zehn bis hundert Gene beteiligt.
Zwar lassen sich auch die biochemischen Wege, auf denen die Gene letztlich ihre Wirkung entfalten, durch Medikamente gezielt beeinflussen und gegebenenfalls regulieren. Doch das bedeutet: Forscher müssten viele individuelle Therapien entwickeln, was wiederum meist an den Kosten scheitert. Rein wirtschaftlich gesehen sind unspezifische Breitbandtherapien, die nicht nur wenigen Patienten zugute kommen, attraktiver.
Baltimore sieht darum die Politik in der Verantwortung: "Weltweit kenne ich keine Regierung, die sich ernsthaft darum bemüht, die Entwicklung neuer Medikamente voranzubringen." Priorität sei statt dessen, die Kosten zu senken. Eine Chance sieht der US-Wissenschaftler in Kooperationen zwischen Staaten und der Pharmaindustrie. Diese seien zwar nicht der Königsweg, böten aber doch die Chance, dass mehr Geld für die Erforschung spezifisch wirkender Therapien bereit gestellt wird. In seiner Heimat gebe es schließlich ein gutes Beispiel für die produktive Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft: "Bei der Waffenindustrie funktioniert das doch auch."
Heilmittel im Körper selbst?
Doch der Virologe sieht auch weitere Chancen, denn das perfekte "Medikament" gegen Krebs könnten wir bereits in uns tragen. Erste Teilerfolge gibt es bereits zu vermelden. Sind die T-Lymphozyten des Immunsystems aktiv, können sie Erreger, aber auch krankhafte Körperzellen, erkennen und ausschalten. Ein Protein namens CTLA4 deaktiviert sie jedoch, wenn sie der Körper gerade nicht akut benötigt. Forscher haben nun herausgefunden, dass bei Krebspatienten entsprechende Antikörper die T-Zellen von dieser Blockade befreien und das Immunsystem quasi "aufwecken" können. Dadurch erkennt es schädliche Wucherungen im eigenen Gewebe besser und kann Tumoren bekämpfen. Bisher funktioniert die Methode jedoch nur bei einem relativ geringen Prozentsatz der Studienteilnehmer.
"Mit einer Kombination aus einer solchen Immuntherapie sowie Medikamenten könnten wir gegen manche Krebsarten eine Chance haben", glaubt Baltimore. Er setzt daher auf weitere Forschung – in der Gentherapie, beim Zusammenstellen eines Krebs-Genom-Atlas, der die vielfältigen Signalwege offen legt, und bei der Entwicklung individueller Therapien. "Es gibt kleine Erfolge", resümiert der Virologe, "aber der Prozess verläuft langsam."
Die große Frage wirft Baltimore am Ende auf: Werden wir jemals den Krebs besiegen können? "Ja!", sagt er entschieden. Und ergänzt mit Blick auf das überwiegend junge Publikum: "Aber wir werden das nicht mehr erleben."
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